Tourismus: Geht es ohne die Massen?

Niemand hält Massentourismus aus, niemand will ihn, nicht einmal die Touristen. Gebraucht wird er trotzdem. Kann man den Massentourismus personalisieren?

Touristen in Massen: Foto einer Straßenszene mit einer Familie im Urlaub, die an einem Haus ein Grafitti "Tourist go Home" liest.
Auch im Juli 2022 ist der (Massen-) Tourismus noch ein Problem für Barcelona. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Enormer Nachholbedarf. Die Reiselust der Menschen ist zurück. Viele suchen im Urlaub nun den Ausgleich für die Einschränkungen der Pandemie.
  • Unerwünschte Massen. Städte wie Barcelona, Venedig, Dubrovnik oder Amsterdam schränken den Massentourismus gezielt ein.
  • Double Bind. Für einige Regionen auf der Welt ist der (Massen-)Tourismus der größte Wirtschaftsfaktor und kann nicht einfach substituiert werden.
  • Steuerungsinstrumente. Digitalisierung soll helfen, Tourismus zu regulieren. Denn auch in Zukunft wird Europa eine Destination für den Massentourismus sein.

Das bisherige Rekordjahr im internationalen Tourismus war 2019: weltweit suchten 1,5 Milliarden Urlauber ihr Reiseziel auf – ein Jahr später, in der Pandemie, sank diese Zahl um gleich 74 Prozent. Einst quirlige Tourismusorte waren plötzlich menschenleer, Flughäfen und Hotel-Lounges glichen militärischen Sperrgebieten, durch die ein apokalyptischer Hauch wehte. Closed Shop.

Seit rund einem Jahr erholt sich der Tourismus langsam wieder – vorerst innerhalb der europäischen Grenzen und vor allem in Gunstlagen (Seen, Küstennähe etc.). Der internationale Städte-Tourismus (zum Beispiel Wien) hängt jedoch weiterhin schwer angeschlagen in den Seilen.

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Zahlen & Fakten

Bis die traditionell so begehrten asiatischen, vor allem chinesischen, Gäste wieder nach Europa kommen, dürfte es aufgrund der Zero-Covid-Politik der chinesischen Regierung wohl noch Jahre dauern. Wenn denn nicht eine neue (gefährlichere) Mutante des Virus auftaucht oder die Geopolitik infolge des Ukraine-Kriegs verrückt spielt und den ganzen Kontinent in eine kriegerische Auseinandersetzung zieht.

Auf zum entgangenen Glück

Ja, der Tourismus, der vor der Pandemie noch für rund ein Zehntel der globalen Wirtschaftsleistung gesorgt hatte, ist im Krisenmodus. Vor allem auch in Österreich: es kommen zwar wieder die (europäischen) Gäste, aber dafür fehlen die Mitarbeiter. In den zwei Jahren der pandemischen Krise spürten viele junge touristische Mitarbeiter intensiver als je zuvor ihren Bedürfnissen nach und gingen dem nach, was ihnen wirklich wichtig ist: ein Job im Tourismus gehörte offenbar nicht dazu. Derzeit fehlen den österreichischen Tourismus-Betrieben geschätzte 35.000 Mitarbeiter.

Allein schon pandemiebedingt haben die Menschen einen gewaltigen Nachholbedarf: In den reichen Industrieländern wurde zuletzt von der breiten Mittelschicht viel Geld angespart (man konnte es ja nur schwerlich ausgeben), all diese „Revenge Traveller“ wollen nun ihr offenbar angestammtes Recht auf Reisen und dabei erworbene Glücksgefühle wahrnehmen. Daran wird auch die aktuell hohe Inflation nicht viel ändern. Urlaub ist motivpsychologisch immer auch „wiedergegebene Zeit“ (Valentin Groebner) – man holt sich das zurück, was einem der Alltag vorenthält. Beim Urlaub spart man zuletzt.

