Metaverse: Schöne neue Welt?

Verreisen im Cyberspace? Freunde nur noch online treffen? Das Metaverse verspricht eine neue Welt, die sich fast so anfühlt wie die richtige, nur perfekter. Bis zur Perfektion ist es aber noch ein weiter Weg.

Illustration eines Eingangstors zum Metaverse
Es braucht nicht zwingend eine VR-Brille, um sich ins Metaverse zu begeben. Manchmal reichen auch schon Krypto-Tokens. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Countdown. Die Parallelexistenz in einer virtuellen Welt klingt momentan nach einer fernen Utopie, könnte aber schon bald Realität sein.
  • Vorreiter. Bereits jetzt gibt es Plattformen, in denen Aspekte des Alltags in den Cyberspace verlagert werden können: von Konzerten bis zu Shoppingtrips.
  • Skepsis. Der bekannteste Befürworter des Metaverse, Mark Zuckerberg, wurde für seine Ambitionen zunächst eher belächelt: Er machte 2021-2022 Milliardenverluste.
  • Nebenwirkungen. Bereits jetzt ist Vorsicht geboten: Das Metaverse könnte sich zu einer gefährlicheren Brutstätte für Hass und Hetze entwickeln als soziale Netzwerke.

„Stellen Sie sich vor“, sagte Michael Gord der „New York Times“, „Sie wären nach New York gekommen, als es noch Farmland war; und Sie hätten die Chance gehabt, ein Grundstück dort zu kaufen, wo heute SoHo ist.“ Es wäre mittlerweile unbezahlbar. Das neue New York, hofft Gord, ist das sagenumwobene Meta­verse. Deshalb ist er ein virtueller Immobilienmakler und versucht, im Metaverse so viel Land aufzukaufen wie möglich, um damit reich zu werden.

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Klingt gewagt? Ziemlich sogar, meint Mark Cuban, Milliardär, Investor und Besitzer des Basketball-Teams Dallas Mavericks. Er hält es für „den größten Schwachsinn aller Zeiten“, virtuelles Land zu kaufen. Und er hat ein gutes Argument dafür: Man kann immer mehr davon programmieren. Eine virtuelle Landknappheit wird es nicht geben, und auf ein Hochhaus zwanzig neue Stockwerke zu bauen braucht nur ein paar Zeilen Code.

Den Propheten des gelobten, virtuellen Landes ist längst klar, was wir alle dort tun werden: Freunde treffen, Meetings abhalten, Datenspuren hinterlassen, auf Konzerte gehen, einkaufen, Sex haben. Und tatsächlich: Der kanadische Popstar Justin Bieber hat sein erstes Konzert im Metaverse längst gegeben, seine Kollegin Ariana Grande auch. Die Modekonzerne Gucci und Nike haben Schuhe ­designt, die es nur virtuell zu kaufen und zu tragen gibt. Und Anfang 2022 zahlte ein unbekannter Investor 450.000 Dollar für ein Stück virtuelles Land, um wenigstens im Cyberspace Nachbar des dort längst residierenden Rappers Snoop Dogg zu werden.

Screenshot von Snoop Doggs Villa in Sandbox
Snoop Doggs Sandbox-Villa: Der Rapper besitzt auch eine eigene Sandbox-Kollektion an Gegenständen, die von anderen Usern mittels Ethereum Blockchain erworben werden können. Darunter: eine Marijuanapflanze und ein „Power Joint“. © Getty Images

Oszillation im Virtuellen

Ob sich solche Investments jemals auszahlen, ist ungewiss. Im virtuellen Raum oszilliert die Stimmung seit jeher zwischen Goldrausch und Katzenjammer. Aktuell scheint die Euphorie verpufft: Mark Zuckerberg, Chef des Facbook-Konzerns Meta und noch vor kurzem einer der lautesten Proponenten virtueller Welten, hat jüngst angekündigt, vor allem in künstliche Intelligenzen investieren zu wollen. Ende März entließ der Unterhaltungskonzern Disney jene 50 Mitarbeiter, die mit der Entwicklung von Metaverse-kompatiblen Geschichten beschäftigt waren. Und in „Decentraland“, einem der vielen virtuellen Universen, verfiel nach Angaben des „Wall Street Journal“ der Preis für einen digitalen Quadratmeter von 45 Dollar pro Quadratmeter auf 5 Dollar.

