Die schwierige Kunst des Mindestlohns

Ein hoher Mindestlohn kann dem einzelnen Arbeitnehmer helfen – und gleichzeitig der Wirtschaft schaden. Seine richtige Höhe zu finden ist kompliziert. Eine Lösung liegt in der Dezentralisierung.

Dieser Report erschien am 17. September 2017 auf Geopolitical Intelligence Services.

Demonstration für 15 Dollar Mindestlohn in New York
Die Demonstrationen für Mindestlöhne nahmen in New York ihren Anfang. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Populäre Maßnahme. Mindestlöhne gelten in der Öffentlichkeit als wirksames Mittel gegen Armut und soziale Ungleichheit.
  • Zweierlei Maß. Es gibt noch keine eindeutigen Schlüsse. In manchen Fällen gibt es negative Effekte am Arbeitsmarkt (Seattle/USA), in anderen (Deutschland) eher nicht.
  • Mit Maß und Ziel. Ist der Mindestlohn zu niedrig, wird keine Arbeitskraft angezogen. Ist er zu hoch, leidet die Beschäftigung unter den wirtschaftlichen Bedingungen.
  • Ein Lösungsansatz. Durch Dezentralisierung können Mindestlöhne branchenspezifisch zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern festgelegt werden.

In vielen Ländern wird der Ruf nach einer Anhebung des Mindestlohns lauter. In den USA hat die Initiative „Fight for $15“ seit 2012 an Dynamik gewonnen. Damals haben einige New Yorker Fast-Food-Mitarbeiter begonnen, für einen höheren Mindestlohn zu demonstrieren. Die Bewegung fand Unterstützung in der ganzen Welt. Seattle im Bundesstaat Washington erlangte Popularität, indem die Stadt den Mindestlohn schrittweise auf 15 Dollar pro Stunde erhöhte. Deutschland führte 2015 einen nationalen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde ein.

Solche Maßnahmen werden als ein Weg zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit gesehen. Diese beiden sozialen Übel können schwerwiegende politische und sogar geopolitische Auswirkungen haben: Zu viel Armut oder Ungleichheit können zu sozialen Unruhen und Instabilität führen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine solche Politik weise. Und während die traditionelle Wirtschaftstheorie prognostiziert, dass eine Anhebung des Mindestlohns negative Auswirkungen auf die Beschäftigung haben kann, kommen empirische Studien zu gemischten Ergebnissen. Die Debatte geht also weiter. Wo stehen wir jetzt?

Widersprüchliche Botschaften

In Deutschland wurde 2015 ein bundesweiter Mindestlohn von 8,50 Euro eingeführt und später auf 8,84 Euro erhöht. Diese Maßnahme wirkte sich insgesamt positiv aus, ohne negative Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau. Die Löhne stiegen und stellenweise auch die Produktivität. Die Maßnahmen waren von Übergangsfristen und Ausnahmeregelungen für kleine Unternehmen begleitet. Die spezifische deutsche Situation (sehr niedrige Arbeitslosigkeit und Inflation, eine alternde Bevölkerung und eine günstige Konjunktur) trug ihren Teil dazu bei, dass die negativen Folgen für die Beschäftigung ausblieben.

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Zahlen & Fakten

Auf der anderen Seite scheint eine aktuelle Studie des National Bureau of Economic Research (NBER), die sich auf die detailliertesten Daten stützt, die je zum Experiment in Seattle gesammelt wurden, dem Optimismus den Wind aus den Segeln zu nehmen: Auch wenn die erste Anhebung des Mindestlohns von 9,47 Dollar auf 11,00 Dollar im Jahr 2015 nur eine leicht negative Auswirkung auf die Beschäftigung hatte, so fielen 2016 nach der zweiten Anhebung von 11,00 Dollar auf 13,00 Dollar die Zahl der Niedriglohnjobs um neun Prozent und die realen Monatslöhne für diese Jobs um drei Prozent. Offensichtlich können Mindestlöhne ab einem bestimmten Niveau tatsächlich negative Folgen haben.

Wie das Beispiel Seattle zeigt, kann die Anhebung der Mindestlöhne zwar gut gemeint, aber mit ungewollten Folgen verbunden sein. Eine Veränderung der wirtschaftlichen Realität zu erzwingen, indem man versucht, den wirtschaftlichen Fortschritt zu beschleunigen, kann zum gegenteiligen Effekt führen. Ein zu hoher Mindestlohn hat das Potenzial, Arbeitnehmern auf verschiedene Weise zu schaden.

Größe spielt eine Rolle

Erstens kann eine Anhebung der Löhne zu steigenden Preisen führen, da Unternehmen ihre höheren Kosten an die Verbraucher weitergeben. Preiserhöhungen können den Anstieg der Löhne ausgleichen, so dass das Realeinkommen der Arbeitnehmer im Wesentlichen unverändert bleibt.

