Wie Afrika seine Zukunft verliert

Afrika ist ein Kontinent in Bewegung. Jährlich wächst die Zahl der Menschen, die im Ausland ein besseres Leben suchen. Europa ist dabei seltener das Ziel, als behauptet – aber es sollte Afrika dabei helfen, die Ursachen der Migration zu bekämpfen.

Kinder vor einem Haus in Afrika
Afrika leidet unter starker Binnenmigration. Vielen Ländern gehen Jugend und Arbeitskräfte verloren. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Ursachenforschung. Afrika kämpft seit Jahren mit ernsten Umwelt- und Ernährungsproblemen, politischer Instabilität und kriselnden Volkswirtschaften.
  • Grenzgänger. Die Zahl der afrikanischen Migranten im In- und Ausland steigt. Das kann sich nicht ändern, solange die Probleme nicht an der Wurzel gepackt werden.
  • Verantwortung. Besonders Europa steht in der Pflicht. Statt weiter in Grenzschutz zu investieren, sollten europäische Gelder zielführender angelegt werden.
  • Konstruktiver Mitteleinsatz. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in Investitionen in Jugend und Bildung. Zudem muss die Landwirtschaft modernisiert werden.

Zur Einordnung ein paar Zahlen: Im Jahr 2000 wanderten etwa 21,6 Millionen Menschen in Afrika aus ihren Heimatländern aus, 2015 waren es 32,6 Millionen. Die meisten von ihnen gingen – und gehen immer noch – in andere Länder des Kontinents, doch viele von ihnen brechen auch nach Europa auf. Zwischen 2010 und 2015 sind fast zwei Millionen Afrikaner in Richtung der europäischen Grenzen migriert, ein Anstieg von mehr als 10 Prozent gegenüber dem Zeitraum 2005 bis 2010.

Untersuchungen haben gezeigt, dass die Migranten, die nach Europa kommen, in der Regel aus städtischen Gebieten stammen, ein höheres Einkommen und einen höheren Bildungsgrad haben. Der Umzug auf einen neuen Kontinent erfordert immerhin intellektuelle und wirtschaftliche Ressourcen. Viele gehen nach Europa, weil sie sich – scheinbar paradoxerweise – ein besseres Leben in ihrer Heimat wünschen. Die rund 40 Milliarden Dollar an Überweisungen, die im Jahr 2010 von 31 Millionen internationalen afrikanischen Migranten nach Afrika flossen, illustrieren das. Die meisten dieser Migranten geben an, dass sie eines Tages in ihr Heimatland zurückkehren wollen, doch dem steht oft die politische und wirtschaftliche Realität in ihrem Herkunftsland im Weg.

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Zahlen & Fakten

Um die Einwanderung nach Europa zu steuern und Grenzen und Küsten besser kontrollieren zu können, gründete die Europäische Union am 26. Oktober 2004 die Agentur Frontex. Das Budget dieser Organisation ist über die Jahre exponentiell gestiegen – von rund sechs Millionen Euro im Jahr 2005 auf fast 322 Millionen Euro im Jahr 2020. Doch trotz dieser enormen Summen und Anstrengungen hat sich die Zahl der afrikanischen Migranten nicht verringert. Das kann sie aber auch nicht, solange die Ursachen für Migration weiterbestehen. Die Vereinten Nationen haben drei Hauptgründe für die Migration aus der Sahelzone nach Europa ermittelt: Ernährungs- und Umweltkrisen, politische Unsicherheit und instabile Wirtschaftsverhältnisse.

Migrationsgrund 1: Armut

Im Jahr 2013 hat das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gemeinsam mit der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) sowie dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) monatlich sechs Millionen Menschen bei der Versorgung mit Lebensmitteln sowie beim Schutz von Böden und Gewässern unterstützt. Was Afrika jedoch benötigt, ist eine stärkere Zusammenarbeit in den ländlichen Gebieten, angefangen bei grundlegenden Dingen – etwa der Einrichtung von „Getreidebanken“, die in Dürre- und Hungerzeiten von grundlegender Bedeutung sind.

Die Mehrheit der Afrikanerinnen und Afrikaner lebt von der Landwirtschaft. Trotz des unglaublichen Reichtums an Mineralien, Öl und Rohstoffen auf dem Kontinent sind ein Großteil der fast einen Milliarde Einwohner Afrikas aber Kleinbauern, von denen 200 Millionen in Armut leben. Nehmen wir nur Nigeria als Beispiel: Nach dem Ölboom der 1980er-Jahre fiel der Anteil der Landwirtschaft an Nigerias Bruttoinlandsprodukt drastisch, von 68 Prozent auf 35 Prozent. Die Folge: Im Jahr 2000 lebten mehr als 90 Millionen Nigerianer unterhalb der Armutsgrenze. In den letzten zehn Jahren sind die Lebensmittelpreise in ganz Afrika enorm gestiegen, und inzwischen importiert der Kontinent jedes Jahr Lebensmittel im Wert von 30 bis 35 Milliarden Dollar.