Wie schnell die Stimmung aber auch zu Gunsten des Metaverse drehen kann, zeigt die Geschichte eines weiteren Konzernlenkers, Tim Cook. Der Chef des Computergiganten Apple hatte sich 2015 über nerdige Datenbrillen mokiert, die damals vom Datenkonzern Google entwickelt worden waren. Mittlerweile arbeitet Cooks Konzern selbst an einem solchen Headset; gerüchteweise wird der Chef persönlich schon Anfang Juni einen Prototyp präsentieren. Das Ding soll aussehen wie eine Skibrille.

Vielfalt der Visionen

Wird das Gadget den notwendigen Schub bringen? Kommt, dank Apple, „das Metaverse“ also doch noch? Wahrscheinlich ist das die falsche Frage. Richtiger wäre es, zu untersuchen, welche Spielarten dieser virtuellen Realitäten sich als nützlich oder auch nur unterhaltsam für die Anwender entpuppen. Schon jetzt sind Vielfalt und Ansätze dieser Welten verwirrend. Für manche ist das Metaverse eine komplette virtuelle Welt, in die sich unser gesamtes Leben zunehmend verlagern wird. Andere bieten eine bloße Erweiterung der realen Welt – etwa Richtungshinweise, die dem Nutzer direkt auf eine smarte Kontaktlinse am Auge eingeblendet werden, als Ergänzung der echten Umwelt.

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Zahlen & Fakten

Illustration verschiedener Metaverse-Welten
Der Kreativität sind in den virtuellen Parallelwelten keine Grenzen gesetzt. © Alex Nemec

Fünf Eingänge ins Metaverse

Das Metaverse gibt es nicht. Was es gibt, sind verschiedene Plattformen, die es sich auf die Fahnen heften, auf dem Gebiet Vorreiter zu sein. Es sind im Grunde offene Welten, in die sich User einloggen und in denen sie sich frei ­bewegen können, um mit anderen Usern zu interagieren, einzukaufen, zu spielen oder sich Konzerte anzusehen.

Das Metaverse ist, sagte der Erfinder von „Second Life“, einem frühen Vorläufer eines Metaverse, „ein dreidimensionales Internet, das von echten Menschen bevölkert wird“. ­Manche der Plattformen können über den Browser angewählt werden, andere über Apps, für wieder andere ist eine Virtual-­Reality-Brille nötig.

Als frühestes Beispiel eines Meta­verse gilt das vor bereits zwanzig Jahren gestartete „Second Life“: eine virtuelle Welt, in der Nutzer sich mittels Avataren bewegen. Es soll, wie der Name schon sagt, ein komplettes zweites Leben sein, in dem sich Nutzer eine neue Identität aneignen. Sie gestalten ihre Avatare als Models, als Vampire oder als „Furrys“, das sind Pelztiere mit menschlichen Eigenschaften.

Im Second Life gibt es eine eigene Währung, Staaten wie die Malediven oder Estland eröffneten virtuelle Botschaften, und der „Alphaville Herald“ ist dort die erste virtuelle Zeitung. Es war eine Art Metaverse, bevor den Begriff noch irgendwer kannte.

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Zahlen & Fakten

Fortnite Kapitel 4 Stadt
Die Welt von Fortnite Battle Royale in Kapitel 4, Saison 1. © Fortnite

Plattform 1: Fortnite

Verschiedene Plattformen haben die Idee des Metaverse zumindest schon teilweise umgesetzt. Fortnite ist eigentlich eines der erfolgreichsten Multiplayerspiele. Aber für viele ist „Fortnite“ mehr als das: Es ist ein Ort, wo sich Menschen virtuell treffen; das Spiel selbst ist für manche nur ein Bonus.

Aktuell hat Fortnite etwa 400 Millionen registrierte Nutzer; offizielle Daten für 2023 liegen noch nicht vor. Es wird geschätzt, dass im Durchschnitt rund 30 Millionen Nutzer Fortnite täglich spielen.

Heute gelten vor allem Gaming-Plattformen als Pioniere der schönen neuen Welten, die auf uns zukommen: „Fortnite“ etwa ist längst mehr als nur ein Spiel. Dort treffen sich die 125 Millionen Nutzer auch, um sich die Zeit zu vertreiben oder Freunde zu treffen. „Roblox“ ist eine Plattform, bei der Nutzer selbst Spiele erstellen können; es zog 2022 rund 203 Millionen aktive Nutzer pro Monat an. Plattformen wie „Sandbox“ oder „Decentraland“ wollen tatsächlich bereits virtuelle Welten sein.