Zweitens, und wahrscheinlich noch wichtiger, ist die Frage der Kluft zwischen der Produktivität der Arbeitnehmer und ihren Löhnen: Um profitabel zu sein – so unangenehm das Wort klingen mag – muss ein Arbeitnehmer mehr Wert generieren, als seine Kosten für den Unternehmer betragen. Andernfalls würde die Einstellung des Arbeitnehmers zu einer Wertvernichtung führen. In solchen Fällen entlässt der Unternehmer den Beschäftigten.

Die Anhebung der Mindestlöhne mag gut gemeint sein, aber ist oft mit ungewollten Folgen verbunden.

Weniger qualifizierte Arbeitnehmer sind in der Regel weniger produktiv. Dazu gehören junge Menschen, Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und Migranten. Ihnen weit mehr als den Wert ihrer Fähigkeiten zu bezahlen, kann wirtschaftlich nicht dauerhaft funktionieren. Stattdessen werden Unternehmen Arbeiter durch kostengünstigere Technologien ersetzen. Beispielsweise durch automatisierte Kiosks in Fast-Food Restaurants. Wenn Arbeiter nicht leicht und billig durch Maschinen ersetzt werden können, können Unternehmer entweder ihre Tätigkeit einschränken oder ganz einstellen.

Netzwerkgröße

Eine etwas komplizierter Möglichkeit, das Thema zu betrachten, ist die „Netzwerkgröße“. Verschiedene wirtschaftliche Umgebungen haben unterschiedliche Entwicklungsniveaus. Wie bereits Adam Smith im 18. Jahrhundert sagte, sind diese eine Funktion der wirtschaftlichen Netzwerkgröße: Ein größerer Markt (mit mehr Menschen und mehr Wohlstand) ermöglicht eine stärkere Spezialisierung. Der Ökonom, Allyn Young führte diese Theorie später noch weiter aus: Die zunehmende Spezialisierung auf größeren Märkten ermöglicht durch die höheren Einkommen, dass diese Märkte wachsen. Diese einfachen Gesetze haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Mindestlohnpolitik.

Zwei Männer halten eine überdimensionale Polizeikelle mit der Aufschrift Mindestlohn hoch
Der deutsche Bundestag gab 2014 grünes Licht für einen nationalen Mindestlohn. © Getty Images

Stellen wir uns zwei gleich qualifizierte Arbeitnehmer vor, die in zwei ökonomischen Umgebungen die gleiche Arbeit ausüben: Der eine arbeitet in einem weit entwickelten wirtschaftlichen Netzwerk – typischerweise in einem größeren Markt – und der andere in einem weniger fortgeschrittenen Umfeld. Der erste Arbeitnehmer kann deutlich mehr Wert generieren als der zweite. Den Lohn des letzteren auf dem weniger fortgeschrittenen Markt stark anzuheben bedeutet, dass ein Unternehmer den Arbeiter unabhängig von seinen Fähigkeiten nicht bezahlen kann, weil die Größe des lokalen Marktes einen so hohen Lohn nicht verkraftet. Man stelle sich zum Beispiel die Auswirkungen einer Angleichung des bulgarischen Mindestlohns an den französischen vor.

Wo anfangen, wo aufhören?

Es kann jedoch bereits irreführend sein, sich ein Land als homogene Einheit vorzustellen. Selbst innerhalb von Staaten gibt es enorme Unterschiede und Entwicklungsstadien. Länder und sogar Städte setzen sich aus verschiedenen wirtschaftlichen Umgebungen zusammen. Ein Mindestlohn, der für die nationale Wirtschaft passend scheint, kann weniger fortgeschrittenen lokalen Netzwerken schaden. Wenn der nationale Mindestlohn für ihren Entwicklungsstand zu hoch ist, kann dies zu einer dauerhaften wirtschaftlichen Ausgrenzung führen, mit allen damit verbundenen politischen und sozialen Risiken.

Natürlich macht es die Komplexität der wirtschaftlichen Netzwerke sehr schwierig, sie eindeutig zu definieren. Wo fängt ein Netzwerk an, wo endet es? Wie entscheidet man, was zu einer „wirtschaftlichen Umgebung“ gehört? Kann ein Ort zu mehreren Netzwerken gehören? Angesichts solcher Schwierigkeiten ist das einzige messbare und relevante „Netzwerk“ in der Praxis der Vertrag zwischen einem Arbeitnehmer und einem Unternehmen. Ein staatlich festgesetzter Mindestlohn erscheint unmöglich. In Ländern wie Schweden oder Dänemark werden Mindestlöhne zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ausgehandelt, in der Regel für einzelne Branchen. Dies setzt allerdings ein „horizontales“ Sozialmodell mit einem sehr hohen Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern voraus.

