Was uns im Metaverse erwartet

Große Techunternehmen versprechen, dass das Metaverse unsere Leben auf den Kopf stellen wird. Aber stimmt das? Und wenn ja, wollen wir das überhaupt?

Japan, 2017: Ein Mann heiratet seinen Lieblings-Anime-Charakter in einer Kapelle in Tokio.
Japan, 2017: Ein Mann heiratet seinen Lieblings-Anime-Charakter in einer Kapelle in Tokio. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Rätsel Metaverse. Was das Metaverse genau sein wird, das weiß heute noch niemand – nur, dass es eine große technologische Revolution wird.
  • Alternatives Leben. Im Extremfall wird es möglich sein, nahezu sein gesamtes Leben im Metaverse zu verbringen und den Alltag zu verlagern.
  • Alles virtuell. Virtuelle Dinge waren immer schon bedeutsam für uns Menschen – von Gott bis hin zu Literatur oder dem Wert von Geld.
  • Mehr Gleiches. Das Metaverse wird eine Ergänzung dieses bestehenden virtuellen Trends sein, aber keine fundamentale Neuerung.

Jede neue Technologie – und vor allem eine völlig neue technologische Plattform – wirft die Frage auf, ob sich letzten Endes mehr, weniger oder gar nichts ändern wird. Das „Metaverse“ (die Anführungszeichen sind notwendig, weil es auch andere Namen gibt, die von verschiedenen Interessen getragen werden: Omniversum, Second Life und so weiter) wird als eine solche revolutionäre „Plattform“ beworben. Steht uns also etwas bevor, das unser Leben radikal zum Besseren oder zum Schlechteren verändern wird; oder handelt es sich einfach nur um alten Wein in neuen Schläuchen?

Mehr Innovationsthemen

Zunächst einmal: Eine kurze Beschreibung dessen, was das „Metaverse“ umfasst – wobei ich von Anfang an einräume, dass niemand genau vorhersagen kann, wie sich eine so große Technologie entwickeln wird. In unserem Fall trifft dies aus zwei Gründen besonders zu. Erstens haben mehrere große Unternehmen (Facebook, Invidia, Microsoft und andere) unterschiedliche Vorstellungen über das Wesen des Metaverse – und jedes wird versuchen, es in seine eigene „visionäre“ Richtung zu bringen. Zweitens werden, ähnlich wie beim Internet 2.0 (das Metaverse wird auch als Internet 3.0 bezeichnet), die Haupttreiber seiner Entwicklung die Milliarden von Nutzern sein, mehr noch als die Entwickler der Unternehmen.

Ein ganzes Leben im Metaverse?

Das „Metaverse“ wird eine virtuelle Welt sein, in der fast alle menschlichen Aktivitäten in dreidimensionaler, virtueller, das heißt nicht-physischer Weise stattfinden können. Mit dem richtigen Equipment (das meiste davon existiert bereits, wenn teilweise auch noch in den Kinderschuhen) werden wir in der Lage sein, die „Aktivitäten“ zu sehen, zu hören und zu fühlen, als ob wir physisch „dort“ wären (Geruch und Geschmack werden wahrscheinlich in fernerer Zukunft ebenfalls hinzukommen). Darüber hinaus wird das „Metaverse“, wie heutige Computerspiele, Aktivitäten ermöglichen, die wir in der realen Welt nicht durchführen können (zum Beispiel Fliegen oder Teleportation).

Junge japanische Männer sind bereits dazu übergegangen, einen Avatar, in den sie sich verliebt haben, zu „heiraten“.

Erreicht wird dies durch die Kontrolle und Manipulation persönlicher Avatare, die entweder genauso aussehen und sich genauso verhalten wie jeder von uns, oder aber ganz anders sind (erfunden werden). Im letzteren Fall können Menschen, die dies wünschen, durch sie ein „alternatives Leben“ führen – und im Extremfall ihr gesamtes Leben im „Metaverse“ leben (abgesehen von grundlegenden Körperfunktionen wie Essen und Beseitigung von Körperabfällen).

Schon an dieser Stelle kommen wir zu einem „Problem“: Was für den einen positiv klingt, kann für den anderen furchterregend sein. Wir brauchen nicht auf die Zukunft zu warten, um das zu erkennen. Junge japanische Männer sind bereits dazu übergegangen, einen Avatar, in den sie sich verliebt haben, zu „heiraten“ (mit einer offiziellen Zeremonie!). (Der Film „Her“ von 2013 mit Scarlett Johansson und Joaquin Phoenix in den Hauptrollen hat dies vorweggenommen).