In „Decentraland“ fand 2022 die erste „Metaverse Fashion Week“ statt, bei der unter anderem Dolce & Gabbana und Tommy Hilfiger ihre Kreationen präsentierten. Samsung, Adidas oder das Auktionshaus Sotheby’s betreiben dort Filialen. Im Konkurrenz-Universum von „Sandbox“ haben sich unterdessen Paris Hilton und eben Snoop Dogg angesiedelt. Letzterer veröffentlichte ein ­Musikvideo, das nahezu komplett in seinem „Sandbox“-Anwesen spielt.

Los Angeles, 2018: Teilnehmer eines Fortnite-Turniers auf der E3 Electronic Entertainment Expo.
Los Angeles, 2018: Teilnehmer eines Fortnite-Turniers auf der E3 Electronic Entertainment Expo. Fortnite generiert monatlich Hunderte von Millionen Dollar Umsatz durch den Verkauf virtueller Avatare und Accessoires. © Getty Images

Das Metaverse ist nicht Facebook

Was das Metaverse also sicher nicht ist: eine einzige Plattform, auf der sich alles abspielt – obwohl es ein Unternehmen gibt, das es sich auf die Fahnen ge­heftet hat, Vorreiter im Metaverse sein zu wollen: Meta, den meisten wohl immer noch als Facebook bekannt. Der Name ist klug gewählt, weil er nahelegt, dass das Metaverse eine Idee von Mark Zucker­berg und im Grunde das neue Facebook wäre. Es ist so, spottete ein Manager aus dem Silicon Valley, als hätte sich der Software-Gigant Microsoft 1994 in Internet umbenannt.

Es verwundert nicht, wenn in der Branche das Gelächter über Meta groß war.

Oliver Zöllner (Professor für Medienforschung)

Zuckerberg hat mit dieser Strategie wohl die Flucht nach vorn angetreten: Facebook stagniert, und die Nutzer werden immer älter. Bislang hatten die Rettungsversuche keinen Erfolg. Ende August 2022 verließ der – für das Projekt Metaverse immens wichtige – Virtual-Reality-Chef das Unternehmen.

Wo sind die Beine?

Kurz davor war Zuckerberg verspottet worden, weil er seinen virtuellen Avatar vor einem grafisch eher unbeholfenen Eiffelturm und einer Sagrada Familia, die aus Sand gebaut schien, präsentiert hatte. Eigentlich wollte er damit den Launch des Facebook-eigenen Metaverse „Horizon Worlds“ in Frankreich und Spanien bewerben, nun musste er kleinlaut versichern, dass die Grafik des Meta­verse von Meta in Wahrheit viel besser sei.

Zuckerberg präsentierte als große Innovation, dass sein Avatar im Metaverse – im Gegensatz zu früheren Versionen – nun Beine hat. „Da verwundert es nicht, wenn in der Branche das Gelächter groß war“, sagt Oliver Zöllner, Professor für Medienforschung und Leiter des Instituts für Digitale Ethik an der Hochschule der Medien in Stuttgart.

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Die Avatars von Mark Zuckerberg und Aigerim Shorman, Avatar-Managerin bei Meta, in Horizon Worlds
Die Avatare von Aigerim Shorman, Avatar- und Identitätsmanagerin bei Meta, und Mark Zuckerberg. © Horizon Worlds

Plattform 2: Horizonland

So hat Mark Zuckerberg das Metaverse seines Konzerns Meta genannt. Um dort dabei zu sein, braucht man aktuell nicht nur eine Virtual-Reality-Brille, man muss auch in den USA, in Großbritannien, Frankreich, Spanien, Irland, Island oder Kanada leben – im deutschsprachigen Raum ist es noch nicht verfügbar.

„Meta Platforms, Inc. befindet sich, betrachtet man alle Börsenindikatoren, in einer Unternehmenskrise.“ Nach einem Gewinneinbruch, gepaart mit einem Umsatzrückgang im dritten Quartal 2022, kam es zu massenhaften Ent­lassungen – 11.000 Mitarbeiter mussten gehen. Und im März dieses Jahres waren es noch einmal 10.000.