Fischerin in Afrika
Fischerei spielt in Kenia eine große Rolle bei der Nahrungsmittelversorgung von ländlichen Regionen. © Getty Images

Um das Problem zu beheben, muss einerseits die Infrastruktur verbessert werden. Sie sichert nicht nur die Ausfuhr von Produkten, sondern ist auch für die Vernetzung im Land und den Zugang zu lokalen Märkten von grundlegender Bedeutung. Der Mangel an Straßen, Eisenbahnen und Häfen macht Afrika zu einer der am wenigsten wettbewerbsfähigen Regionen der Welt. Zum anderen sind Investitionen in die kleinbäuerliche Landwirtschaft und nachhaltige Anbaumethoden der Schlüssel zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion. Nur so kann Afrika dem Klimawandel begegnen, dessen Auswirkungen auf die künftige Lebensmittelversorgung erheblich sein werden.

Migrationsgrund 2: Klimawandel

Denn: Die landwirtschaftliche Produktion Afrikas basiert zu 96 Prozent auf Regen, und die Herausforderungen des Klimawandels sind insbesondere in der Sahel größer als anderswo in Afrika. Die Landwirtschaft bildet auch dort die Grundlage der Wirtschaft, ist aber nach wie vor unterentwickelt und eher von Niederschlägen als Bewässerung abhängig. Die Böden können das Wasser nicht speichern. Bei extrem niedrigen oder hohen Niederschlägen kann es in der Region zu erheblichen Einbußen in der Landwirtschaft und beim Viehbestand, zu Hungersnöten, Epidemien und massiver Landflucht kommen.

Berechnungen zufolge werden nur vier Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Subsahara bewässert. Die Weltbank hat 2013 begonnen, Bewässerungsprogramme in Westafrika mit Millionen von Dollar zu finanzieren. Das ist ein guter Anfang, aber nicht genug. Die Investitionen der Weltbank, der FAO, des OCHA, von ActionAid, dem Green Climate Fund und anderen großen Geldgebern müssen an die jeweiligen Gebiete und Bedürfnisse angepasst werden. Zudem müssen sie mit konsequenten Maßnahmen einhergehen, welche die Abholzung tropischer Regenwälder stoppen und die dazu beitragen, den Prozess der Desertifikation zu verlangsamen.

Solarpanele in Marokko
Der Besitzer eines Gästehauses in der Berberstadt Aït-Ben-Haddou in Marokko präsentiert seine Solarpanele. © Getty Images

Darüber hinaus verfügt die Region über ein großes Potenzial für die Sanierung der bereits vorhandenen zwei Millionen Hektar bewässerter Flächen. Viele Wasser- und Bodenschutztechniken wurden bereits identifiziert, aber noch nicht umgesetzt. Neben Bewässerung gibt es aber noch weitere technologische Faktoren, die Subsahara-Afrika bewältigen muss – darunter Saatgutversorgung, Düngemittel, Nacherntebehandlung und Marktzugänge. Ein interessanter Punkt könnte die Investition in Solarenergie sein, wie es die EU in Marokko getan hat. Und auch die Schaffung von Stromverbundnetzen würde einen großen Beitrag zur Ankurbelung der Wirtschaftstätigkeit leisten, da eine zuverlässige Energieversorgung für jegliche Wirtschaftszweige unerlässlich ist.

Migrationsgrund 3: Krieg und Kriminalität

Politische Instabilität ist in vielen Teilen Afrikas eine Konstante, die eine sichere Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Krisenbewältigung – sei es im Ernährungs-, Umwelt- oder Wirtschaftssektor – unmöglich macht. Schwache Regierungen können die Bedürfnisse ihrer Bürger nicht befriedigen und schaffen einen Nährboden für Extremismus. Bricht in einem Land mit begrenzten staatlichen Ressourcen ein Konflikt aus, verschärfen sich humanitäre Krisen schnell und werden zu einem Fluchtgrund.

In diesen Fällen sind friedenserhaltende Missionen und Grenzkontrollen von grundlegender Bedeutung. Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) arbeitet zum Beispiel mit Burkina Faso, Tschad, Mali, Marokko, Niger und Algerien zusammen, um die durch Drogenhandel, organisierte Kriminalität und Terrorismus verursachten Probleme in den Griff zu bekommen. Von 2004 bis 2017 hat die EU 2,39 Milliarden Dollar für die Sicherheit in Afrika bereitgestellt. Da die Afrikanische Union aber nicht als abhängig von Europa erscheinen will, zeigt sie sich nicht immer allzu kooperativ.

