Migration durch die Hintertür

Ein rigider Schutz der Außengrenzen wird die Migration nach Europa nicht eindämmen. Ein Großteil der Migranten kommt über arrangierte Ehen und Familiennachzug in die EU. Welche Einwanderungspolitik braucht Europa wirklich?

Illustration von Flüchtlingen vor der Festung Europa
Der Großteil der Migranten aus Drittstaaten findet auf regulärem Weg nach Europa. © Arvan Berisha/TOML Collective
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Auf den Punkt gebracht

  • Achtung, Irrglaube. Grenzsicherungen sollten nicht im Mittelpunkt von Europas Migrationspolitik stehen. Die meisten Asylanträge entfallen auf regulär Eingereiste.
  • Migrationsgründe. Nur ein Viertel der Zuwanderungen erfolgt aufgrund von Arbeit oder Jobtransfer. Zahlenmäßig stärker sind Familiennachzug und Heiratsmigration.
  • Pushbacks. Viele Staaten schieben irreguläre Migranten an der EU-Außengrenze in die jeweiligen Nachbarländer zurück. Das hebelt das Grundrecht auf Asyl aus.
  • Umdenken. Aber: Die EU beginnt zu schrumpfen, der Fachkräftemangel ist längst Realität. Gezielte Zuwanderung lautet daher das Gebot der Stunde.

Beim Stichwort „Zuwanderung“ kommen uns immer die gleichen Bilder in den Sinn: überfüllte Schlauchboote, verzweifelte Menschen in Behelfslagern auf griechischen Inseln; Flüchtende, die durch Wälder irren oder versuchen, Zäune und Stacheldraht zu überwinden. Bilder, die Zeitungen und Fernsehen verwenden, um über unkontrollierte Migration zu berichten – ein Thema, das spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 im Fokus des öffentlichen Interesses ist.

Damals erreichte uns in Europa eine enorme Flüchtlingswelle. Sie war Folge des 2011 ausgebrochenen Bürgerkriegs in Syrien. Seither befindet sich fast die Hälfte der 21,4 Millionen Einwohner Syriens auf der Flucht: rund fünf Millionen als Vertriebene im eigenen Land und gut fünf Millionen als Flüchtlinge im Ausland. Hinzu kamen Migrantinnen und Migranten aus dem Irak, aus Afghanistan, aber auch aus Ländern ohne Bürgerkrieg.

Diese Massenbewegung war neu. Bis ins frühe 21. Jahrhundert hatten nur wenige Syrer oder Iraker im Ausland gelebt. Angesichts der Zahlen und Bilder ist es kein Wunder, dass eine Forderung populärer wurde: die Grenzen dicht ­machen! Nach einer kurzen Phase allgemeiner Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur sind Politiker nun schnell bereit, wirksamen Grenzschutz zu versprechen. Die Botschaft an die Wähler ist klar: Wir haben die Lage im Griff. Die Flüchtlingskrise 2015 wird sich nicht wiederholen. Dieses Mantra ist nicht nur unter Konservativen und Rechtsnationalisten verbreitet. Auch etliche Sozialdemokraten – von Malta bis nach Skandinavien – vertreten inzwischen diese Position.

Seit 2015 hat sich viel getan: Neue Grenzzäune wurden errichtet, Soldaten postiert, Grenzschützer drängen etliche irreguläre Zuwanderer gewaltsam zurück – man nennt dies „Pushback“. Die eingesetzten Mittel sind dabei nicht eben zimperlich: Wasserwerfer und Tränengas, oft setzt es Prügel, gelegentlich fallen Schüsse, immer wieder gibt es Tote. Die Politik schreckt auch nicht davor zurück, sich mit autoritären Regimen abzustimmen oder mit Milizen zusammenzuarbeiten wie in Libyen. An Europas Außengrenzen Asyl zu beantragen wird immer schwieriger.

Festung Europa? Von wegen!

„Problem“ gelöst? Nur symbolisch. Denn irreguläre Grenzübertritte und Seenotrettung spielen bei der Zuwan­derung nicht die Hauptrolle. Von gut einer halben Million Asylanträgen in EU-Ländern im Jahr 2021 entfiel der deutlich überwiegende Teil auf legal eingereiste Personen, die mit Visum oder visumfrei nach Europa kommen. Wenn Menschen etwa aus dem Krisenland Venezuela oder dem mittlerweile etwas ruhigeren Kolumbien nach Europa wollen, dann können sie ganz legal einreisen, sofern sie sich das Flugticket leisten können und einen gültigen Reisepass besitzen. Denn wie die meisten Bürgerinnen und Bürger Südamerikas können sie ohne Visum als Touristen in die EU reisen – und bei Bedarf Asyl beantragen. Deshalb suchten etwa 2019 mehr Menschen aus Venezuela und Kolumbien in der EU-27 um Asyl an (76.620) als Syrer (74.915).

