Wer braucht die UNO?

Nach Russlands Angriff auf die Ukraine stellt sich die Frage, welchen Zweck die Vereinten Nationen heute überhaupt noch haben. Eine kritische Betrachtung anlässlich der Generalversammlung der UNO.

Ein Treffen des UN-Sicherheitsrats zur Besprechung der Lage in Laos, 1959
Ein Treffen des UN-Sicherheitsrats zur Besprechung der Lage in Laos, September 1959. © Getty Images

Frieden und Sicherheit. Die UNO wurde 1945 gegründet, um „die kommenden Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsägliches Leid über die Menschheit gebracht hat“ – die beiden Weltkriege also.

Zwischenstaatliche Kriege sind die Ausnahme geworden

In gewisser Hinsicht hat sich diese Hoffnung erfüllt: Ein weiterer Weltkrieg ist ausgeblieben, die meisten Kriege finden seit Jahrzehnten innerhalb von Staaten und auf einer niederschwelligen Ebene statt – andere Länder sind hier in der Regel nur indirekt beteiligt, also durch Waffenlieferungen, Ausbildung und Finanzierung von „irregulären“ Kämpfern aller Art. So gab es 2019 neun, im Jahr darauf elf und zuletzt wieder neun innerstaatliche Kriege. Im Gegenzug dazu gab es 2021 keine einzige direkte militärische Konfrontation zwischen zwei oder mehreren Staaten, 2020 eine (der Krieg um Bergkarabach 2020), 2019 wiederum keine.

Eine Überlebende des Völkermords in Ruanda in einem Krankenhausbett, Mai 1994
Genozid in Ruanda: Schätzungen zufolge fielen zwischen April und Juli 1994 circa 800.000 Menschen dem Völkermord zum Opfer, darunter überwiegend Angehörige der Tutsi-Minderheit. © Getty Images

Die UNO hat sich daran angepasst, Bürgerkriege gelten schon lange nicht mehr als „innere Angelegenheit“, in die sie sich nicht einmischen dürfte. 1960 wurden erstmals Friedenstruppen in eine solche Konfliktsituation entsandt, der Vorläufer für spätere Operationen in Somalia, Jugoslawien oder Ruanda. Alle drei sind jedoch gescheitert, weder konnte die Stabilität wiederhergestellt noch massive Menschenrechtsverletzungen verhindert werden. Bis heute gehören die Völkermorde in Srebrenica und Ruanda zu den dunkelsten Kapiteln der UN-Geschichte. Man hätte sie verhindern können, wollte aber nicht.

Anachronismus Sicherheitsrat

Der Angriff auf die Ukraine fügt sich damit in eine Reihe von Fehlschlägen der Staatengemeinschaft ein. Russland war das in Artikel 2(4) UN-Charter normierte Gewaltverbot egal und es konnte als Vetomacht auch eine Resolution des UN-Sicherheitsrats gegen sich verhindern.

Dieser Status und das damit einhergehende Vetorecht war eine Bedingung für den UN-Beitritt der Großmächte nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wollten verhindern, gegen ihren Willen mit Sanktionen belegt oder sogar mit einem UN-Mandat angegriffen zu werden.

Mit Ende des Kalten Krieges wurde der Sicherheitsrat ungleich aktiver – allerdings immer auf Nebenschauplätzen.

Umgekehrt wollte man sie unbedingt dabei haben und damit eine Wiederholung der Geschichte verhindern, waren die USA doch dem Völkerbund, die Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen, ferngeblieben, während Deutschland nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ausgetreten war und die UdSSR aufgrund des Angriffs auf Polen ausgeschlossen wurde. Der Völkerbund gilt als Symbol des Scheiterns in der Zwischenkriegszeit.

Die UN-Mitgliedschaft der Sowjetunion und der USA, aber auch der übrigen Vetomächte, hatte also einen hohen Preis: Der Sicherheitsrat war während des Kalten Krieges großteils blockiert und erließ nur gegen zwei Länder Sanktionen, nämlich die international isolierten Apartheidregimen in Rhodesien und Südafrika. Die früheren Resolutionen zum Koreakrieg waren wiederum nur möglich, weil die UdSSR den Sitzungen aus Protest ferngeblieben war und dieser Boykott nicht als Veto gewertet wurde.

