Sanktionen: Gas ist nicht alles

Die gegen Russland verhängten Sanktionen testen die europäische Geduld. Schon jetzt werden Stimmen laut, die sie überdenken oder gar abschaffen wollen. Nur: Was ist die Alternative?

Illustration einer Hand die ein Rubel-Symbol vor rotem Hintergrund hochhält
Auf den Rubel-Kurs hatten die Sanktionen gegen Russland bislang wenig Wirkung. Die Wirtschaft des Landes haben sie dennoch geschwächt. © Getty Images

Der russische Angriff auf die Ukraine hat eine Flut an Gegenmaßnahmen ausgelöst: Konten wurden eingefroren, Oligarchenjachten beschlagnahmt, Reiseverbote ausgesprochen, Import- und Exportverbote verhängt. Seitdem sind die Rohstoffpreise gestiegen, die EU erwartet heuer eine (Rekord-)Inflationsrate von 8,4 Prozent und die Furcht vor einem kalten Winter, in dem Wladimir Putin uns buchstäblich das Gas abdreht, wächst.

Schon jetzt werden Stimmen laut, die ein Ende der Sanktionen oder zumindest ein fundamentales Umdenken fordern: Weil sie nichts bringen, weil sie uns mehr schaden als Russland. Ganz so einfach ist es freilich nicht.

Warum Sanktionen?

Aber fangen wir bei den Grundlagen an. Mit Sanktionen meint man wirtschaftliche und sonstige Maßnahmen, die als Reaktion auf staatliches Fehlverhalten gesetzt werden: Von Handelsembargos bis hin zu „gezielten Sanktionen“ gegen Einzelpersonen. Sie sind notwendig, weil es bekanntlich keinen „Weltstaat“ beziehungsweise keine „Welt-Polizei“ gibt, die Völkerrechtsverstöße mit Zwangsgewalt ahndet. Vielmehr müssen einzelne oder mehrere Länder und überhaupt – im Rahmen des UNO-Sicherheitsrats – die gesamte Weltgemeinschaft andere Mittel und Wege finden.

Letzteres war in Bezug auf Russland niemals eine Option, weil es als ständiges Mitglied bekanntlich ein Vetorecht hat – selbst dann, wenn das Land unmittelbar involviert ist. Das war der Preis, um die Mitgliedschaft mächtiger Staaten in der UNO überhaupt sicherzustellen: Sie wollten von Beginn weg ausschließen, gegen ihren Willen verpflichtet zu werden. Dieses Privileg hat eine Vorgeschichte: Der Vorgänger der UNO, der Völkerbund, ist auch daran gescheitert, dass die USA ihm niemals beigetreten sind.

Die Rückkehr zur Zusammenarbeit mit Russland ließe sich nur mit einem Maximum an Zynismus rechtfertigen.

Umgekehrt ist Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ausgetreten, die Sowjetunion wurde nach Beginn des Zweiten Weltkriegs ausgeschlossen. Die UNO verfolgte von Anfang an das Ziel, alle Staaten, insbesondere die Weltmächte, zu inkludieren. Daher hatte Russland nach Ende des Kalten Krieges auch die Mitgliedschaft der Sowjetunion fortgeführt.

Aber zurück zum Thema: Zahlreiche Staaten haben Sanktionen gegen Russland verhängt, allen voran die Mitglieder der EU beziehungsweise die EU selbst, die USA, aber auch Australien, Korea, Japan und die Schweiz. Die Sanktionen selbst gingen weit über bloße Symbolik oder vereinzelte Maßnahmen hinaus. Seit 1945 wurden keine derart umfassenden Maßnahmen gegen eine Weltmacht verabschiedet.

Die Ziele von Sanktionen

Das kommt freilich nicht von ungefähr. Der russische Angriffskrieg verstößt gegen einen elementaren Grundsatz der Weltordnung: das völkerrechtliche Gewaltverbot nach Artikel 2(4) UNO-Charter, die Art der Kriegsführung verletzt wiederum die Prinzipien der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle. Die Folgen sind bekannt, von der Zerstörung vor Ort über die tausenden getöteten Menschen bis hin zu den weltweiten Auswirkungen wie die Nahrungskrise oder die größte Fluchtbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Allerdings haben die Sanktionen keine Verhaltensänderung Russlands herbeigeführt, fern davon. Niemand kann so wirklich abschätzen, wie und wann der der Krieg beendet werden könnte. Die Gedanken Wladimir Putins sind der Öffentlichkeit eben nicht zugänglich.

Damit haben die Sanktionen ein zentrales Ziel verfehlt. Allerdings war das von Anfang an klar. Ganz allgemein lassen sich Staaten, die aus ideologischen Motiven zu den Waffen schreiten, nur schwer zum Einlenken bewegen. Zur Erinnerung: Wladimir Putin sprach der Ukraine den Charakter einer Nation ab, möchte die russische Einflusssphäre absichern und ausbauen und die westlich beziehungsweise US-amerikanisch dominierte Weltordnung umkrempeln. Das sind keine Pläne, von denen man sich einfach so abbringen lässt – im Gegenteil, wenn man derartige Ziele formuliert und mit medialer Kontrolle die eigene Bevölkerung auf Feinde wie „den Westen“ – also auch die EU – oder die NATO einschwört, kann sie durchaus gewillt sein, einen hohen Preis zu zahlen: Man spricht hier vom „Rally-‘round the Flag‘-Effekt, also die Solidarisierung nach innen aufgrund einer Bedrohung von außen.