Gleichzeitig gab Mark Zuckerberg, dem Hype um ChatGPT und künstliche Intelligenz folgend, bekannt, dass die größten Investitionen von Meta in KI gehen werden, nicht in das Metaverse. „Der Funke des Neubeginns hat nicht recht gezündet“, sagt Zöllner. Aber bedeuten die Probleme von Meta, dass das Metaverse selbst auch nur eine Blase ist, die demnächst platzen wird? Vom „Second Life“, das nach dem Start in aller Munde war, spricht heute auch niemand mehr – es ist zum Nischenprogramm verkommen.

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Wer erinnert sich noch an StudiVZ?

William Lehr, der am MIT unterrichtet, sich seit mehr als 25 Jahren mit Internetökonomie befasst und sowohl große Unternehmen als auch die US-amerikanische Regierung berät, hat keinen Zweifel, dass das Metaverse kommen wird. Er ist nur nicht sicher, ob Mark Zuckerbergs Meta dabei eine Rolle spielen wird: „Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob das Metaverse die Position für etablierte Akteure wie Meta festigt oder ob es neuen Akteuren eine Chance zur Disruption bietet – ich neige aber zu Letzterem“, sagt er.

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Screenshot einer Unterwasserwelt in Roblox
In Roblox sind User nicht mehr an die Grenzen einer rein menschlichen Identität gebunden. © Roblox

Plattform 3: Roblox

Auch bei „Roblox“ steht das Spielen im Vordergrund, allerdings ermög­licht die Plattform den Nutzern, selbst Spiele zu erstellen. Zudem gibt es eine eigene Währung, ein Kino für von Usern erstellte Filme und Konzerte – der Rapper Lil Nas X präsentierte einen neuen Song in „Roblox“. 203 Millionen User loggen sich dort pro Monat ein.

Soll man also schon heute in das Metaverse investieren oder dort Land erwerben? Lieber nicht, meint Lehr. „Es wäre wie der Versuch, die Brooklyn Bridge zu kaufen, während wir noch an der Brückenbautechnik arbeiten.“ Manche Entwicklungen lassen sich nicht vorhersehen, das zeigt sich auch anhand des Internets: Vor zwanzig Jahren surften wir mit dem Internet Explorer, beliebte soziale Netzwerke hießen ­mySpace und StudiVZ, und fast jedes Handy stammte von Nokia. Nichts davon ist heute mehr relevant. Und niemand konnte damals ahnen, welch technische Revolution das 2007 von Apple präsentierte iPhone auslösen würde.

Doch auch wenn die neuen Welten vielleicht ganz anders ausschauen werden, als wir uns das heute ausmalen, oder von Unternehmen dominiert werden, die es noch gar nicht gibt: Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir oder zumindest unsere Kinder große Teile des Lebens dort verbringen werden.

Niemand riecht unangenehm

So gut wie alle Aktivitäten, die das Metaverse bieten soll, ließen sich auch in der realen Welt unternehmen. Warum also sollten wir das echte Leben gegen ein virtuelles eintauschen? Das Netz habe ein paar Vorteile, sagt Oliver Zöllner: „Vieles ist dort einfacher, bunter, faszinierender. Man spart sich aufwendige Anreisen und oft anstrengende Begegnungen mit realen Menschen, die gerne auch einmal Widerworte geben, lästig sind oder gar unangenehm riechen.“

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Screenshot einer Fashion Week in Decentraland
Eine Fashion Show in Decentraland. © Decentraland

Plattform 4: Decentraland

Wie „Horizon Worlds“ will auch „Decentraland“ bereits ein Metaverse sein. Es besteht aus 90.601 Parzellen virtuellen Landes, durch die ein User mit seinem Avatar schlendern kann. Unter anderem gibt es dort eine virtuelle Nachbildung des Londoner Auktionshauses Sotheby’s und die virtuelle Botschaft des Landes Barbados. Mit Events wie einem Metaverse-Musikfestival und einer Fashion Week versucht die Plattform, Nutzer für ein virtuelles Leben zu begeistern.