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Zahlen & Fakten

Das bedeutet: Eine bessere Kontrolle unserer Seegrenzen oder des Balkans würde die Zuwanderung über das Asylsystem nur um etwa 20 Prozent reduzieren, aber keineswegs verhindern. Der große Rest der Migration passiert auf anderen Kanälen: Seit mehr als zehn Jahren dominieren nicht etwa Bootsflüchtlinge, sondern Heiratsmigration und klassische Familienzusammenführung die Zuwanderung in die EU. Von den rund zwei Millionen Menschen, die jedes Jahr aus Drittstaaten für länger als zwölf Monate in die Europäische Union übersiedeln, kamen 2019 fast 690.000 aus familiären Gründen. 2020 waren es – trotz Corona – immer noch 494.000. Hauptziel dieser Bewegung waren Spanien, Deutschland und Frankreich, gefolgt von Italien, Schweden und Portugal.

Grenzen einst und jetzt

Wie sich die Zeiten ändern: Während des Kalten Kriegs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Mauern, Stacheldraht und Schüsse auf Flüchtende Alltag an der Grenze zwischen den kommunistisch regierten Ländern Europas und dem freien Westen. Wer den Eisernen Vorhang von Ost nach West überwinden wollte, riskierte sein Leben. In dieser Situation entstand die Genfer Flüchtlingskonvention. Der Eiserne Vorhang ist Geschichte. Doch Grenzzäune, Stacheldraht und Patrouillen gibt es heute wieder. Allerdings wird nun nicht die eigene Bevölkerung am Grenzübertritt ins Ausland gehindert. Sondern irreguläre Migranten und Flüchtlinge an der Einreise: vom Mittelmeer über den Balkan bis nach Belarus. Und das sorgt für ständige mediale und politische Aufregung.

Während des Kalten Kriegs war die Flucht aus dem Ostblock eine vom Westen durchaus erwünschte Volksabstimmung mit den Füßen. Das bedeutete im Umkehrschluss: Die Marktwirtschaft musste dem Kommunismus überlegen sein. Die kommunistischen Regime hinderten ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger gewaltsam an der Auswanderung. Deshalb fiel es dem Westen leicht, die Türe für Zuwanderung aus Osteuropa offenzuhalten – auch für irreguläre Zuwanderung. Abgesehen davon hatte der Westen einen politischen Zusatznutzen: Die kommunistischen Länder wurden mit den von ihnen errichteten Mauern und Grenzzäunen bei der eigenen Bevölkerung noch unpopulärer. Und der Westen musste für die Grenzsicherung fast kein Geld ausgeben.

Ostdeutsche in Trabis auf dem Weg nach Westdeutschland
Die langersehnte Fahrt von Ost- nach Westdeutschland: ein Grund zu feiern. © Getty Images

Nach 1989 war es damit vorbei. Der Eiserne Vorhang wurde demontiert. Am spektakulärsten: der Fall der Berliner Mauer. Nicht minder symbolträchtig: die Außenminister Ungarns und Österreichs – Gyula Horn und Alois Mock – beim Durchschneiden des Stacheldrahts an der gemeinsamen Grenze. Schon bald machten sich viele Menschen aus Osteuropa auf den Weg. 1992 stellte rund eine Million Menschen in Westeuropa einen Asylantrag, davon über die Hälfte in Deutschland.

Im Rückblick wird klar: Die späten 1980er- und die 1990er-Jahre markieren für Europa einen Wendepunkt. Aktionen zur Anwerbung von Gastarbeitern und Zuwanderung aus Afrika, der Karibik und Südasien hatte es schon davor gegeben. Aber über Jahrhunderte hatte in Europa die Auswanderung nach Übersee dominiert. Erst seit den späten 1980er-Jahren wandern mehr Menschen in die Staaten der heutigen EU ein, als von hier in den Rest der Welt auswandern. Seit den 1990er-Jahren kommen in größerer Zahl Bürgerkriegsflüchtlinge nach Westeuropa: zuerst, im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens, aus Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina, später aus Algerien, aus den Kurdengebieten der Türkei, aus dem Libanon, aber auch aus Afghanistan, das 1994 erstmals in die Hände der Taliban fiel.