Das Nicht-Erreichen des Maximalziels darf aber nicht über die anderen Zwecke von Sanktionen hinwegtäuschen. Zum einen die Abschreckung, die neben dem eigentlichen Adressaten – Russland – auch auf andere Staaten abzielt, von China in Hinblick auf Taiwan bis hin zum Iran und dessen Atomprogramm. Man darf sich aber auch Fragen, ob man mit entschiedeneren und konkreteren Sanktionsdrohungen in Richtung Putin, der mit dem Ausmaß der tatsächlichen Sanktionen mitunter nicht gerechnet hatte, nicht sogar den russischen Angriff hätte abwenden können. Aber das ist höchst spekulativ.

Die Crux mit dem Gas

Zum anderen die bittere Erkenntnis, dass Europa mit Importen und Exporten den Krieg indirekt unterstützt, bis zum Vorjahr hatten EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Deutschland sogar Waffen und Munition im Wert von 42 Millionen US-Dollar an Russland verkauft – aufgrund einer Ausnahme für alte, also aus der Zeit vor der Krim-Annexion stammende Lieferverträge, die erst mit dem fünften Sanktionspaket abgeschafft wurden.

Man sieht also: Es kommt darauf an, wie man die Umgehung von Sanktionen verhindert. Das betrifft auch andere Formen der Umgehung, etwa durch die Um-Etikettierung russischer Exporte, was wiederum die Einbindung von bislang zurückhaltenden Staaten wie China oder Indien braucht – notfalls auch mit unfreundlichen (Wirtschafts-)Maßnahmen. Was sich in der Theorie leichter sagen als in der Praxis umsetzen lässt.

Europa unterstützt beide Kriegsparteien, Russland mit seinen Zahlungen und die Ukraine mit Waffen.

Womit wir bei der europäischen Achillesferse wären, der Abhängigkeit von russischem Gas: Ein altes Thema, das in seinen Ursprüngen bis in die 1960er-Jahre reicht. Damals prägte der SPD-Politiker Egon Bahr den Gedanken vom „Wandel durch Handel“ mitsamt der damit verwandten Vorstellung, dass wirtschaftliche Verflechtungen Kriege verhindern – ganz einfach, weil es „billiger“ und damit vernünftiger ist, zu kooperieren als andere Staaten gewaltsam zu unterwerfen.

In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde insbesondere Deutschland stärker als ursprünglich geplant von sowjetischem und später russischem Gas abhängig, Transportwege und politische Kontakte gingen vor menschenrechtliche oder strategische Bedenken, ob es als politisches Druckmittel eingesetzt werden könnte. Heute haben wir, spät aber doch, endgültige Gewissheit. Europa unterstützt beide Kriegsparteien, Russland mit seinen Zahlungen und die Ukraine mit Waffen. Das verhindert auch ein schnelleres „Ausbluten“ des Konflikts.

Keine Sanktionen – und dann?

Daher rührt die Forderung nach einem Ende der Sanktionen, manchen zufolge schaden sie „uns“ mehr als Russland. So haben die gestiegenen Rohstoffpreise Russland mehr Geld für weniger Exporte in die Kassen gespült. Aber ob dieser Trend in der Form auch langfristig anhält, bleibt offen.

Außerdem ist diese Frage ohnehin stark verkürzend, zumal die EU und Russland sich kaum vergleichen lassen – entscheidend ist vielmehr das europäische Durchhaltevermögen und ob die Sanktionen eine ausreichende Wirkung erzielen. Die, wie gesagt, nicht nur in einer Verhaltensänderung besteht, sondern auch der Schwächung Russlands beziehungsweise einem Ende der unfreiwilligen Unterstützung eines Angriffskrieges und der Abschreckung für mögliche Nachahmer.

Damit steht Europa an einem Wendepunkt, den es eigentlich nicht wollte. Das verlangt strategische Unabhängigkeit bei gleichzeitiger Verteilung von Risiken auf mehrere Handelspartner – darunter auch undemokratische Regime – und einen langen Atem. Vielen scheint das immer noch nicht bewusst zu sein. Nur: Es wäre verfehlt, zu glauben, man könne einfach so zum Zustand vor dem russischen Angriff zurückkehren. Die Rückkehr zur Zusammenarbeit mit einem Staat, der einen derartigen Krieg vom Zaun gebrochen hat, ließe sich nur mit einem Maximum an Zynismus und einem Minimum an vorausschauender Planung rechtfertigen. Spätestens jetzt ist allen klar, dass Putin ein nur scheinbar verlässlicher Partner war.

Der „Urlaub von der Weltpolitik ist vorbei“ wie es Außenminister Schallenberg nach Ausbruch des Krieges formulierte, jetzt folgt eine schwierige und unangenehme Umbruchphase. Irgendwann musste sie kommen.