TikTok an den Schulen: Medienkompetenz als Selbstverteidigung

TikTok prägt, wie Jugendliche denken, fühlen und lernen. Schulen stehen vor der Aufgabe, Medienkompetenz als Selbstverteidigung im digitalen Zeitalter zu vermitteln.

Symbolbild Medienkompetenz: Ein Smartphone, in dem ein Schatten steht.
Was Kinder über die Welt wissen, wissen sie in vielen Fällen nur noch von TikTok. © Roland Vorlaufer
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Auf den Punkt gebracht

  • Suchtprinzip. TikTok nutzt ein Belohnungssystem, das Aufmerksamkeit bindet und Verhalten prägt.
    Individualisierung. Jeder Nutzer bekommt, was ihn fesselt – unabhängig von Freunden oder Followern.
    Selbstverteidigung. Medienkompetenz ist kein Extra, sondern Schutz vor manipulativen Systemen.
    Bildungsauftrag. Schulen müssen Räume schaffen, in denen digitale Mechanismen reflektiert werden.

Der Sachbuch-Bestseller Hooked von Nir Eyal hat die Debatte rund um soziale Medien und digitale Gewohnheiten maßgeblich geprägt: Eyal zeigte darin erstmals eindrucksvoll, wie einfache digitale Funktionen unsere Aufmerksamkeit fesseln, Routinen entstehen lassen und Apps zu festen Begleitern unseres Alltags werden. Der deutsche Untertitel macht keinen Hehl aus der Zielsetzung für Unternehmen: „Wie Sie Produkte erschaffen, die süchtig machen.“ Das Buch wurde weltweit als praktisches und pointiertes Handbuch für Produktentwickler und Marketers gefeiert – und zugleich kontrovers diskutiert, da es die Mechanik hinter modernen digitalen „Gewohnheitsmaschinen“ entlarvt.

Heute zeigt kaum eine App so deutlich die Wirksamkeit von Eyals Modell wie TikTok: Der Kreislauf aus Auslöser, schneller Handlung, variablen Belohnungen und subtilen Investitionen ist dort bis ins letzte Detail perfektioniert. In der Konsequenz wuchs das Unternehmen rasant: Seit dem globalen Durchbruch 2018 kletterte die Nutzerzahl von 55 Millionen auf rund 1,59 bis 2 Milliarden monatlich aktive Nutzer im Jahr 2025 – allein seit 2020 ein Wachstum um über 93 Prozent.

Die Logik der Individualisierung

Der Erfolg von TikTok gründet sich auf einer fundamental anderen Logik als sie Netzwerke zuvor verfolgten. So ging es zuvor auch schon Facebook darum, die Nutzer auf der Plattform zu halten, aber eben über Netzwerkeffekte. In seinem schon 2016 erschienenen, viralen Blogbeitrag „How Technology is Hijacking Your Mind“ erklärt der US-amerikanische Technologie-Ethiker Tristan Harris, wie jeder, der ein Smartphone besitzt, eine Glücksspielmaschine in der Tasche hat. Einer seiner Punkte war: „Wir sind durch soziale Wertschätzung verwundbar“. Damit meint er: Wer damals auf Facebook sah, dass ein Freund ihn erwähnt, bleibt auf der Plattform.

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Zahlen & Fakten

TikTok funktioniert andersherum: Es ist egal, was deine Freunde machen. Es ist egal, wie viele Follower du hast. Jeder bekommt, was er scheinbar möchte. Das hat zwei Effekte: Für die Endnutzer heißt das, dass der Sog um ein Vielfaches stärker wird. Denn es ist egal, ob man sich fürs Angeln, Schwarz-Weiß-Interviews von Michel Foucault oder lateinamerikanische Tänze interessiert – alles wird innerhalb von Sekunden ans Gehirn angedockt. Und Jugendliche wie Erwachsene berichten vom Doomscrolling und Brainrot. Dabei meint das Erste, dass man stundenlang durch die App scrollt, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht.

Und das Andere den daraufhin schlechter werdenden geistigen Zustand. Ob und inwiefern die sozialen Medien und damit auch TikTok für die „Mental-Health-Krise“ verantwortlich ist, wie es der amerikanische Bestsellerautor Jonathan Haidt in seinem Buch „Generation Angst“ behauptet, ist wissenschaftlich umstritten. Dass sie einen Anteil haben, ist aber unbestritten. Das ist auch keine Überraschung, denn vor allem Jugendliche wachsen in einer Welt auf, in der die Suchtmaschinen scheinbar normal sind.

Medienkompetenz ist Selbstverteidigung

Wenn wir darüber sprechen, dass TikTok die Lebenswelt der Jugendlichen prägt, dann ist das keine Banalität. Man könnte das bekannte Diktum des Systemtheoretikers Niklas Luhmann entsprechend abwandeln: „Was [die Jugendlichen] über unsere Welt, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen [sie] durch [TikTok].“ Es ist auf die Spitze getrieben, sicher. Aber wenn nach der letzten JIM-Studie deutlich wird, dass Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren durchschnittlich mehr als 3 Stunden am Tag online sind und über eineinhalb Stunden auf den Sozialen Medien, dann sind wir nicht weit davon entfernt, dies so stehenzulassen.

