Gibt die Erde noch genug her?

Auch 10 Milliarden Menschen können satt werden. Doch wir müssen verstehen, dass nicht die Natur die Menschheit ernährt, sondern die Landwirtschaft. Ohne Kunstdünger und Pestizide geht das nicht.

Landwirtschaft mit Ertrag: Ein kleiner Junge steht in einem Kürbisfeld udn versucht einen Kürbis hochzuheben.
Kürbisse in Irvine, Kalifornien 2020. Die kalifornische Landwirtschaft hat aktuell mit dramatisch sinkenden Erträgen aufgrund von Dürre zu kämpfen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Künstlich. Die moderne Landwirtschaft kann die Welt nur ernähren, wenn sie Kunstdünger und Pestizide einsetzen darf.
  • Naiv. Wer mehr Biolandwirtschaft fordert, vergisst den hohen Landbedarf von Bio. Wir brauchen aber mehr Natur, um den Klimawandel zu bewältigen.
  • Regional. In Österreich produzierte Lebensmittel sind oft klimafreundlicher, nicht nur wegen kurzer Transportwege, sondern wegen ihrer effizienten Produktion.
  • Weniger Fleisch. Um eine Reduktion des Fleischkonsums kommen wir nicht herum, denn kein Lebensmittel braucht derart viel Fläche.

Mal angenommen, Sie stünden mitten im Wiener Wald und müssten dort Erdäpfel anbauen. Instinktiv leuchtet Ihnen ein: das wird nicht funktionieren. Die Bäume werfen zu viel Schatten, der laubbedeckte Boden ist zu feucht und die vielen Baumwurzeln würden den Kartoffelknollen ohnehin keinen Raum lassen. Dann eben auf der Wiese nebenan? Dort ist der Boden mit Gräsern und Kräutern dicht bewachsen – ebenso schlechte Aussichten für Ihre Erdäpfel. Sie müssen sich etwas einfallen lassen, wenn es mit der Ernte was werden soll. Sie werden unter keinen Umständen um eine Sache herumkommen, für die es in wissenschaftlichen Arbeiten einen eigenen Fachbegriff gibt: Landnutzungsänderung. Sie müssen den Wald oder die Wiese zu Ackerland machen oder auf ihre Knollen pfeifen. Und das bleibt nicht ohne Folgen.

Auch wenn alle Welt zuerst an Pestizide und Kunstdünger denkt, wenn es um die Umweltwirkungen der heutigen Landwirtschaft geht: Global betrachtet sind es noch immer solche Landnutzungsänderungen, die den allergrößten Einfluss haben. Das liegt daran, dass Wälder und vor allem Moore gigantische Kohlenstoffspeicher und Horte der Biodiversität sind. Werden sie gerodet oder trockengelegt, entweichen nicht nur riesige Mengen Kohlendioxid in die Atmosphäre, auch der Lebensraum zahlloser Arten geht verloren. Die globale Bedeutung solcher Naturflächen ist daher fundamental.

Mehr Landwirtschaft heißt weniger Natur

Der Weltklimarat etwa bemisst der Landnutzung in seinem Sonderbericht „Klimawandel und Landsysteme“ aus dem Jahr 2019 satte fünf bis 14 Prozent aller menschengemachten Treibhausgas-Emissionen bei. Das entspricht rund der Hälfte der Menge, die die Landwirtschaft insgesamt zu verantworten hat. Auch der Weltbiodiversitätsrat IPBES listet in seinem Bericht aus demselben Jahr unter den fünf wichtigsten Gründen für den globalen Verlust an Biodiversität „Veränderungen in der Land- und Meeresnutzung“ als ersten und bedeutendsten Faktor.

Um den Zusammenhang Welternährung besser zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit. Ohne Mensch wären Laubmischwälder in Europa die potenziell vorherrschende natürliche Vegetation. Dazu käme wohl etwas von wildlebenden Pflanzenfressern waldfrei gehaltenes Grünland, garniert mit Mooren, Wasser- und Felslandschaften. Da unsere Vorfahren auf das ewige Wildschweinjagen und Beerensammeln keine Lust mehr hatten, etablierte sich die aus dem Nahen Osten übernommene Erfindung namens Landwirtschaft vor rund 7.500 Jahren auch hierzulande.

