Ode an eine kaputte Welt

Nicht alles können wir reparieren. Doch auch was kaputt ist, hat einen Wert. Dies zu erkennen ist in Zeiten von Krieg und Klimawandel ein Trost. 

Marmorbüste mit Rissen, die mit Gold aufgefüllt wurden
Viele Menschen fühlen sich angesichts des Krisenzustands unserer Welt überfordert – oder gebrochen. © Unsplash/Simon Lee

Meine Freundin J. hat ein Talent für Handarbeiten. Eine Weile lang hat sie alle möglichen Dinge gehäkelt, darunter mehrere Schals. Neulich besahen wir ein türkises Exemplar, das von Motten zerfressen war. Was tun? Was würden Sie tun? Wann lohnt es sich, Dinge zu reparieren, und welche Dinge sind das? Was muss man dagegen loslassen, wegwerfen? Und wie erkennt man den Unterschied?

J. wollte zunächst reparieren. Eine der schönsten Reparaturmethoden kommt aus Japan und heißt Kintsugi. Diese Technik entstand beim Umgang mit porzellanenen Teeschalen, die, wie alles andere auch, dazu neigen, irgendwann zu Bruch zu gehen. Ihre Scherben werden mit goldenem Porzellankleber zusammengefügt, der Bruchstellen nicht versteckt, sondern in Schmuck verwandelt.

Wir können die Welt nicht reparieren. Wir können sie aber auch nicht wegwerfen.

„Zeige deine Wunde“, sagte der Künstler Joseph Beuys. Kintsugi zeigt die Wunde und hebt sie zugleich auf – sie wird negiert, bewahrt und veredelt. Das kann man natürlich nicht nur mit Porzellan machen, sondern auch mit kaputten Schals. Und so blickten wir auf den mottenzerfressenen Türkisling und dachten darüber nach, ihn mit Goldfäden in etwas Neues zu verwandeln. „Aber erst einmal kommt er in die Waschmaschine“, sagte J. 

Dann tranken wir Tee. Unser Gespräch schweifte von weltpolitischen Fragen zu Banalitäten, von Ausnahmezustand zu Normalität. Ein gutes Buch, eine neue Creme und ob man endlich wieder Yoga gemacht hat. Und der Krieg. Und das große Artensterben. Und der Klimawandel, wo sich gerade wieder ein Zeitfenster schließt. Wie etwas reparieren, was wir kaum begreifen können? Und dennoch, und dennoch, es kann ja so nicht weitergehen. Oder? 

Heilung der Welt ist eine Illusion

Viele von uns spüren, dass die Welt in Unordnung ist. Vielleicht ist sie auch in Bewegung, im Wandel; gewiss ist nur, dass die Deutung vom „Ende der Geschichte“, unter deren lähmender Behaglichkeit ich meine Zwanziger verbracht habe, längst selbst Geschichte ist. Wir blicken auf diese unordentliche, teils schlicht entsetzliche Wirklichkeit wie auf eine zerbrochene Schale und fragen uns, wie wir sie reparieren können. Existenzielles Kintsugi, Selbstbesinnung der Menschheitsfamilie, ein großer Kotau vor den Tieren und der Natur?

Ja, denke ich, ja, aber nein zugleich. Wir können die Welt nicht reparieren. Wir können sie aber auch nicht wegwerfen. Wir müssen sie endlich wieder bewohnen, so, wie sie ist – Schlacken und Seen und Serverfarmen; alles. Die amerikanische Philosophin Donna Haraway spricht davon, dass es an der Zeit sei, alle Vorstellungen von vollständiger Heilung aufzugeben. Es gibt kein Leben jenseits von Corona, jenseits des Klimawandels.

Vielleicht gibt es auch kein Leben jenseits ökonomischer Unterschiede; wobei ich nicht bereit bin, den Glauben daran aufzugeben, dass es unsere Spezies eines Tages hinkriegen wird, dass keiner von uns mehr hungern muss, dass alle einen Schlafplatz haben, Privatsphäre und Zeit für ihre (Wahl-)Familie. Und für Muße. Beim Schreiben merke ich, wie utopisch das klingt, dabei ist das doch das Mindeste. Vielleicht ist das der erste Schritt aus der Ohnmacht, in die mich und alle, die ich kenne, der krisenhafte Zustand der Welt versetzt. Über das Mindeste nachdenken. 