Andererseits: Wer sagt eigentlich, dass das Metaverse nicht das echte Leben ist? Was real ist und was nicht, lässt sich oft gar nicht so einfach beantworten. Viele von uns sehen es vermutlich wie der Intellektuelle Samuel Johnson im 18. Jahrhundert. Er hielt die These seines Zeitgenossen George Berkeley, dass materielle Dinge nicht existierten und alles im Universum lediglich eine Idee sei, für einen ausgemachten Unsinn und war auch der Meinung, sie wider­legen zu können. Er trat gegen einen Stein und rief: „So widerlege ich es!“

Der Philosophie-Professor Peter West vom New College of the Humanities in London erklärt, was Johnson damit sagen wollte: „dass es offensichtlich ist, welche Art von Gegenständen real ist: Sie sind fest, physisch; die Art von Dingen, gegen die wir stoßen oder die wir treten.“ Der australische Philosoph David Chalmers sieht das anders. 2022 veröffentlichte er das Buch „Reality+“, in dem er argumentiert, dass virtuelle Welten durchaus real sein könnten.

Virtualität macht uns menschlich

„Chalmers behauptet, dass eine Welt dann real ist, wenn sie für die Menschen wertvoll ist, das heißt, wenn sie ihnen etwas bedeutet“, erklärt Peter West. Das würde auf die neuen virtuellen Welten vermutlich zutreffen.

Der lesende Samuel Johnson, Gemälde von Joshua Reynolds, 1775
„Der lesende Johnson“, Gemälde von Joshua Reynolds (1775). Es ist fraglich, wie Johnson auf Chalmers Argumentation reagiert hätte: Der Schotte war u.a. Lexikograph und zählt neben Shakespeare zu den meistzitiertesten britischen Schriftstellern. © Getty Images

Ähnlich argumentiert der israelische Politikwissenschaftler Sam Lehman-­Wilzig, der 2021 ein Buch mit dem Titel „Virtuality and Humanism“ ver­öffentlichte. Unsere Leben, sagt er, seien schon jetzt weitgehend von virtuellen Konzepten bestimmt.

Seine These: Gott ist genauso wenig real und angreifbar, wie es fiktive Charaktere in Film und Literatur sind. Selbst der Wert von Geld ist ein fiktiver und somit virtueller. Trotzdem bedeutet uns all das etwas. Virtualität ist für Lehman-­Wilzig etwas, was „uns vom Rest des Tierreichs unterscheidet“.

Mehr vom Gleichen

Viele unserer Bedürfnisse – ob das jetzt die Flucht vor Langeweile oder die Bewältigung existenzieller Ängste ist – können in unserer physischen Welt nicht angemessen befriedigt werden, sagt Lehman-Wilzig. Nach seiner Argumentation ist das Metaverse – jedenfalls philosophisch gesehen – also nichts Neues, sondern nur mehr vom Gleichen und wird wie das Internet unseren Alltag bereichern.

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Zahlen & Fakten

Sandbox Gameplay-Screenshot
Die kantige Welt des Sandbox-Metaverse. © Sandbox

Plattform 5: Sandbox

Das „Sandbox“-Universum versucht, mit prominenten Einwohnern User anzulocken: Rapper Snoop Dogg hat dort ein virtuelles Anwesen, und Paris Hilton soll eine „Paris World“ errichten. Ansonsten können User dort ebenfalls shoppen, Spiele erstellen und ihr virtuelles Land bebauen.

Der Sandbox Game Client wurde im Jahr 2022 über 1,3 Millionen Mal installiert.

Und wie das Internet wird wohl auch das Metaverse nicht nur positive Erfahrungen bringen. „In den letzten fünf Jahrzehnten hat der rasante Aufstieg des Internets unser Leben mit einer Reihe beunruhigender Probleme belastet – von Cyberangriffen über Desinformation bis hin zu Online-Radikalisierung und Hass“, sagt Philippa Smith, außerordentliche Professorin an der University of Technology in Auckland.

Das Netz ist nicht immer ein schöner Ort. Mit ein Grund dafür sei, dass so viel so schnell passierte. „Es war schwer, mit dem Wandel Schritt zu halten“, sagt sie. Der Sozialwissenschaftler Howard Rheingold schrieb bereits 1993 in seinem Buch „The Virtual Community“, dass wir im Internet Teilnehmer eines sozialen Experiments geworden seien, das „niemand geplant hat, das aber dennoch stattfindet“.