Große Asyl-Schwankungen

Rund um die Jahrtausendwende stieg die Zahl der Asylsuchenden infolge der von Serbien veranlassten vorübergehenden Vertreibung von etwa einer Million Menschen aus dem Kosovo. Auch die Kriege im Kaukasus, insbesondere in Tschetschenien, erzeugten Flüchtlingsströme. Ab 2003 führte die militärische Intervention der USA und einiger europäischer Staaten nicht nur zu einem Bürgerkrieg im Irak, sondern erstmals auch zu größerer Auswanderung. Dann kam der Bürgerkrieg in Syrien. Und mit ihm die große Flüchtlingswelle 2015/16.

Flüchtlinge aus dem Kosovo winken Nato-Soldaten zum Abschied
1999: Junge Kosovaren winken den NATO-Truppen zum Abschied. © Getty Images

Letztgenannte zeigt auch, welch großen Schwankungen die Asylzuwanderung unterworfen ist. Nach der Jahrtausendwende wurden in manchen Jahren in Europa weniger als 200.000 Asylanträge gestellt. 2015 und 2016 waren es dagegen über eine Million. Allerdings dürften in dieser Zahl etliche Doppelzählungen enthalten sein, weil manche auf dem Weg von Griechenland oder Italien in den Nordwesten Europas mehrere Anträge stellten.
2019 lag die Zahl der Erstanträge bei 631.000. Im ersten Corona-Jahr 2020 bewirkten Lockdowns, Reisebeschränkungen und vorübergehend eingestellte Flugverbindungen einen Rückgang um ein Drittel. 2021 lag die Zahl wieder bei einer halben Million. Hauptziele sind Deutschland, Frankreich und Spanien.

Was lernen wir daraus?

Ein kritischer Blick auf das europäische Migrationsgeschehen zeigt:

  • EU-Bürgerinnen und -Bürger wandern in der Regel in die Arbeitsmärkte reicherer EU-Staaten ein oder beginnen dort zu studieren. Das tun jedes Jahr rund 1,3 Millionen Personen. Sie haben in den Zielländern eine höhere Erwerbsquote als die Einheimischen. Sie verdienen mehr. Und sie haben im Schnitt ein höheres Bildungsniveau. Sie sind also für die Gesellschaften der betreffenden Länder ein Gewinn.
  • In Zukunft wird diese von Freizügigkeit geprägte Wanderung an Bedeutung verlieren: einerseits, weil sich Lohnniveaus und Lebensverhältnisse weiter angleichen; und andererseits, weil das Potenzial an verfügbaren einheimischen Arbeitskräften in Regionen am Rand Europas insgesamt kleiner wird. Denn auch wichtige Herkunftsländer der innereuropäischen Wanderung – Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn – haben alternde und schrumpfende Bevölkerungen.
  • Die Migration aus Drittstaaten sieht anders aus: Nur ein Viertel der Zuwanderung ist auf aktive Anwerbung wegen mitgebrachter Qualifikationen oder auf Jobtransfers innerhalb international operierender Konzerne und Organisationen zurückzuführen.

Zwei Drittel der Zuwanderung ori­entieren sich nicht an den Bedürfnissen der europäischen Arbeitsmärkte.

  • Zwei Drittel der Zuwanderung ori­entieren sich hingegen nicht an den Bedürfnissen der europäischen Arbeitsmärkte. Die Asylzuwanderung unterliegt zwar den Regeln von europäischem und nationalem Asylrecht, berufliche Qualifikationen oder Sprachkenntnisse spielen dabei aber keine Rolle. Entsprechend lange dauert die Integration vieler Flüchtlinge in den lokalen Arbeitsmarkt.
  • Das Gleiche gilt für die familienbezogene Migration. Sie ist vom Umfang her der wichtigste Kanal legaler Zuwanderung nach Europa. Sie leitet sich aus dem Grundrecht auf Familienleben ab. Zum kleineren Teil geht es dabei um klassische Familienzusammenführung, bei der in der Europäischen Union lebende Personen mit Aufenthaltserlaubnis ihre im Ausland lebenden Ehepartner und minderjährigen Kinder nachholen dürfen.

  • Häufiger als die klassische Zusammenführung ist die Heiratsmigration. Dabei suchen sich EU-Bürgerinnen und ‑Bürger sowie Ausländer mit Dauer­aufenthaltsstatus eine Braut oder einen Bräutigam im Ausland, heiraten dort und bringen die Partnerin beziehungsweise den Partner mit – quasi als Hochzeitsreise in die EU. Dabei handelt es sich überwiegend nicht um Urlaubs­bekanntschaften oder Kontakte, die über Partnerbörsen vermittelt wurden. Viel häufiger sind arrangierte Ehen. In den EU-Staaten geborene und auf­gewachsene junge Erwachsene mit Migrationshintergrund werden dabei mit Partnerinnen oder Partnern aus der Herkunftsregion von Eltern und Großeltern verheiratet.
  • Für die wirtschaftliche und soziale Integration ist diese Form der Zuwanderung kein Vorteil. Vermittelte Ehepartner – häufiger Bräute als Bräutigame – haben für gewöhnlich keine vergleichbaren Bildungsabschlüsse, verfügen in vielen Fällen nicht über Qualifikationen, die in Europa dringend gebraucht werden, und beherrschen die Sprache des Ziellandes üblicherweise schlecht oder gar nicht. Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, lernen daher zuerst die Herkunftssprache des nachziehenden Ehepartners und nicht die jenes Landes, in dem sie leben.