Dezentralisierte Entscheidungen

Was aber, wenn Politiker und Bevölkerung auf die Einführung eines Mindestlohns bestehen? Wie finde ich das das optimale Niveau? Erstens ist, aus den oben angeführten Gründen, eine dezentralisierte Umsetzung zu wählen. Trotz der Schwierigkeiten, die das mit sich bringt.

Die lokalen Behörden haben eine bessere Kenntnis des lokalen Arbeitsmarktes und direkten Kontakt zu den Unternehmen und Berufsverbänden. Statt eines nationalen Mindestlohns, der blindlings verschiedene Arbeitsmärkte aufgezwungen wird, wäre es besser, das „Subsidiaritätsprinzip“ anzuwenden. Das Schweizer Kanton Jura Beispielswiese hat so im Jahre 2017 einen Mindestlohn eingeführt. Auf lokaler Ebene sind Folgen direkter sichtbar und es können leichter Korrekturen vorgenommen werden.

In einem demokratischen Prozess, der nah an den Menschen und den Unternehmen wäre, würden die lokalen Mindestlöhne schrittweise an ihr „angemessenes Niveau“ angepasst – nicht zu niedrig, um weiterhin Arbeitskräfte anzuziehen. Aber eben auch nicht so hoch, dass die Beschäftigung unter den lokalen wirtschaftlichen Bedingungen leidet.

Nicht zu nah am Durchschnittslohn

Es wäre auch ratsam, einen Mindestlohn einzuführen, der nicht zu nahe am Durchschnittseinkommen liegt. Mindestlöhne, die zu nahe am Durchschnitt liegen (zum Beispiel mehr als 50 Prozent des Durchschnittslohns), können sich nachteilig auf die Beschäftigung auswirken und die Lohnskala komprimieren, also die höheren Löhne drücken. In Deutschland zum Beispiel wurde der neue nationale Mindestlohn auf 48 Prozent des Durchschnittslohns festgelegt – gegenüber 61 Prozent in Frankreich.

Die Abschaffung von Mindestlöhnen ist politisch schwer durchsetzbar.

Die Abschaffung von Mindestlöhnen ist politisch schwer durchsetzbar. In Ländern mit einem im Vergleich zum Durchschnittseinkommen hohen Mindestlohn können die Regierungen versuchen, die negativen Auswirkungen zu mildern, indem sie die Sozialabgaben auf niedrigere Löhne und somit die Arbeitgeberkosten senken und gleichzeitig das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer schützen. Frankreich hat diesen Weg gewählt. Dies zwingt jedoch andere Arbeitnehmer dazu, unverhältnismäßig hohe Sozialleistungen zu zahlen. Außerdem neigen Löhne bei diesen niedrigen Niveaus zu einem „Lock-in“-Effekt, der potenziell zu langfristiger Instabilität führen kann. Höhere Löhne werden also für Unternehmer wie Arbeitnehmern unattraktiv.

Es gibt Spielraum

Um die vielen Probleme zentralisierter Mindestlohnsysteme zu umgehen und den politischen Entscheidungsträgern genügend Handlungsspielraum zu lassen, gibt es eine weitere Option: die Kombination eines niedrigen nationalen Mindestlohns und höheren lokalen Mindestlöhnen. Dies ist bereits in den Vereinigten Staaten der Fall, wo nicht alle Bundesstaaten einen Mindestlohn haben. Beispielsweise hat sich Berlin, wie auch Seattle, für einen höheren Mindestlohn von neun Euro entscheiden als der bundesweit vorgeschriebene.

Eine weitere Alternative ist ein stärker dezentralisiertes Sozialmodell wie in den nordischen Ländern, bei dem die einzelnen Branchen und Gewerbe für den Mindestlohn zuständig sind. Diese Entwicklung hängt natürlich von der historischen Entwicklung des Sozialmodells eines Landes ab. Angesichts der Zunahme von tendenziell geringer qualifizierten Einwanderern sollte die Politik ernsthaft darüber nachdenken, welches Modell besser geeignet ist, um die Neuankömmlinge am besten in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

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Conclusio

Mindestlöhne sind beliebt. Ein zu hoher Mindestlohn kann allerdings negative Effekte auf die Beschäftigung haben. Die Wirtschaft ist nicht überall gleich stark. Ein Mindestlohn kann an einem Ort problemlos funktionieren und an einem anderen negative Auswirkungen haben. Daher sollten Mindestlöhne auf lokaler Ebene oder für einzelne Branchen verhandelt werden. Nationale Mindestlöhne müssen die regionalen Unterschiede beachten.