Kann Pazifismus falsch sein?

Vor über 130 Jahren erschien Bertha von Suttners Die Waffen nieder!, eine Art Bibel des Pazifismus. Heute steht die Friedensbewegung unter Druck. Tot ist sie aber noch lange nicht. Es kommt eben darauf an, wie man Pazifismus versteht.

Satirisches Protestplakat gegen den Irak-Krieg in Frankfurt, 2003
Frankfurt, 2003: Pazifismus kann auch satirisch sein. © Getty Images

Die Friedensbewegung hat es heutzutage nicht leicht. Aber gut, das war wohl noch nie anders. Ob Geopolitik und Großmacht-Konfrontationen, Kampf um Ressourcen, Nationalstolz oder Narzissmus einzelner Diktatoren. Wer zu den Waffen schreiten will, wird Gründe finden: „Nachdem Staaten souverän sind und über ihnen keine Autorität existiert, die das Völkerrecht durchsetzt, kann Krieg nicht immer vermieden werden. Das Völkerrecht erkennt diesen Fakt an“, wie der große Völkerrechtler Lassa Oppenheim in seinem Lehrbuch aus dem Jahr 1905 lapidar feststellte.

Daran hat sich bis heute wenig geändert. Der Frieden in Europa währte nach 1945 zwar durchaus lang und Erzrivalen wie Deutschland und Frankreich – „ein echter Deutscher mag keinen Franzen leiden,“ wie Goethe es einen Nebencharakter in seinem „Faust“ sagen lässt – betonen heute bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Einigkeit.

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Aber eben nicht ewig und auch nicht überall: von der türkischen Invasion in Zypern über die Jugoslawienkriege bis hin zu Russlands Angriff: Wer glaubt da noch an ein Ende des Krieges und einen „immerwährenden Frieden“ im Sinne Immanuel Kants?

Pazifismus heute und gestern

Nun, wenn man in die Geschichte schaut, findet man doch so einige. In Österreich sticht da natürlich Bertha von Suttner und ihr großes Werk Die Waffen nieder! ins Auge. Dessen Inhalt an Aktualität nichts eingebüßt zu haben scheint. Wo Krieg, da Friedensbewegung – diverse offene Briefe fordern ein Ende der Waffenlieferungen und stattdessen Verhandlungen.

Was würde von Suttner dazu sagen? Hätte sie mit unterschrieben, eventuell selbst einen Friedensaufruf verfasst? Reine Spekulation, keine Frage. Aber durchaus relevant. Wer heute über Pazifismus spricht, sollte sich mit seinen historischen Eckpfeilern befassen.

Wer heute über Pazifismus spricht, sollte sich mit seinen historischen Eckpfeilern befassen.

Die Waffen nieder! ist ein Kind des späten 19. Jahrhunderts. Die darin beschriebene und kritisierte Welt ist eine andere als unsere. Nicht gänzlich anders, aber doch. Wenn von Suttner den Vater der weiblichen Hauptfigur Gräfin Martha Althaus Aussagen wie „Das beste, um Sie aufrütteln … wäre wohl ein frischer fröhlicher Krieg – aber leider ist jetzt gar keine Aussicht dazu vorhanden; der Friede droht sich unabsehbar auszudehnen“ tätigen lässt, prangert sie dümmliches Heldentum, falsch verstandene Ehrgefühle und Kriegsgeilheit an. Der so Angesprochene – seinerseits Soldat und späterer Ehemann der Gräfin – stellt daraufhin klar, dass der Krieg „schweres Unglück“ bedeutet, „und als Mensch darf keiner am Unglück seiner Mitmenschen sich erfreuen“.

Bertha von Suttner
Bertha von Suttner lebte von 1843 bis 1914. 1905 bekam sie den Friedensnobelpreis verliehen – ein Preis, den sie gemeinsam mit Alfred Nobel 1901 überhaupt erst ins Leben gerufen hat. © Getty Images

Diese Denkweise gibt es heute nicht mehr. Auch wenn manche anderes suggerieren und allerorts Kriegsgeilheit vermuten: Die wenigsten Europäer wollen kämpfen. Im Gegenteil, wir sind zu „postheroischen“ Gesellschaften geworden. Heldentum und Patriotismus sind keine guten Motivatoren, sein Leben zu riskieren. Einer im Februar erschienenen Umfrage zufolge würden nur 10 Prozent der Deutschen ihr Land mit der Waffe verteidigen, fast ein Viertel würde so schnell wie möglich fliehen. In Österreich würden das einer älteren Umfrage (aus dem Jahr 2020) zufolge 16 Prozent tun (weitere 13 Prozent haben mit „eher ja“ geantwortet, 42 Prozent mit nein, 18 Prozent mit „eher nein“).

Krieg der Eliten

Aber zurück in die Vergangenheit und zu Die Waffen nieder!. Im weiteren Verlauf des Romans kommt es dann doch zum Krieg, konkret zwischen Deutschland und Dänemark (1864). Um das Wohl ihres Mannes besorgt, fragt die Gräfin „ob nun Schleswig zu Dänemark gehörte oder nicht, was in aller Welt konnte mich das anfechten? Und schließlich – was focht es die Dänen und die Schleswig-Holsteiner selber an? Sahen denn die beiden Völker nicht ein, dass es nur ihre Lenker waren, welche um Lande und Machtbesitz stritten, dass es in diesem Falle zum Beispiel nicht um ihr Wohl und Wehe, sondern um die Gelüste des Protokoll-Prinzen und des Augustenburgers sich handelte?“

Wir sind zu „postheroischen“ Gesellschaften geworden. Heldentum und Patriotismus sind keine guten Motivatoren, sein Leben zu riskieren.