Glaubst du an den Menschen?

Doch es geht um mehr. Wenn wir den Glauben an ein geschlossenes Ganzes aufgeben, an etwas, was so eindeutig und fassbar ist wie ein türkiser Schal oder eine zerbrochene Schale, gewinnen wir den Kontakt zum Werden der Welt, die sich bei näherer Betrachtung immer als gebrochen, vielstimmig und widersprüchlich zeigt. Unordentlich. Ebenso wie wir Menschen. Für jeden Putin gibt es einen Selenskyj, für jede Geschichte, die uns verzweifeln lässt, gibt es eine, die uns erhebt und das Vertrauen zurückgibt. Die Zukunft wird davon abhängen, welchen Geschichten wir mehr Aufmerksamkeit schenken. Denn die Frage unserer Zeit ist nicht mehr: Glaubst du an Gott? Sondern: Glaubst du an den Menschen?

Für jeden Putin gibt es einen Selenskyj, für jede Geschichte, die uns verzweifeln lässt, gibt es eine, die uns erhebt.

Gewiss ist dabei, dass wir in dieser Unordnung, welche die Welt ist, wohnen – und immer schon gewohnt haben, allen tröstlichen Theorien zum Trotz. Und ebenso gewiss ist, dass es einen Unterschied macht, wie sich jeder und jede Einzelne von uns in ihr verhält. Nach ihrer Absage an ein geschlossenes Ganzes, das es endgültig zu heilen gelte – die Welt retten, die Erde retten –, spricht Haraway davon, dass es stattdessen an der Zeit sei, Zonen temporärer Erholung zu schaffen. Hier geht es nicht nur darum, dass es bedeutsam ist, wenn Bäume gepflanzt oder Windräder aufgestellt werden, sondern auch um die Begegnungen, die in diesen Zonen möglich werden: ein anderer Umgang mit der Natur, mit den Tieren und, bei Haraway immer mitgedacht, mit den Maschinen.

Zusammenarbeit und Einfühlung statt Ausbeutung und Instrumentalisierung, getragen von dem Bewusstsein, dass wir alle gemeinsam Welt sind und Welt machen und dass das genau dort, wo wir selbst sind, gelingen oder scheitern kann. Es gelingt, wenn wir begreifen, dass alle menschlichen und nichtmenschlichen Akteure eine eigene Agenda haben und haben dürfen. Dass sie in der Welt vorkommen können, im weitesten Sinn Subjekte sind. Es misslingt, wenn ein herrischer Blick alles andere diskriminiert, verwertet, benutzt. 

Erforschung des eigenen Ichs

Vielleicht klappt existenzielles Kintsugi doch. Mit menschlichem statt mit göttlichem Maß. Und das beginnt, wie alle Dinge, bei einem selbst. Auch wir sind eine unordentliche Ganzheit, die sich nur schwer – und immer nur vorläufig – auf einen Nenner bringen lässt. Auch in uns selbst müssen wir einen Umgang mit unseren schlechten Seiten finden und uns zugleich an den guten aufrichten. Oder an der Freude, die ihre tiefste Quelle oft ebenfalls im Guten hat – so wie es meist schöner ist, zu schenken, als beschenkt zu werden. 

Aber eben nicht immer. Manchmal muss man sich auch trennen – von Gewohnheiten, von Menschen, von Deutungen, die nicht mehr passen. Und von alten Schals. Denn als der Türkisling aus der Wäsche kam, war er so zerfleddert, dass J. beschloss, ihn gehen zu lassen und stattdessen einen neuen zu häkeln. Die Welt jedoch müssen wir behalten, wie sie ist. Doch es liegt an uns, ihr Geheimnis immer wieder neu in eine flüchtige Heimat zu verwandeln.