Die Folgen: Zuwanderung durch Heirat oder Familiennachzug führen seltener zu einer geregelten Erwerbstätigkeit. Erst nach einer Aufenthaltsdauer von über 15 Jahren weisen diese Zu­gewanderten ähnlich hohe Erwerbsquoten auf wie Einheimische.

Die Grenzen sind nicht das Problem

„Grenzen schützen!“: Diese Forderung hört man immer wieder. Doch unsere Grenzen sind nicht wirklich in Gefahr. Asylsuchende und irreguläre Zuwanderer bereiten nicht etwa eine Rückeroberung Andalusiens durch Marokko oder Griechenlands durch die Türkei vor. Wir brauchen Kontrollen, weil unkontrollierte Einwanderung erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat. Im Schengenraum Europas, in dem prinzipiell Reisefreiheit herrscht, bewachen die Mitgliedsstaaten ihre Außengrenzen nicht nur für sich selbst, sondern übernehmen dabei auch Verantwortung für alle anderen. Denn alle, die über eine Außengrenze einreisen, können sich innerhalb der Schengenzone frei bewegen.

Erst in der Migrations- und Flüchtlingskrise 2015/2016 wurde vielen von uns erstmals bewusst, dass es auch wirklich so ist. Weil Griechenland und Italien offensichtlich die Kontrolle über ihre Außengrenzen verloren hatten, kamen irregulär eingereiste Syrer, Afghanen, Nigerianer und andere schon Tage nach dem Grenzübertritt in Städten wie Wien, München oder Stockholm an.

Fehlkonstruktion Frontex

Die europäische Antwort wäre eigentlich die 2005 gegründete EU-Grenzschutzagentur Frontex. Die Behörde leidet allerdings nicht nur unter schweren Effizienzmängeln, sondern wird von vielen EU-Mitgliedsstaaten auch als Fremdkörper betrachtet. Sie rufen die EU-Agentur normalerweise nicht zu Hilfe, wenn sie ein Problem an ihren Außengrenzen haben. Oder sie setzen Frontex-Personal bloß für logistische Aufgaben, aber nicht an der Grenze ein. Wichtigste Ausnahme von dieser Regel ist Griechenland, wo Frontex tatsächlich operativ den Grenzschutz unterstützt.

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Zahlen & Fakten

EU-Grenzschutzagentur Frontex

  • Frontex existiert schon seit 2004. Das Hauptquartier befindet sich in Warschau.
  • Nach der Krise von 2015 wurden Budgetmittel, Personal und Befugnisse schrittweise aufgestockt.
  • Das jährliche Frontex-Budget stieg von sechs Millionen Euro im Jahr 2006 auf 543 Millionen Euro im Jahr 2021.
  • Für 2027 ist ein Haushaltsvolumen von 1,3 Milliarden Euro geplant.
  • Die Zahl der Einsatzkräfte und Experten soll bis dahin auf 10.000 Personen ansteigen.
Frontex im Einsatz
Viel Geld, wenig Nutzen? Frontex in Griechenland. © Getty Images

Eine Ursache für diese Zurückhaltung ist, dass Staaten mit einem Hilferuf eingestehen müssten, dass sie ihre Grenzen selbst nur unzureichend kontrollieren. Doch Regierungen demons­trieren gerne nationale Kompetenz. Ihnen wäre es bedeutend lieber, wenn die EU anstelle von Frontex-Beamten zusätzliches Geld schickte. Dazu kommt die Praxis vieler Staaten, irreguläre Migranten an der EU-Außengrenze in die jeweiligen Nachbarländer zurückzuschieben („Pushback“). Weil bei diesem Vorgang keine Möglichkeit besteht, auf EU-Territorium ­einen Asylantrag zu stellen, halten das die meisten Asylrechtsexperten für rechtlich nicht erlaubt.