Das Metaverse selbst gestalten

Nun, dreißig Jahre später, sind wir „älter und weiser“, sagt Philippa Smith. Und wir sollten einfordern, was Rheingold damals schon vorschlug: dass wir, die Bürgerinnen und Bürger, nicht darauf warten sollten, wie dieses Metaverse aussehen wird, das große Techkonzerne gerade für uns basteln. Wenn wir schon alle nicht wissen, wie das Metaverse sein wird: warum nicht so, wie wir das gerne hätten?

Philippa Smith glaubt, dass dafür der Input verschiedener Gruppen erforderlich sei: „Menschen mit Behinderungen könnten beispielsweise bereits in der Entwurfsphase einen Beitrag leisten und so den Unternehmen Zeit sparen, die sie für die nachträgliche Behebung von Problemen mit der Zugänglichkeit aufwenden müssen“, sagt sie. „Auch Gruppen, die Online-Diskriminierung oder Missbrauch erfahren haben oder über soziale Ungleichheiten oder Meinungsfreiheit besorgt sind, können Perspektiven zum Umgang mit In­halten beitragen.“

Das Metaverse könnte ein noch größerer Teil unseres Lebens werden, als es das Internet jetzt schon ist. „Frauenfeindlichkeit, Hassreden und Mobbing könnten in der vollen Realität des Meta­verse noch bedrohlicher sein“, sagt Smith. Denn es wird sich realer anfühlen als das Internet, weil wir es nicht als Text am Schirm erleben werden, sondern mit unserem Avatar in einer Welt, in die wir mittels Virtual-Reality-Brille eingetaucht sind.

Ein Schlaraffenland der Daten

Mit dem Schutz unserer persönlichen Daten könnte es überhaupt vorbei sein: Im Metaverse werden Unternehmen nicht nur wissen, wonach wir googeln und was wir anklicken. Sie wissen auch, in welche Richtung wir schauen, ob wir Links- oder Rechtshänder sind, mit wem wir uns treffen und so weiter. „Kaum etwas verspricht eine so dichte Datenproduktion wie das Arbeiten, Shoppen, Spielen, Chatten, Treffen und allgemeine Tummeln in einem zukünftigen Metaversum, Tag für Tag, millionenfach“, sagt Oliver Zöllner. „Das Metaverse ist ein Schlaraffenland für Datenauswerter, denen der nachwachsende Rohstoff niemals ausgeht.“

Ist es trotzdem eine erstrebenswerte Zukunft? Das ist vermutlich die falsche Frage. Wenn das Metaverse funktioniert, wird es sich ohnehin nicht aufhalten lassen. Dafür bleibt die Sorge, was es mit den Menschen machen wird. Das Metaverse hat wohl das Potenzial, unsere Leben komplett auf den Kopf zu stellen – aber das haben Technologien schon immer getan. Wer heute 20 Jahre alt ist, kann sich nicht einmal mehr vorstellen, dass Telefone früher Wählscheiben und Kabel hatten und das Wissen der Welt in Bibliotheken lag, statt permanent verfügbar in unseren Smartphones zu sein.

„Wenn wir alle beginnen, virtuelle Welten zu bewohnen – wenn dies der Ort ist, an dem wir unsere Familie sehen und Geschäftstreffen abhalten –, dann wird uns die Vorstellung, dass die Realität physisch ist, irgendwann vielleicht als ein Artefakt einer vergangenen Zeit erscheinen. So wie es uns heute absurd vorkommt, dass die Menschheit einmal glaubte, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums“, glaubt Philosoph Peter West. Aber wie gesagt: Auch diese Einschätzung könnte komplett falsch sein.

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Conclusio

Das Metaverse ist nicht weniger als das Versprechen einer technologischen Revolution, die die Welt genauso massiv verändern wird wie das Internet. Aber angesagte Revolutionen finden nur selten statt; und viele Menschen sind skeptisch, ob das Metaverse all seine Versprechen wird einlösen können – vor allem weil noch gar niemand so genau weiß, was ­dieses Metaverse eigentlich alles sein wird und was nicht. Aber auch weil ­jenes Unter­nehmen, das von sich be­hauptet, der Vorreiter dieser neuen Technologie zu sein, ordentlich ins Straucheln gekommen ist: Von Meta liest man derzeit kaum ­etwas Positives. Trotz alledem ist es immer noch wahrscheinlich, dass sich unser Leben immer weiter ins Virtuelle verlagern wird. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir diese Zukunft mit­gestalten können.

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