Um Flächen für Ackerbau und Viehhaltung zu gewinnen, mussten mit wachsender Bevölkerung immer größere Teile der Wälder niedergebrannt und Sümpfe trockengelegt werden. So gesehen stand und steht die Natur der Landwirtschaft im Wege. Und damit der Zivilisation als Ganzes – wobei man es auch umgekehrt sehen kann. Naturzerstörung ist also kein Phänomen, das auf den brasilianischen Regenwald oder das Kongobecken beschränkt wäre, von wo man das heutzutage kennt.

Sie geht fast jeder landwirtschaftlichen Nutzung zwangsläufig voraus. Landwirtschaft bedeutet: das Land zu be-wirtschaften. Will heißen: Der Mensch bestimmt, was wachsen darf, nicht die Natur. Dieses Urbarmachen und Kultivieren – das steckt schon im Begriff – ist die Grundlage unserer Kultur. Jene Rodungen und Trockenlegungen, die auf unser eigenes Konto gehen, haben wir nur deshalb vergessen, weil sie oftmals viele Jahrhunderte zurückliegen. Auch die Tatsache, dass unsere Kulturpflanzen ohne den Schutz durch Menschen von der immer neu aufkommenden Wildnis unterdrückt würden, verdrängen viele gerne.

Naturromantik ist keine Lösung

In modernen, westlichen Gesellschaften hat sich eine Art „Mutter Erde“-Religion ausgebreitet. Ihre zahlreichen Anhänger träumen von einer Landwirtschaft „im Einklang mit der Natur“ und tun so, als bräuchte es nicht viel – schon gar nicht Pestizide oder Kunstdünger – um eine ausreichende Ernte einfahren zu können. Früher ging es ja auch, hört man oft.

Dabei blenden diese Menschen zumindest zwei entscheidende Tatsachen aus: Erstens, dass die Weltlandwirtschaft, speziell auch in ihrer intensiven Form, heute im Vergleich zur „guten alten Zeit“ ein Vielfaches an Menschen ernährt. Die Statistik dazu ist atemberaubend: Im Jahr 1800 lebten weniger als eine Milliarde Menschen, noch heuer dürften es acht Milliarden werden. Das ist, als ob Eltern statt einem acht Kinder zu ernähren hätten!

Die Landwirtschaft schafft es – in Zusammenarbeit mit der ebenso modernisierten Medizin und Hygiene – mehr Vertretern unserer Art ein Leben zu ermöglichen als je zuvor. Während noch in den 1920er Jahren von 100.000 Menschen jährlich über 80 an den Folgen von Hunger starben, sank diese Zahl laut der Datenwebseite Our World in Data bis vor wenigen Jahren auf 0,5. Auch wenn zuletzt wieder mehr Menschen hungerten und jedes einzelne Opfer eine Tragödie darstellt, auf lange Sicht zeugt die Statistik für die größte Erfolgsgeschichte der Menschheit.


Zweitens ignorieren die Kritiker der modernen Landwirtschaft, die übrigens auch von vielen Kleinbauern betrieben wird, dass es den vielzitierten Einklang mit der Natur zu keinem Zeitpunkt gegeben hat. Weder nach der sogenannten Grünen Revolution noch irgendwann davor. Die Grüne Revolution bezeichnet jene landwirtschaftliche Modernisierungsphase, die vor allem seit den 1960er Jahren durch den Anbau züchterisch verbesserter Kulturpflanzen in Kombination mit Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln die Erträge pro Hektar um ein Vielfaches steigerte. Dem Agrarwissenschaftler Norman Borlaug wurde für seine Verdienste um die Züchtung ertragreicherer Weizensorten 1970 sogar der Friedensnobelpreis verliehen.