Anime-Fan beim Kuss seiner VR-Braut, Tokio 2017
Auch bei der VR-Zeremonie gibt es einen Brautkuss. Durchgeführt wird er aber mit Marshmallows. © Getty Images

Man kann sich vorstellen, dass manche Menschen mit Abscheu und Fassungslosigkeit auf etwas reagieren, das gegen alle Normen der „menschlichen Natur“ verstößt. Andere dagegen werden mit den Schultern zucken und sagen: „Warum nicht, wenn es diese japanischen Individuen glücklich macht?“ Ob eine Technologie gut oder schlecht ist, liegt im Auge des Betrachters, wie alles andere im Leben auch.

Alles ist virtuell

Die vielleicht bessere Frage ist aber eine andere: Wird das „Metaverse“ interessant sein? Oder anders gefragt: Kann die Virtualität dem menschlichen Leben ein wichtiges Element hinzufügen? Die paradoxe Antwort ist ein entschiedenes „Ja“. Paradox deshalb, weil sie nichts mit dem Metaverse zu tun hat: Der Mensch bereichert sein Leben seit jeher durch Virtualität.

Second-Hand-Buchgeschäft in Berlin, 2019
Wer liest, bewegt sich in virtuellen Welten – auch, wenn sie sich real anfühlen oder reale Ergebnisse widerspiegeln. Auch Wörter sind nicht real: Sie sind arbiträre Lautzuweisungen an reale Objekte. © Getty Images

Mein kürzlich erschienenes Buch Virtuality and Humanity (Virtualität und Menschlichkeit) gibt einen Überblick über die vielen Bereiche menschlichen Strebens, in denen wir in virtuelle Aktivitäten verwickelt sind: Religion („Gott“ ist unsichtbar und unkörperlich); Literatur (fiktive Charaktere sind nicht „real“); Wirtschaft (Papierwährung, Kreditkarten, Bitcoin und so weiter sind allesamt virtuelle Stellvertreter für Dinge, die einen realen Wert haben; auch Unternehmen sind fiktive Gebilde); Kunst und Handwerk (nicht realistische Repräsentationen der realen Welt); Physik (dunkle Materie, dunkle Energie, Stringtheorie, Quantenverschränkung sind entweder unsichtbar oder unerklärlich); Politik (der Nationalstaat ist lediglich eine imaginäre Gemeinschaft); Medien (der Niedergang der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht; die Digitaltechnik eliminiert ursprüngliche Schall- oder Lichtwellen); sogar Kriegsführung (Cyberwar als Hauptangriffsform) und so weiter.

Die Bedeutung des Virtuellen

Warum sind virtuelle Dinge für uns so bedeutsam? Die Antwort liegt in zwei Bereichen: 1) physisch-psychologisch; 2) funktionell.

1) Die menschliche Wahrnehmung ist höchst unvollkommen, da wir die meisten Reize, die uns umgeben, weder sehen noch hören können (Infrarot, Gammastrahlen, sehr hohe und sehr tiefe Töne und so weiter). Auch die menschliche Kognition ist unvollkommen. Diese Schwächen bedeuten, dass wir in einer Welt leben, die ganz anders ist als das, was wir wahrnehmen und denken, ergo: Unsere Welt ist weitgehend virtuell (Platons Höhle hatte es genau richtig).

2) Wir haben Bedürfnisse und Triebe: der Langeweile entfliehen, Neugierde, Geselligkeit, Zukunftsplanung, Bewältigung existenzieller Ängste. Leider können die meisten dieser Bedürfnisse in unserer physischen Welt nicht angemessen befriedigt werden, so dass wir uns virtuellen Konstrukten zuwenden, die wir selbst erschaffen haben (ein Beispiel von vielen: Unsere Angst vor dem Tod und dem fehlenden Sinn des Lebens führt zum Glauben an Gott und die „nächste Welt“).

Das „Metaverse“ wird also mehr vom Gleichen sein. Mit anderen Worten: Wenn wir die Virtualität im Laufe der Jahrtausende in fast allen Lebensbereichen ausgeweitet haben, wird diese jüngste virtuelle Ergänzung eine Fortsetzung dieses (kulturellen) evolutionären Trends sein. Das bedeutet nicht, dass sie unser Leben nicht bereichern wird. Wie bei allen früheren virtuellen Innovationen wird das Metaverse dem bereits beeindruckenden virtuellen Bauwerk der Menschheit sicherlich einige weitere Steine hinzufügen. Aber das ist eine Frage der zusätzlichen Quantität und nicht unbedingt des qualitativen Unterschieds.