Wie Europa helfen kann – und muss

All diese Aspekte erfordern Investitionen und einen Transfer von Know-How und Technologien. Die Bemühungen der afrikanischen Führungsspitzen um die Eindämmung von Korruption, die Verbesserung von Steuersystemen, die Ausbildung junger Menschen auf hohem Niveau und die gegenseitige Unterstützung von öffentlichem und privatem Sektor müssen systematisch aus dem Ausland unterstützt werden. Afrika benötigt jedes Jahr Investitionen in Milliardenhöhe in den Bereichen Energie, Wasser, Infrastrukturen, Technologie. Zwar müssen die Lösungen für die beschriebenen Probleme in erster Linie von den afrikanischen Ländern selbst kommen – doch ihnen fehlt die Erfahrung, um all das allein leisten zu können. Hier kommt Europa ins Spiel.

Afrika ist für Europa von enormer strategischer Bedeutung. Die anhaltende Instabilität auf dem Kontinent wird weiterhin zu Wellen irregulärer Migration aus Afrika nach Europa führen, bei denen Länder wie Italien und Griechenland besonders belastet sind. Diese Herausforderungen lassen sich nicht auf einen Schlag lösen, aber es gibt einige produktive Ansätze, insofern Europa ernsthaft an Partnerschaften und Investitionen in Afrikas Jugend und Landwirtschaft interessiert ist:

  • Die enormen Mittel, die Europa in den letzten Jahrzehnten zur Eindämmung der Migrationsströme aufgewendet hat, hätten für lokale Investitionen verwendet werden können. Allein durch die finanzielle Unterstützung von Kleinbauern und Investitionen in Bildung, Bewässerung und Saatgut hätte die Zahl der Migranten begrenzt werden können. Kleinunternehmen funktionieren in Afrika am besten, in der gewerblichen Produktion wie in der Landwirtschaft. Daran müssen Europa und die gesamte internationale Gemeinschaft arbeiten.
  • Afrika muss bei der Bewältigung des kolonialen Erbes unterstützt werden – zuallererst durch die Schaffung einer neuen politischen Elite. Heute ist die Politik in vielen afrikanischen Ländern eine Geschäftskarriere: Man fängt mit nichts an und wird in wenigen Jahren durch korruptes Verhalten zum Millionär. Was fehlt, ist der Sinn für das Gemeinwohl. Hier könnte Europa eine Beraterrolle einnehmen, die von der Jugendbildung bis hin zur Politik reicht. Eine stärkere und weniger korrupte politische Führungsschicht könnte auch die Institutionen stärken.
  • Der Großteil der Einnahmen aus den natürlichen Ressourcen Afrikas ist derzeit einer kleinen Elite vorbehalten und erreicht nicht die Bürger. Dies führt zu sozialen Spannungen und Gewalt – Boko Haram ist ein Beispiel dafür. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden, um parallel gegen Ernährungsunsicherheit und soziale Konflikte vorgehen zu können.
  • Ein weiterer Punkt, mit dem sich Europa befassen muss, ist die Frage der einst willkürlich gezogenen Grenzen in Afrika. Die von den Kolonialmächten erschaffenen Grenzen ignorierten die auf Stämmen, Clans, Ethnien und Familienzugehörigkeit beruhende Lebensrealität der Menschen und bieten auch jetzt noch gesellschaftlichen Zündstoff. Die Grenzen eines ganzen Kontinents lassen sich im Nachhinein nicht ändern, aber das Problem zu erkennen ist dennoch ein guter Anfang.

Wie wir jedoch wissen, hat die Demokratie viele Schwächen, die dem Finden umfassender und langfristiger Lösungen entgegenstehen – allen voran die kurze Lebensdauer von Regierungen, die nur selten daran interessiert sind, langfristige politische Visionen gegen das unmittelbare Wohlwollen der Wählerschaft und Opposition einzutauschen. In der Zwischenzeit wird das afrikanische „Problem“ aufgrund der Kurzsichtigkeit derjenigen, die uns regieren, nicht kleiner, sondern bewegt sich weiter täglich auf uns zu – bis es irgendwann Überhand nimmt.

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Conclusio

Die Migration aus und in Afrika hat vielfältige Ursachen: Umweltkatastrophen, Ernährungsunsicherheit, korrupte politische Eliten und marode oder fehlende Infrastruktur. Jedes Jahr machen sich Millionen auf der Suche nach einem besseren Leben auf den Weg – überwiegend innerhalb Afrikas, aber auch Richtung Norden. Europa begegnet dem Migrationsstrom bislang mit dem Versuch einer Abschottung seiner Grenzen. Dabei wird ignoriert, dass die ehemaligen Kolonialländer selbst zur Schaffung der bestehenden Probleme beigetragen haben – und heute wesentlich mehr tun könnten, um die Lage vor Ort zu verbessern, beispielsweise durch Investitionen in Jugend und Landwirtschaft. Zwar wird das nicht billig. Aber nur wenn die Lebensverhältnisse in Afrika besser werden, kann der Kontinent auch eine Zukunftsperspektive aufbauen, die der Massenmigration die Grundlage nimmt.