Wenig Fortschritt, hoher Landbedarf

Dass mit der intensiveren Wirtschaftsweise etliche neue Umweltprobleme aufkamen, ist nicht zu leugnen. Aber was hat den „Einklang“ in all den Jahrhunderten zuvor gestört? Es war der aus den geringen Hektarerträgen resultierende hohe Landbedarf. Er lässt sich etwa an der Tatsache ablesen, dass bereits im Hochmittelalter weite Teile mitteleuropäischer Landschaften entwaldet waren. Der Waldanteil Deutschlands etwa beträgt heute rund 30 Prozent der Landesfläche. Für damals wird er auf maximal die Hälfte geschätzt. Im Jahr 1400 beanspruchte jeder Europäer noch durchschnittlich 10.000 Quadratmeter Ackerland, heutzutage sind es 2.800 Quadratmeter. Es stand also viel mehr Land unter dem Pflug, obwohl viel weniger Menschen zu ernähren waren als heute. Hänge, die inzwischen längst wieder bewaldet oder mit Wiesen bedeckt sind, waren damals mit Äckern übersät.

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Zahlen & Fakten

Foto von protestierenden Frauen, die in einem Supermarkt auf dem Boden sitzen.
Naturromantik oder berechtigte Kritik? Blockade der Abteilung für Milchprodukte und Fleisch in einem Supermarkt in London. © Getty Images

Landbedarf senken wäre leicht


Als im Juli 1342 von Italien her ein gewaltiges Tiefdruckgebiet tagelangen Dauerregen brachte, rissen die Wassermassen mehr als zehn Meter tiefe Erosionsschluchten in die damals tatsächlich ausgelaugten Böden der kleinbäuerlichen Wölbäcker. Die Folgen dieser als Magdalenenflut in die mitteleuropäische Geschichte eingegangenen Ökokatastrophe waren ungezählte Tote, Hungersnöte und geschwächte Menschen, die dem fünf Jahre später folgenden großen Ausbruch der Pest nur mehr wenig entgegenzusetzen hatten.

Ernährung und Kohlendioxid

Warum ist all dies für die Zukunft der Welternährung so bedeutend? Weil es zeigt, welche Option wir nicht haben: Bis zum Jahr 2050 ist mit 10 Milliarden Menschen auf der Erde zu rechnen. Hinzukommt, dass der Wohlstand der Weltbevölkerung stetig wächst, womit der vermehrte Konsum von Fleisch und Milchprodukten einhergeht. Wird Getreide oder Soja an Nutztiere verfüttert, statt direkt von Menschen verzehrt zu werden, ist dies – zumindest im Grundsatz – wenig effizient und nimmt große Teile der Ackerflächen in Anspruch.
 
Institutionen wie der Weltklimarat und die FAO gehen davon aus, dass wir bis in 30 Jahren 50 Prozent oder mehr Nahrungsmittel zusätzlich brauchen. Wir können nicht darauf bauen, diese Mehrproduktion durch ein weiteres Ausdehnen der globalen Agrarflächen zu stemmen. Zusätzliche Biodiversitätsverluste und Kohlendioxid-Ausgasungen wären die Folge.
 
Schon der bisherige Verlauf des Jahres 2022 hat gezeigt, dass eine ausreichende Versorgung mit Essen längst nicht so selbstverständlich ist, wie wir gerne geglaubt hätten. Wird ein wichtiger Getreideexporteur wie die Ukraine überfallen und seine Ausfuhrhäfen blockiert, dann können die Bewohner von Ländern mit weniger fruchtbaren Böden schnell in akute Not kommen. Die gestiegenen Preise merken wir alle. Auch der Klimawandel lässt konstant wachsende Erntemengen zum reinen Wunschdenken werden. Wassermangel und große Hitze hemmen das Wachstum der Kulturpflanzen.

Pestizide für zehn Milliarden

Wie also 10 Milliarden ernähren, wenn es bei weniger als 8 schon eng werden kann, und zeitlich Klima und Artenvielfalt schützen?
 