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Zahlen & Fakten

Schloss Windsor, Mai 2023: Der Herzog von Edinburgh testet bei der Royal Windsor Horse Show einen VR-Reitsimulator.
Schloss Windsor, Mai 2023: Der Herzog von Edinburgh, Prinz Edward, testet bei der Royal Windsor Horse Show einen VR-Reitsimulator. © Getty Images

Die neuen Funktionen des Metaverse

Was könnten zusätzliche virtuelle „Metaverse-Bausteine“ beinhalten? Die folgende Liste von Möglichkeiten ist bei weitem nicht vollständig:

  • Tourismus: Besichtigung der Welt in hyperrealistischer Weise ohne reale Reisen.
  • Wirtschaft: Bauen aller Arten von virtuellen Objekten, Kauf von virtuellen Produkten.
  • Bildung: Unterricht durch Virtual-Reality-Simulationen, zum Beispiel wie die Schlacht von Waterloo wirklich klang und ausgesehen hat.
  • Sex: Zwei Avatare beim Geschlechtsverkehr, die jeweils haptische und sensorische Stimulationen für die realen Personen bieten, die die Handlung steuern.
  • Gesundheit: Ärzte/Avatare, die Operationen an perfekt duplizierten Patienten/Avataren durchführen, die gleichzeitig diese Bewegungen kopieren, um den echten Patienten aus der Ferne zu operieren.
  • Regierung: Bereitstellung von Dienstleistungen; virtuelle Bürgerversammlungen und gesetzgeberische Aktivitäten.
  • Kultur: 3D-Museumsbesuche; Kunst im Metaverse.
  • Sport: Spielwettbewerbe, zum Beispiel Euroleague-Fußball, NBA-Basketball.

So langweilig wie Elektrizität

Die Liste der menschlichen Aktivitäten, die (zumindest teilweise) in das „Metaverse“ verlagert werden, lässt sich beliebig fortsetzen. Aber wenn jede dieser Aktivitäten bereits in irgendeiner Form in unserem Leben vorhanden ist, was, wenn überhaupt, wird das „Metaverse“ dann beitragen? Der wahre Mehrwert ist die nahtlose Zusammenführung. In unserem physischen „realen Leben“ müssen wir nicht zwischen Essen, Spielen, Lernen, Kreativität und Geselligkeit wechseln.

Der Hauptbeitrag des „Metaverse“ ist die Effizienz, mit der wir unseren zahlreichen virtuellen Aktivitäten nachgehen können.

Die heutigen virtuellen Welten hingegen befinden sich meist auf verschiedenen „Plattformen“, so dass wir nicht nahtlos von einer Form der Aktivität zur anderen übergehen können. Das „Metaverse“ verspricht, alle virtuellen Aktivitäten an einem „Ort“ zusammenzufassen – ähnlich wie die zahlreichen, ganz unterschiedlichen Funktionen, die wir heute im „Internet“ ausführen können. Kurz gesagt, der Hauptbeitrag des „Metaverse“ ist die Effizienz, die es uns ermöglicht, auf unsere zahlreichen virtuellen Aktivitäten leichter zuzugreifen und ihnen nachzugehen.

Ist das langweilig? Ziemlich, aber auf die gleiche Weise, wie „Elektrizität“ langweilig ist. An und für sich wird das Metaverse keine große Neuheit bieten, aber es wird sicherlich unser virtuelles Leben, das eine wichtige Erweiterung unseres physischen Lebens ist, produktiver machen. Langweilig kann sehr bedeutsam, ja sogar essentiell sein, um das weiterzuentwickeln, was uns vom Rest des Tierreichs unterscheidet: die Virtualität, die auf der Realität aufbaut.

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Conclusio

Das Metaverse hat das Potential, unser Leben zu bereichern und produktiver zu machen. Aber die Frage, ob wir in einer virtuellen Welt leben wollen, ist die falsche: Weite Teile unseres Lebens sind und waren immer schon virtuell – bis hin zu Gott. Die Fähigkeit zur und der Umgang mit Virtualität ist es, was uns vom Rest des Tierreichs unterscheidet; das Metaverse wird den Zugriff auf diese bereits bestehende Virtualität leichter und bequemer machen, aber es ist keineswegs eine Revolution.

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