Polen hat als einziger EU-Staat eine gesetzliche Grundlage für solche Rückschiebungen geschaffen und praktiziert sie derzeit an der Grenze zu Belarus, wo Diktator Lukaschenko Flüchtlinge aus dem Nahen Osten als Druckmittel gegen die EU einsetzt. Zweifellos wird sich der Europäische Gerichtshof in den kommenden Jahren mit diesem polnischen Gesetz befassen müssen. Jedenfalls hebeln Pushbacks das Grundrecht auf Asyl aus – allerdings nicht nur in Polen.

Heikle Pushbacks

Rückschiebungen unerwünschter Mi­granten haben eine längere Tradition – mit unterschiedlichsten Konsequenzen. Die Schweiz etwa schickte jüdische Flüchtlinge vor und während des Zweiten Weltkriegs ins nationalsozialistische Deutschland zurück und besiegelte damit ihr Schicksal. Finnland tat dies im Kalten Krieg, als aufgegriffene Flüchtlinge aus dem Osten regelmäßig den sowjetischen Behörden übergeben wurden. Heute setzt Finnland diese Praxis mit Russland fort.

Auch Spanien kooperiert in der Mi­grationspolitik traditionell mit Marokko. Marokkanische Grenzorgane versperren Migranten nach Möglichkeit den Weg nach Spanien. Zugleich gibt es Rückschiebungen von Personen marokkanischer und anderer Herkunft, die versuchen, über die Zäune in die spa­nischen Exklaven Ceuta und Melilla zu klettern oder an ihnen vorbeizu­schwimmen.

Pushbacks sind deshalb so verbreitet, weil eine spätere Rückführung der Geflüchteten nur selten gelingt.

Klare Hinweise auf gewaltsame Pushbacks durch kroatische Einsatzkräfte gibt es auch an der Grenze zu Bosnien und Herzegowina. An der griechischen Landgrenze mit der Türkei ist dies seit 2019 gang und gäbe. In jüngster Zeit ging auch die griechische Küstenwache dazu über, durch die Ägäis kommende Mi­granten in aufblasbare Rettungsinseln zu verfrachten, in türkische Gewässer zu schleppen und sie dort ihrem Schicksal zu überlassen.

Pushbacks an der Grenze sind deshalb so verbreitet, weil eine spätere Rückführung von Migranten ohne Bleiberecht ins jeweilige Heimatland nur selten gelingt. Jedes Jahr identifizieren die Behör­den der EU-Staaten mehr als eine halbe Million Ausländer ohne Aufenthalts­genehmigung. Fast alle von ihnen erhalten eine Aufforderung, das Land und die EU umgehend zu verlassen. Tatsächlich nach Hause geschickt wird allerdings nur ein geringer Teil. 2019 waren es 142.000; im Corona-Jahr 2020 überhaupt nur 70.000.

Protest gegen Abschiebungen in Afghanistan
Afghanistan war auch vor Rückkehr der Taliban kein sicheres Herkunftsland für Abschiebungen. © Getty Images

Dafür gibt es zwei Ursachen: Zum einen ist es für die Behörden vieler EU-Staaten nicht leicht, die Ausreise zu erzwingen. Gerade Menschen mit letztlich abgelehntem Asylbescheid sind oft schon jahrelang im Land und sozial integriert. Manche arbeiten oder machen eine Lehrausbildung. Droht eine Abschiebung, dann protestieren häufig Nachbarn, Arbeitgeber, Schulklassen, ganze Kirchengemeinden oder lokale Politiker. Verwaltungsgerichte entscheiden immer wieder gegen abschiebende Behörden – zum Beispiel, weil sich die Sicherheitslage im Zielland verschlechtert hat, wie etwa in Afghanistan, wo die Taliban seit Sommer 2021 wieder an der Macht sind. Fazit: Angesichts geringer Zahlen handelt es sich bei den tatsächlich durchgeführten Abschiebungen eher um Symbolpolitik.

Geld in die Heimat

Zum anderen kooperieren viele Herkunftsländer in Migrationsfragen nur sehr widerwillig mit Europa. Denn ihre Behörden müssten bei der Identitätsfeststellung helfen, Reisepässe ausstellen und in der Folge Abschiebungen per Flugzeug oder Zurückschiebungen an der Grenze akzeptieren. Allerdings ist das in den meisten Herkunftsländern extrem unpopulär, zumal Ausgewanderte in der Regel Geld nach Hause schicken. Viele Familien außerhalb Europas überleben nur dank ­solcher Überweisungen. Denn im ­Gegensatz zur Entwicklungshilfe landet das überwiesene Geld direkt bei den Familien und oft in Gegenden, die für Entwicklungsprojekte völlig uninteressant sind. Die Direktzahlungen in ­harter Währung stabilisieren aber auch die Volkswirtschaften und damit die politischen Verhältnisse in ärmeren Ländern.