Post-1989: Euphorie und Ernüchterung

Mit Ende des Kalten Krieges wurde die Zusammenarbeit besser und der Sicherheitsrat ungleich aktiver. Allerdings immer auf Nebenschauplätzen, an denen keine fundamentalen Interessensgegensätze der Weltmächte vorlagen. Außerdem blieb eine Verurteilung der USA, Chinas, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs oder eben Russlands aufgrund des fortbestehenden Vetorechts weiter undenkbar.

Ergebnis der Abstimmung der Mitglieder der UN-Generalversammlung über den Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat, 7. April 2022
Am 7. April 2022 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution über den Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat. Russland kam der Suspendierung anschließend zuvor und beendete seine Mitgliedschaft selbst. Der Austritt ist seit 16. September 2022 gültig. © Getty Images

Daran knüpfen diverse, zuletzt durch die USA vorgebrachte Forderungen nach einer Reform oder gar ein Ende der russischen Mitgliedschaft. Vorstöße zur Schaffung neuer Vetomächte bis hin zu Auflagen für die Ausübung des Vetorechts mögen auf akademisches Interesse stoßen; man hat derartiges in den letzten Jahrzehnten aber zu oft gehört, um es allzu ernst zu nehmen. Kein Staat gibt gerne freiwillig Macht ab, weder durch die Schaffung zusätzlicher Vetomächte noch indem man sich einfach so aus dem zentralsten Gremium der Vereinten Nationen ausschließen lässt: Russland hat nach dem Zerfall der Sowjetunion mit Unterstützung der übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken den Sitz im Sicherheitsrat weiter fortgeführt. Um das zu ändern, müsste Russland selbst zustimmen (eine absurde Vorstellung).

Die große Sinnfrage

Bleibt die unangenehme Frage, wozu es die Vereinten Nationen überhaupt gibt, wenn sie Kriege wie den russischen Angriff auf die Ukraine nicht verhindern oder wenigstens beenden können. Die Wahrung des Weltfriedens ist schließlich eines ihrer Hauptziele, wenn nicht das primäre Ziel. Das spießt sich damit, dass der Sicherheitsrat so oft und vor allem dann untätig bleibt, wenn eine Vetomacht selbst unmittelbar involviert ist.

Ganz so einfach ist es freilich nicht: Die UNO ist letztlich auf ihre Mitglieder angewiesen. Und wenn diese oder auch nur eines von ihnen nicht zusammenarbeiten oder die grundlegenden Regeln des Völkerrechts einhalten wollen, kann die beste Organisation nicht viel tun.

Geflüchtete aus Srebrenica, 1995
Geflüchtete aus Srebrenica bei der Ankunft in Tuzla, 1995: Bei dem Massaker im Juli 1995 wurden rund 7.000 bosnische Muslime durch bosnische Serben ermordet. © Getty Images

Dazu kommt die hypothetische Frage, was es statt der UNO geben würde: Ad hoc-Staatentreffen wie zu Metternichs Zeiten, ohne eigenen Verwaltungsapparat, Gebäuden und eingespielten Abläufen? Die dann vielleicht erst wieder zur Schaffung einer ständigen Einrichtung münden könnten?

Außerdem darf man nicht vergessen, dass die UNO mehr ist als der Sicherheitsrat. Neben den Hauptorganen wie der Generalversammlung oder dem Internationalen Gerichtshof gibt es ein hochkomplexes Geflecht aus Sonderorganisationen zu den unterschiedlichsten Themenbereichen, von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO über die internationale Arbeitsorganisation bis hin zur Weltorganisation für geistiges Eigentum. Anders gesagt: “Die UNO” lässt sich aufgrund dieser Tätigkeitsbereiche nicht pauschal bzw. als Einheit beurteilen.

Der Frust, der bleibt

So endet man schnell zwischen unreflektierter UN-Apologie und pauschaler Verurteilung. Was nicht weiter brisant ist, die Kritik und die Diskussionen darum sind seit Jahrzehnten dieselben. Geändert haben sie nicht viel, eine Abschaffung oder substantielle Reform würde es erst nach Ende eines Dritten Weltkriegs geben. Ansonsten fehlen der politische Wille und die dazugehörige Bereitschaft für etwas fundamental Neues. Kritik hin oder her, die Vereinten Nationen werden der Welt bis auf Weiteres in ihrer jetzigen Form erhalten bleiben.