Jetzt mag man mit Fug und Recht Parallelen zu heute ziehen. Ist es Russlands Krieg oder jener Wladimir Putins und seiner Elite? Ist es in (ganz) Russlands Interesse, die ukrainische Bevölkerung zu unterdrücken und ihre Identität auszulöschen, wie es Putin selbst immer wieder kommuniziert hat? Anders – von Suttner folgend – gesagt: Was kümmert es den sprichwörtlichen „kleinen Mann“ im flächenmäßig größten Land der Welt, ob die Ukraine – oder zumindest Teile von ihr – erobert wird? Wird sein Leben dadurch in irgendeiner Form besser?

Aggression und Verteidigung

Von Suttner beziehungsweise die Friedensbewegung blieben nicht gänzlich unerhört: 1899 und 1907 gab es die zwei große Friedenskonferenzen in Den Haag – übrigens auf Initiative von Zar Nikolaus II., es gibt auch eine russische Friedenstradition –, bei denen viele Hoffnungen in richterliche Verfahren der Streitbeilegung gesetzt wurden. Das hat die beiden Weltkriege – von Suttner starb übrigens knapp vor Ausbruch des Ersten – freilich nicht verhindert. Daher wurde zwischenstaatliche Gewalt erst in der Satzung des Völkerbundes und später in der UNO-Charter per se verboten. Die aktuelle Völkerrechtsordnung ist eindeutig pazifistisch geprägt.

Sowjetisches Anti-Kriegs-Propagandaposter von 1962
„Kein Krieg!“, ein sowjetisches Propagandaposter von 1962. © Getty Images

Dabei unterscheidet sie jedoch. Staaten steht weiterhin das „naturgegebene“ Recht auf Selbstverteidigung zu. Von diesem Argument wird regelmäßig Gebrauch gemacht, bisweilen wird es pervertiert. So rechtfertigte Russland beziehungsweise Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine mit Bedrohungen für die „gesamte Existenz unseres Staates und seiner Souveränität“.

Auch diese Missbrauchsanfälligkeit wird in „Die Waffen nieder!“ thematisiert: „Dann kommt es also immer darauf hinaus, dass nur Verteidigungskriege gerecht seien, und ein Schwertstreich nur dann geführt werden darf, wenn der Feind ins Land fällt? Die gegnerische Nation aber geht von demselben Grundsatz aus – wie kann da überhaupt der Kampf beginnen?“

Das entspricht der Völkerrechtsordnung des 19. Jahrhunderts. In den damaligen Lehrbüchern war ganz allgemein vom Recht auf „Selbsterhaltung“ die Rede: Staaten durften Krieg führen, um jedwede Bedrohung abzuwenden, mag sie auch noch so fern erscheinen.

Seitdem haben sich das Völkerrecht und die Staatenordnung jedoch weiterentwickelt. Mit dem UNO-Sicherheitsrat wurde eine Art Weltregierung geschaffen, die aufgrund des Vetos freilich oft gelähmt ist. Und mit der UNO-Generalversammlung eine Art Weltparlament, in der die Meinung der Regierungen – nur bedingt auch jene ihrer Völker – abgebildet wird. Sie haben mehrheitlich dafür gestimmt, Russlands Angriff zu verurteilen. Und mit dem Internationalen Gerichtshof hat die UNO auch ein eigenes „Weltgericht“. Auch dieses hat Russland dazu aufgefordert, den Krieg umgehend zu beenden. Wie in so ziemlich jedem Krieg seit 1945 ist damit eindeutig, wer Aggressor ist und wer sich verteidigt.

Pazifismus und Selbstverteidigung

Damit kann man nicht von dem einen Pazifismus sprechen. Vielmehr gibt es unterschiedliche Strömungen. Absolute Gewaltlosigkeit ist zwar die bekannteste, aber eben nicht die einzige.

So gibt es auch den „UNO-Pazifismus“: Er verurteilt den Angriff, nicht aber die Verteidigung. Wenn eine Backe geschlagen wird, muss man eben nicht die andere hinhalten. Der Angegriffene hat ein Recht auf Gegenwehr und auch auf Unterstützung – Artikel 51 der UNO-Charta beinhaltet explizit die Erlaubnis, anderen zur Hilfe zu kommen (sogenannte kollektive Selbstverteidigung): Ob im Rahmen eines Militärbündnisses wie der NATO oder anlassbezogen ist dabei irrelevant.

Der Pazifismus ist weniger naiv als man ihm unterstellen mag. Vielmehr hat von Suttner das Problem bei der Wurzel gepackt: Ohne Krieg keine Kriegsverbrechen. Ob das im (pazifistischen) Umkehrschluss heißt, dass ein angegriffener Staat kampflos aufgeben und sich fortan unterdrücken lassen soll, sei dahingestellt.

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Illustration von Sam Moyn
lehrt Geschichte und Recht an der Yale University