Navigation für Touristen

Die massentouristische Wanderbewegung auf diesem Globus ist generell vorprogrammiert: dafür sorgen eine weltweit wachsende Mittelschicht und ein immer dichteres internationales Streckennetz der Airlines (das nur kurz durch die Pandemie ausgedünnt wurde), dafür sorgen aber auch durch die sozialen Netze millionenfach erzeugte Sehnsuchtsbilder vom besseren Leben in der Ferne. Raus aus den Großstädten und Mega-Cities, hinein in die „unberührte“ Natur. Diese ist in Form von menschenleeren „Traumstränden“ oder verwunschenen Regenwäldern der Sehnsuchtsraum, die eskapistische heile Welt vor allem der Städter.

Die Lust auf exotische „Geheimtipps“, auf Distinktions-Erlebnisse in der Ferne wird allerorten kultiviert. Es geht dabei um eine Steigerung der „Lebensintensität” (Tristan Garcia), ein klassisches Urlaubs-Versprechen der Erlebnisökonomie. Diese Steigerungslogik ist eng an eine erhöhte Reise-Intensität gekoppelt. Langfristig wird sich diese vor allem auf den Flugachsen zwischen Asien und Europa auswirken und permanent Massen produzieren – China bleibt postpandemisch die Incoming-Nation Nummer 1 für die Welt.

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Zahlen & Fakten

Nicht wenige Tourismus-Kritiker frohlockten während der Lockdowns über die „Renaturierung“ bis dahin überlaufener Landstriche und erfreuten sich an den CO2-Dashboards, denen zufolge die Treibhausgas-Emissionen 2020 in Österreich um 7,7 Prozent im Vergleich zu 2019 zurückgegangen sind. Siehst du, es geht auch ohne. Nein, so ganz ohne Massentourismus geht es nicht. Zumindest nicht in jenen Teilen der Welt, in denen der Tourismus quasi eine Monokultur darstellt und oft bis zu einem Drittel und mehr zum Bruttoregionalprodukt beisteuert.

Aber dieser Tourismus muss in Zukunft, darin sind sich selbst Hardcore-Touristiker einig, anders und intelligenter gesteuert werden. Mit ausgefeilten Daten-Strategien (künstliche Intelligenz, Open Data, Customer Data Plattformen etc.) kann und muss der Massentourismus personalisiert und kleinteiliger gemacht werden. Mit vorausschauenden algorithmischen Tools können Besucher besser durch Hochfrequenzorte navigieren und allfällige Massen beziehungsweise Warteschlangen umgehen sowie an andere Orte ausweichen.

Foto von vielen Menschen, die in Yucatán, Mexiko, in einem der Höhlenseen schwimmen.
Die „Dos Oyos“ in Yucatán, Mexiko: Die touristischen Massen sind ein Problem für die Ökologie des Höhlensystems. © Getty Images

Die Schäden des Massentourismus

Der „Overtourism“ war vor der Pandemie ein virulentes Problem – in einer weltweiten Umfrage sprachen immerhin 25 Prozent aller internationalen Touristen davon, dass sie ihr Reiseziel als „überlaufen“ empfanden. Der „Overtourism“ war mitten in der Pandemie partiell und temporär ein virulentes Problem – etwa im Sommer an den Ostseestränden oder im Winter in „entlegenen“ Berggebieten in den Alpen (aus Distancing-Gründen suchten sich Menschen etwa für Skitouren abseits gelegene Berghänge, die sie wiederum mit hunderten anderen Solisten teilen mussten – Instagram-Fotos dieser eskapistischen Karawanen lassen grüßen).

Städte-Destinationen wie Venedig, Dubrovnik und Co. sind längst so etwas wie Living Museums geworden.

Der Overtourismus wird aber auch nach der überstandenen Pandemie wieder – weltweit – ein virulentes Problem sein. Ob in Thailand oder auf Mallorca, ob in Mexiko oder in Tirol – Tourismus ist und bleibt eine Massenveranstaltung. Selbst entlegenste Gletscherspalten auf Island wurden durch geschicktes Marketing zu Instagram-Hotspots, die umliegenden Orte kämpfen seitdem mit massiven ökologischen und sozialen Kollateralschäden. Ganz zu schweigen von den Städte-Destinationen Venedig, Dubrovnik und Co., die längst so etwas wie Living Museums geworden sind.