Weil dies alles so ist, ist der Ruf nach Medienkompetenz laut. Im deutschen Baden-Württemberg gibt es sogar ein neues Schulfach. Das ist begrüßenswert, auch wenn es darauf ankommt, was genau das bedeutet. Denn es muss eine Trivialität benannt werden: Alles, was Lehrkräfte und Eltern in Bezug auf Medienkompetenz tun, ist Selbstverteidigung gegen einen übermenschlichen Gegner, der sich aus der Verantwortung flüchtet. Dass die Aufmerksamkeit von (jungen) Menschen überhaupt erst zum Geschäftsmodell werden konnte und die Plattformen so groß sind, dass ihnen politisch und rechtlich nicht beizukommen ist, ist der eigentliche Skandal, an den sich nur alle gewöhnt haben.

Europa begegnet den Herausforderungen durch soziale Medien mit einer zunehmend strikten Regulierung, vor allem durch die Einführung des Digital Services Act (DSA), der aber bisher vor allem als zahnloser Papiertiger auftritt. Das kann dennoch nicht bedeuten, sich zu fügen. Für alle, die mit jungen Menschen arbeiten, bedeutet das: Medienkompetenz fördern, also Hilfe zur Selbstverteidigung leisten.

Konkrete Maßnahmen für Medienkompetenz

Wenn es darum geht, was Medienkompetenz bedeutet, erhält man die unterschiedlichsten Antworten. Das ist ein Problem, denn mit 10-Finger-System, Excel und der Herstellung von Podcasts (alles unbenommen relevant), kommt man den Manipulationsmaschinen nicht bei. Das Zauberwort ist: reflektierte Nutzung. Um die abstrakten Mechanismen sichtbar zu machen, habe ich mit 15- und 16-jährigen Schülern ein TikTok-Experiment durchgeführt. In Kleingruppen übernahmen die Schüler Rollen und „fütterten“ den Algorithmus – als 60-jährige Traktorfahrer, junge Rap-Interessierte oder Kleingärtner mit Vorliebe für Volksmusik. Schon nach wenigen Likes änderten sich die Feeds dramatisch: von harmlosen Hobbys zu radikalen politischen Inhalten.

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Zahlen & Fakten

Die gemeinsame Reflexion führte zur Erkenntnis: Algorithmen sind nicht neutral. Sie beeinflussen, wie wir die Welt wahrnehmen – und wie wir über Politik, Gesellschaft und uns selbst nachdenken. Eine solche Reflexion ergibt sich nicht von selbst, weil wir die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken müssen. Dass wir dies indes tun müssen, ist mehr als deutlich.

Hass, Wut und Vandalismus

Die Dringlichkeit der Auseinandersetzung zeigt sich schon an gefährlichen „Challenges“, die Kinder und Jugendliche ins Krankenhaus bringen oder mutwilligen Vandalismen an Schulen. Hinzu kommt die psychische Belastung: Jedes fünfte Kind leidet unter Einsamkeit oder Ausgrenzung, jedes dritte sieht belastende Inhalte. Verbote von Smartphones – wie in Australien – erscheinen vielen als Lösung. Und in der Tat: Wir müssen darüber sprechen. Die wichtige Frage ist allerdings, was bis dahin unternommen wird. Was fehlt, ist ein reflektierter, pädagogisch begleiteter Umgang.

Um Schulen handlungsfähig zu machen, braucht es politische Entscheidungen:

  1. Verbindliche Medienbildung ab der Grundschule. Kinder müssen früh lernen, wie Algorithmen funktionieren und wie sie unsere Wahrnehmung prägen.
  2. Pflichtmodule in Lehrerbildung und -fortbildung. Lehrkräfte sollten Plattformen wie TikTok zeitweise selbst nutzen, um ihre Mechanismen zu verstehen und reflektieren zu können.
  3. Schulen als Orte digitaler Kultur. Neben Verboten in Phasen des sozialen Miteinanders (zum Beispiel Pausen), brauchen wir Räume, in denen Jugendliche Erfahrungen kritisch reflektieren.

Das alles schreibt sich leichter, als es ist, denn die strukturierte Einführung, die Koordinierung und die rechtliche Absicherung sind gerade in Mehrebenensystemen wie dem Bildungssystem nicht trivial. Dass mit der KI ein Katalysator die Situation verschärft, während alltagspolitische Dringlichkeit nachhaltig wirkende Maßnahmen an die Seite drängen, wird ein Licht auf die prekäre Lage, in der wir uns befinden. Dennoch müssen wir weiter daran arbeiten, vom unsichtbaren Haken loszukommen, an dem wir uns seit der Erfindung der sozialen Medien befinden.

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Conclusio

Status quo. Soziale Medien manipulieren unsere Gehirne. TikTok prägt Weltbilder und Verhalten – oft unbemerkt.

Potenzial. Experimente im Unterricht zeigen, dass Jugendliche in der Lage sind, die Logik der Plattform kritisch zu durchschauen.

Zukunft. Medienbildung ist kein Zusatz, sondern demokratische Notwendigkeit. Nur wenn Schulen Algorithmen sichtbar machen, können junge Menschen selbstbestimmt handeln.

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