In dieser Situation plädieren Europas Innenpolitiker dafür, ein ganzes Paket zu schnüren. Länder, die irreguläre Ausreisen verhindern und ihre Bürger ohne großes Aufsehen zurücknehmen, sollen dafür belohnt werden. Konkret bedeutet das: Direktzahlungen, günstige Kredite, Handelserleichterungen, großzügige Visavergabe oder gar visumfreie Einreise, eventuell eine gewisse Zahl an Arbeitsvisa und Stipendien für Bürger dieser Länder, bei Bedarf auch diplomatische Aufwertung durch Staatsbesuche sowie militärische Kooperation.

Hilfspakete für Willige

Mit den Ländern des Westbalkans, mit Georgien, Moldawien und der Ukraine funktioniert das schon. Denn sie bekommen bilaterale Finanzhilfen, haben eine EU-Beitrittsperspektive oder hoffen zumindest darauf. Und: Bürger dieser Länder (Ausnahme: Kosovo) können ohne Visum in die EU reisen. Viele nützen dies nicht nur für Familienbesuche, sondern auch für Schwarzarbeit – also zum Geldverdienen.

Auch mit anderen Staaten gibt es verhältnismäßig pragmatische Lösungen. Die Europäische Kommission und einzelne EU-Staaten sind bei ihren Arrangements bereit, über demokratische Defizite und sogar über Menschenrechts­verletzungen hinwegzusehen. Das gilt für die Kooperation mit der Türkei, mit Libyen, Ägypten und Marokko. Mit Ländern südlich der Sahara funktionieren solche Deals hingegen in der Regel nicht. Genauso wenig wie mit Bangladesch, Pakistan und vielen Ländern Lateinamerikas. Wer von dort nach Europa einreist und kein Asyl bekommt oder untertaucht und später ohne Aufenthaltsrecht aufgegriffen wird, kann fast immer bleiben.

Die Europäische Kommission ist bei ihren Arrangements bereit, über demokratische Defizite hinwegzusehen.

Warum setzen wir unkooperative Länder nicht stärker unter Druck? Dies hat damit zu tun, dass es neben den Innen- und Justizbehörden auch andere starke Akteure und Lobbys gibt: europäische Konzerne, die in den genannten Ländern investieren oder dorthin exportieren, Agrarexporteure, europäische Banken, die Kredite vergeben, Politiker und Militärs, für die geopolitische Überlegungen wichtiger sind als innenpolitische Rücksichten. Weiters: die gesamte Entwicklungspolitik, an der hunderttausende Jobs von Beratern, Experten und Helfern, aber auch Finanzierungen in Milliardenhöhe hängen. Und schließlich die internationale Diplomatie, der es um offene Gesprächskanäle zu den jeweils Mächtigen vor Ort geht.

Sie alle wollen ihre (ebenfalls legitimen) Interessen nicht den Durchsetzungsproblemen von europäischer Polizei und Grenzschutz sowie von Justiz- und Innenministerien unterordnen. Ganz konkret: Muss die EU die Atomverhandlungen mit dem Iran boykottieren, solange das Land sich weigert, über sein Territorium geflüchtete Afghanen zurückzunehmen? Oder sollten wir den Erdgas-Import aus Algerien von der jährlichen Zahl der Abschiebungen dorthin abhängig machen?

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Zahlen & Fakten

  • 7,6 Millionen Marokkaner kamen zwischen 2010 und 2020 durch Familienzusammenführungen in die EU, mehr als aus jedem anderen Land. Es folgen: Türken (6,3 Mio.), Albaner (4,2 Mio.) und Chinesen (2,6 Mio.).
  • 16 Prozent positive Bescheide erteilt Ungarn auf Asylanträge: Damit ist das Land Schlusslicht in Europa. Malta führt mit einer Rate von 68 Prozent, in Österreich erhalten 52,4 Prozent der Antragsteller Asyl.
  • Im letzten Jahrzehnt ist die Thai-Community in der EU um 25.000 Personen gewachsen, 86 Prozent davon waren Frauen.
  • 2020 lebten 37 Millionen Menschen aus Drittstaaten in der EU, das entspricht 8,3 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 2014 lag dieser Anteil noch bei 6,4 Prozent.

Strategien zum Grenzschutz

2015 gab es in Europa – zumindest anfangs – noch Länder mit ausgeprägter Willkommenskultur. Heute arbeiten die meisten Regierungen daran, möglichst wenige Asylsuchende im Land zu haben. Die Strategien sind unterschiedlich.