Teile der Antwort könnten die Öffentlichkeit verstören. Zu sehr hat sich die Überzeugung breit gemacht, allein die Abkehr von der konventionellen Landwirtschaft hin zum Bio-Landbau könne alle Wünsche gleichzeitig erfüllen. In den Schriften des Weltklimarates kommt die Bio-Landwirtschaft dagegen nur als Fußnote vor. Grund: Bei allen Vorteilen, die sie – lokal betrachtet – etwa durch eine höhere Artenvielfalt am Feld oder durch geringere Stickstoffauswaschung mit sich bringt, ihre globalen Effekte wären bei einer großflächigen Umstellung mehr als kontraproduktiv. Dies liegt an systembedingten Mindererträgen von bis zu 50 Prozent. Wegen des global steigenden Lebensmittelbedarfs würde die Maßnahme beschleunigte Regenwaldrodungen geradezu heraufbeschwören, um die Verluste auszugleichen.
 
Stattdessen legt der Weltklimarat an vielen Stellen eine „nachhaltige Intensivierung“ der Landwirtschaft nahe. Was heißt das? Die Hektarerträge müssen wachsen, während die negativen Umwelteffekte durch Dünger oder Pflanzenschutzmittel schrumpfen sollen. Alles andere als ein Kinderspiel. Die Aufgabe ist riesig und die eine Patentlösung gibt es nicht.

Foto einer einzelnen Kuh in der Fütterungsanlage eines Stalls.
Eine Milchkuh in Großbritannien im August 2022. Die Trockenheit des Sommers hat zu steigenden Milchpreisen geführt. © Getty Images

Und dennoch hat die Wissenschaft längt zahlreiche Stellschrauben ausgemacht, an denen wir drehen sollten: Länder mit hohem Fleischkonsum sollten diesen auf ein gesundes Maß zurückfahren, Lebensmittelverluste- und Verschwendung gilt es überall zu bekämpfen. In Afrika kann dies durch den Bau von Straßen erreicht werden, damit Lebensmittel schneller von A nach B kommen. Im heimischen Kühlschrank durch ein bedachtes Befüllen und Aufbrauchen.

Landwirtschaft regional

Gleichzeitig muss die Produktion von Lebensmitteln, auch von tierischen, gesteigert und in Europa weitgehend aufrechterhalten werden. Was vielen nicht bewusst ist: Lebensmittel etwa aus Österreich hinterlassen Dank effizienter Produktion meist einen deutlich unterdurchschnittlichen Klima-Fußabdruck. Sie durch solche aus Drittstaaten mit weniger effizienter Produktion zu ersetzen, würde dem Klima schaden und dem Rest der Weltbevölkerung Nahrung entziehen.
 
Auch die Tatsache, dass in Österreich noch immer jeden Tag (!) durchschnittlich zwölf Hektar Boden verbaut und damit der Landwirtschaft entzogen werden, ist im Grunde nicht zu rechtfertigen.
 
Und schließlich brauchen wir endlich vollständige Offenheit gegenüber neuen Technologien. Digitale Werkzeuge, seien es ein Feldroboter fürs Unkrautjäten, satellitengesteuerte Spritzgeräte oder eine Handyapp für die lokale Schädlingsprognose, helfen heute bereits, Dünger und Pflanzenschutzmittel einzusparen und genauer zu dosieren. Auch die Gentechnik hat in vernünftigeren Ländern längst dazu beigetragen, den Pestizideinsatz zu reduzieren, Pflanzensorten resistenter und gesünder zu machen. In Europa kämpft sie noch immer um Akzeptanz – weil wir selbsternannten Experten mehr vertrauen als der Wissenschaft.

Landverstand, das Buch von Timo Küntzle ist bei Kremayr und Scheriau erschienen.

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Conclusio

Um bald zehn Milliarden Menschen ernähren zu können, müssen alle Chancen der modernen Landwirtschaft genutzt werden: Zu diesen Chancen gehören die Digitalisierung, aber auch Kunstdünger und Pestizide. Das große Problem der Landwirtschaft ist nicht, dass sie zu wenig natürlich ist, sondern die Flächen, die sie beansprucht. Die Umwandlung von Natur in landwirtschaftliche Nutzflächen verursacht große Treibhausgasemissionen. Aufgrund des Flächenbedarfs ist biologische Landwirtschaft keine Lösung.