Die Liste der massentouristischen Passions-Orte ist lang, man denke nur an das kleine heimische Hallstatt: vor der Pandemie drängelten sich da bis zu 10.000 Besucher durch den 800-Seelen-Ort. Allesamt Tagesausflügler, die ohnehin kaum Wertschöpfung hinterlassen – das haben inzwischen selbst Lokalpolitiker erkannt und einen strategischen Schwenk vollzogen.

Das Stadttor von Dubronvik in Kroatien mit Touristen und einer Absperrung in der Mitte.
Dubrovnik in Kroatien sah sich zur Kulisse von „Game of Thrones“ degradiert. Seit der Saison 2019 gibt es eine Obergrenze für die Touristenzahlen: 5.000 maximal an einem Tag. © Getty Images

In fast all den massentouristisch geplagten Orten dieser Welt versucht man nunmehr mit Limitierungen des Problems Herr zu werden. Da wurden Mautgebühren für Tagesgäste (etwa City-Maut in Venedig) erlassen, dort die Besucherzeiten limitiert (zum Beispiel in Machu Picchu im Sommer auf nur drei Stunden pro Besucher) oder die Übernachtungen (Amsterdam hat sich als erste Destination weltweit eine gesetzlich verankerte Obergrenze von 12 Millionen – statt bislang knapp 22 Millionen – Übernachtungen verordnet). In Dubrovnik dürfen nur noch zwei Kreuzfahrtschiffe pro Tag anlegen, früher waren es bis zu zehn.

Exklusivität für die Massen

Begrenzung, Entzerrung (etwa der Saisonen), Steuerung über den Preis und Verbote (vor allem von AirBnB in Städten) – das sind die bisherigen (meist defensiven) Strategien der Tourismuspolitik. Die Zeit des unbegrenzten Reisens (anytime, anywhere) ist vorbei. Eine der großen demokratischen Errungenschaften – Reisefreiheit als quasi erworbenes Menschenrecht – wird eingegrenzt. Masse ist gaga. Wir wollen weniger Gäste aber mehr Wertschöpfung, sagt der Lokalpolitiker. Vor allem jener in Europa.

Europa, diesem alternden Kontinent, bleibt künftig nur eines: touristische Destination zu sein. Für die Masse.

Denn nirgendwo ist der Paradigmenwechsel hin zu einem nachhaltigen, regenerativen Tourismus der Zukunft mit kleinteiligen familiären Betriebsstrukturen so manifest wie auf dem alten Kontinent.

Es setzt sich, sehr langsam, eine holistische Betrachtungsweise durch, man versucht wieder eine Balance zwischen Bewohnern, Touristen und Mitarbeitern herzustellen, neue „Lebensraum“-Strategien (ein Lieblingswort der Touristiker) sollen ein besseres Miteinander und die Erreichung nachhaltiger Ziele ermöglichen. Gerade weil allen klar ist, dass diesem alternden Kontinent künftig ohnehin nur eines bleibt: touristische Destination zu sein für die kaufkräftigen asiatischen Touristen. Für die Masse.

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Conclusio

Tourismus in seiner heutigen Form ist Fluch und Segen zugleich. Einerseits ist die Reiselust ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, andererseits sorgt der Besucheransturm für CO2-Belastungen, Umweltprobleme und mindert die Lebensqualität der Einheimischen. Während der Massentourismus auch in Zukunft wirtschaftlich bedeutsam bleibt, muss zugleich Übertourismus vermieden werden. Es ist ein Balanceakt, der nur durch ausgeklügelte Lenkungsmaßnahmen gelingen kann. Europa hat hier im Vergleich zu Kontinenten wie Südamerika oder Asien Vorteile, doch der Ausgleich der Interessen zwischen Umweltschutz, Touristen und Bewohnern wird immer herausfordernder werden.