  • Spanien baute schon vor 20 Jahren einen Zaun rund um seine Exklaven Ceuta und Melilla an der Grenze zu Marokko. Ungarn folgte mit seinem Grenzzaun 2015, Griechenland machte ab 2018 dicht. Seit Sommer 2021 rüsten auch Polen und Litauen an der Grenze auf und bauen Barrieren.
  • Bulgarien kooperiert schon länger mit der Türkei. Italien rüstete mit Unterstützung von Frontex die libysche Küstenwache auf – allerdings um den Preis, dass sich aus Seenot Gerettete umgehend in menschenunwürdigen Lagern wiederfinden, die sie erst gegen Zahlung von Lösegeld an libysche Milizen verlassen dürfen.
  • Seit 2020 engagiert sich Italien auch in Tunesien, von wo sich zunehmend mehr Einheimische über das Mittelmeer in Richtung Lampedusa und Sizilien aufmachen.
  • Einige Länder winken irreguläre Migranten aber auch weiter, oder sie helfen bei der Weiterfahrt gleich mit. Ungarn zum Beispiel: Dort werden jedes Jahr tausende Menschen, die es von Serbien oder Rumänien aus über den Zaun schaffen, nicht vor Ort registriert, sondern per Bus in die Nähe der österreichisch-ungarischen Grenze gebracht. Im Prinzip machen Ungarns Regierungschef Viktor Orbán und Weißrusslands Alexander Lukaschenko also das Gleiche; mit dem Unterschied, dass Orbán nicht darüber redet.

2020 wurde die Hälfte aller Asylanträge in Deutschland, Spanien und Frankreich gestellt. Zugleich rufen Italien und Griechenland am lautesten nach europäischer Solidarität, obwohl sie von irregulärer Zuwanderung keineswegs am stärksten betroffen sind. Von ihren Küsten gibt es allerdings eine mediale Dauerberichterstattung. Nach mehr Asyl-Solidarität mit Deutschland und Frankreich ruft hingegen niemand.

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Zahlen & Fakten

Infografik zu Asylentscheidungen in der EU 2020
In Ungarn ergingen im Jahr 2020 keine endgültigen Asylentscheidungen.
Quelle: Eurostat

In 14 der 27 Staaten der Europäischen Union gab es 2020 nur wenige Asylanträge – von einigen Dutzend bis zu ein paar hundert. Sie sind also fast gar nicht betroffen. In diesen Staaten wünscht sich eine breite Mehrheit der Bevölkerung, dass das auch so bleibt. Deshalb sind sogenannte „solidarische Lösungen“ in der EU kaum möglich. Denn warum sollten sich Staaten ohne Asylzuzug dies antun? Sie riskieren, nicht nur Flüchtlinge integrieren zu müssen, die gar nicht in ihr Land kommen wollten, sondern auch zur Endstation für abgelehnte Antragsteller zu werden, die deren Heimatland nicht zurückhaben will.

Die Härte hat ihren Preis

Die aktuell härtere Gangart in der Mi­grationspolitik und die Einschränkung des Asylrechts sind heute mehrheits­fähig, aber sie haben ihren Preis. Es wird für Europa schwieriger, in Zukunft andere Länder wegen Verletzungen der Menschenrechte zu kritisieren oder ihnen gar die Aufnahme von Flüchtlingen nahezulegen. Das ursprüngliche Ziel der Europäischen Union, sich global als Werte­gemeinschaft zu positionieren, die Demokratie und Grundrechte verteidigt, verträgt sich nicht mit der aktuellen Migrationspolitik und der sie begleitenden Rhetorik. In Zukunft werden wir es wohl billiger geben müssen.

Die globale Positionierung der EU als Wertegemeinschaft verträgt sich nicht mit ihrer aktuellen Migrationspolitik.

In den meisten Ländern Europas sind die Arbeitsmärkte und Dienstleistungsangebote stark reguliert. Daneben gibt es aber beträchtliche Schwarzmärkte und andere Graubereiche, in denen vorwiegend Ausländer irregulär Arbeit finden. Die Begleiterscheinungen: Steuern und Sozialabgaben entfallen, Mindestlöhne und Arbeitnehmer-Schutzregelungen ebenso. Viele private Haushalte der Mittel- und Oberschicht Europas, auch in Deutschland und Österreich, beschäf­tigen Putz- und Kochhilfen, Kinderbetreuerinnen, Pflegekräfte und Gartenarbeiter ohne Dienstvertrag. Der Lohn kommt oft brutto für netto bar auf die Hand. In der Bauindustrie arbeiten Subunternehmer mit ganzen Brigaden von irregulären, unschlagbar billigen Migranten. Einige Migrantinnen verdienen als Prostituierte ihr Geld.

Damit begünstigen einheimische Arbeitgeber und Privathaushalte die ­unkontrollierte Zuwanderung gering qualifizierter Personen. Auch Teile der ­europäischen Landwirtschaft sind auf billige Helfer angewiesen. Ausländer, die als Wanderarbeiter oder ohne Aufenthaltserlaubnis im Land sind, erweisen sich dabei als leichte Opfer für Ausbeutung – sie haben schließlich keine Wahl. Erst nach Ausbruch der Corona-Pandemie interessierten sich staatliche Organe ernsthaft für die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Erntehelfern und Schlachtern. Inzwischen ist es um dieses Thema wieder still geworden.

Europa altert und schrumpft

2015 war nicht nur der Höhepunkt der Flüchtlingswelle. Jenes Jahr markiert – ohne dass es groß bemerkt worden wäre – auch einen anderen Wendepunkt: Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs starben in den Staaten der EU in Summe mehr Menschen, als Kinder zur Welt kamen. Seither wächst die Lücke. 2020 verstarben in der EU 5,2 von 447,3 Millionen Einwohnern. Im gleichen Jahr kamen nur vier Millionen Kinder zur Welt.

2015 starben erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs in den EU-Staaten mehr Menschen, als Kinder zur Welt kamen.

Zugleich verlassen mehr Menschen den Arbeitsmarkt in Richtung Ruhestand, als aus den Bildungssystemen der EU-Staaten neu nachrücken. In einigen Ländern der Europäischen Union schrumpfen die Bevölkerung und das Potenzial an Arbeitskräften schon seit einiger Zeit: Beispiele für diese Entwicklung sind das Baltikum, Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, aber auch der Norden Frankreichs, weite Teile Griechenlands, Süditalien und Zentralspanien. Nun gilt die Diagnose auch für die EU als Ganzes. Einige Jahre lang fiel das nicht auf, weil es ja einen stetigen Strom an Zuwanderern gab. Aber in den Corona-Jahren 2020/21 sank die Gesamtbevölkerung aller EU-Staaten erstmals – auf 447 Millionen.

Gezielte Zuwanderung

Wie es weitergeht, hängt ganz wesentlich von der zukünftigen Zuwanderung ab. Denn die entscheidet im Europa des 21. Jahrhunderts über Wachstum oder Schrumpfung. Die Grenzen dicht zu machen ist dabei keine hilfreiche Strategie. Es ist allerdings auch nicht sinnvoll, die „demografische Lücke“ zwischen Geburten und Todesfällen durch irgendwelche Zuwanderer zu schließen. Europa braucht zusätzliche Arbeitskräfte, Steuerzahler, frische Talente, noch mehr tüchtige, gut ausgebildete Dienstleister: vom Koch bis zur Physiotherapeutin, vom IT-Techniker bis zur Börsenanalystin.

Das gegenwärtige Übergewicht an Zuwanderung durch Heirat, Familien­zusammenführung und Asyl bietet dafür natürlich keine Garantie. Denn weder bei Flüchtlingen noch bei Ehepartnern ist die Qualifikation für das Aufenthaltsrecht entscheidend. Allerdings gibt es auch unter Asylsuchenden gut qualifizierte Erwachsene. Bei denen wäre ein „Spurwechsel“ heraus aus dem Asylverfahren sinnvoll. Europa braucht zukünftig nicht unbedingt mehr Zuwanderung als heute. Aber wir brauchen eine deutlich ge­zieltere Auswahl. Und wir müssen für talentierte und leistungsbereite Menschen aus dem Rest der Welt attraktiver werden. Also für jene Menschen, die wir für eine positive Entwicklung Europas in Zukunft brauchen. Denn von denen gehen viele heute lieber in die USA, nach Kanada oder nach Australien.

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Conclusio

Europas Antwort auf kommende Zuwanderung sind möglichst dichte Außengrenzen. Doch das ist nur teilweise wirksam, weil 95 Prozent aller Zuwanderer regulär ins Land kommen. Manche beantragen Asyl, nur wenige bekommen Arbeitsvisa, viele kommen über Familienzusammenführungen oder arrangierte Ehen. Solche Zuwanderer haben vielfach nicht die Qualifikationen, die unsere Gesellschaften dringend benötigen. Sie sind daher schwerer zu integrieren. Auf absehbare Zeit braucht Europa nicht mehr Zuwanderung als heute. Aber wir sollten eine gezieltere Auswahl treffen, um die Lücken auf unseren Arbeitsmärkten zu schließen. Europas alternde und schrumpfende Gesellschaften müssen für talentierte und leistungsbereite Menschen aus dem Rest der Welt attraktiver werden.