Zurück zur Natur – nur eine Illusion

Richtiger Artenschutz wird für Mitteleuropa eine immer drängendere Aufgabe. Bestehende Maßnahmen verfehlen den Kern des Problems: Statt einer Rückkehr zur unberührten Natur braucht es den Eingriff des Menschen.

Fliegender Schmetterling
Naturschutz ist nicht automatisch mit Artenschutz gleichzusetzen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Problem Artenschwund. Seit dem 19. Jahrhundert sinkt die Zahl der Tier-, Vogel- und Insektenarten in Mitteleuropa beständig.
  • Zu wenig Natur? Viele glauben, nachhaltiger Artenschutz funktioniert nur durch eine Rückkehr zur unberührten Natur. Aber das ist ein Irrglauben.
  • ...oder zu viel. Die meisten mitteleuropäischen Arten sind „Migranten“ – und an Lebensräume gewöhnt, die vom Menschen verändert wurden.
  • Umdenken benötigt. Die bestehenden Maßnahmen zum Artenschutz verfolgen das falsche Ziel. Es gilt, zwischen Natur- und Artenschutz zu differenzieren.

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gab es in Mitteleuropa viel mehr Vögel und Schmetterlinge und andere Tierarten als heute. Seitdem verschwinden viele Arten in zunehmendem Maße. Über die Ursachen wird in der Politik, in den Medien und in den Fachzeitschriften viel diskutiert, und es wurden auch schon viele Maßnahmen gegen den Artenschwund verwirklicht – doch der Erfolg ist gering. Statt die Schuld immer wieder der mangelhaften Umsetzung der verordneten Maßnahmen zuzuschreiben, sollten die Maßnahmen selbst überdacht werden.

Verbreiteter Irrglaube

Eine Schwierigkeit liegt darin, dass die breite Öffentlichkeit glaubt, die Arten würden sich zurückziehen, weil der Mensch zu sehr in die Natur eingreift. Die Erhaltung naturnaher Landschaften ist aber eher eine Sehnsucht des Menschen als ein vielversprechender Weg zur Verhinderung des Rückgangs vieler Arten in Deutschland. Zum Schutz und zur Neuansiedlung bedrohter Arten bietet sich im heutigen Zeitalter des Anthropozäns eher eine Abkehr vom Prinzip an, man müsse dazu möglichst naturnahe Lebensräume (Biotope) erhalten. Stattdessen sollten ausgewählte Biotope den Bedürfnissen gefährdeter Zielarten angepasst werden.

Die Erhaltung naturnaher Landschaften ist eher eine Sehnsucht des Menschen als ein vielversprechender Weg zur Verhinderung des Artenrückgangs.

Dazu muss bedacht werden, dass die Natur für den Artenschutz in Mitteleuropa eine ganz andere Bedeutung hat als etwa in den tropischen Regenwäldern. Bei uns wurde der Mensch schon kurz nach dem Ende der Eiszeit als Ackerbauer und Viehzüchter sesshaft und geriet dadurch in Gegensatz zur Natur. Er hörte auf, seine Nahrung durch Jagen und Sammeln aus einer ansonsten unberührten Natur zu entnehmen und begann, die Landschaft für die Produktion seiner Nahrung umzugestalten. Zwar war die Zahl der Menschen in der Jungsteinzeit und Bronzezeit gering, jedoch wurden die Siedlungen meist schnell wieder verlassen und neue Gebiete gerodet, so dass der Mensch viele Gebiete flächendeckend verändert hat. Die auf den geräumten Flächen aufkommenden Wälder hatten nicht mehr die gleiche Zusammensetzung an Baumarten wie die ursprünglich dort vorhandenen Wälder.

Un-Natürlicher Lebensraum

Die meisten Lebensräume Mitteleuropas sind nicht natürlich, sondern tragen die Zeichen menschlicher Eingriffe. Schon seit der nacheiszeitlichen Wiederbewaldung hat der Mensch die Eigenentwicklung der Natur an vielen Stellen behindert. Die Beseitigung von Wäldern nahm dann in der Römerzeit stark zu, und vom Mittelalter bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde Mitteleuropa weitgehend entwaldet. Von den einzelnen Dörfern aus konnte man oft die Nachbardörfer sehen – für uns heute unvorstellbar.

Ähnlich unvorstellbar ist für uns heute, dass Ortschaften am Rande von Heidelandschaften gelegentlich von Wanderdünen bedroht waren. Grund dafür ist, dass aus der Natur nicht nur Bäume und Büsche beseitigt wurden. Die baumfreien Heiden, Berghänge und Talböden waren überweidet und in ihrer Bodenvegetation stark ausgelichtet; zudem wurden die Böden der Heiden und in den Wäldern teilweise abgeplaggt, und das Unterholz aus den Resten der noch übrig gebliebenen Wälder für den Winter eingesammelt. Äcker, Wiesen und Weiden enthielten damit Kies-, Sand-, Feucht- und Schlammflächen, die nur spärlich bewachsen waren.

Tierarten mit Migrationshintergrund

Das waren die Lebensräume, an die sich die Tierarten in Mitteleuropa nach der Eiszeit angepasst haben. Die Eiszeiten haben in Mitteleuropa aber die meisten Arten des späten Tertiärs, also der letzten warmen Klimaperiode vor Beginn des Eiszeitalters, vernichtet, weil die Gebirge im Süden die Ausweichmöglichkeiten versperrten. Daher gibt es heute in Mitteleuropa kaum wirklich typische „Mitteleuropäer“, also heimische (endemische) Arten.

Die meisten in Mitteleuropa lebenden Tierarten sind nacheiszeitliche Einwanderer; sie haben einen „Migrationshintergrund“. Sie kamen in den letzten Jahrtausenden aus den offenen Landschaften des Ostens und Südens und haben auch heute hier nur ein nebensächliches Vorkommen, während ihr Kernvorkommen weiterhin in Osteuropa, Asien oder im Mediterranraum liegt. Fast kein einziger heute in Deutschland lebender Tagschmetterling ist ein wirklich „deutscher“ Tagfalter – er ist allenfalls ein auch in Deutschland lebender Falter.

Naturschutzgebiet-Schild in einem Waldstück
Die Zahl der Naturschutzgebiete nimmt zu. Das hilft dem Artenschutz aber nur bedingt. © Getty Images

Viele Tierarten Mitteleuropas bewohnen Lebensräume, die denen ihres Herkunftslandes ähnlicher sind als den Lebensräumen, die hier „natürlich“ sind – die also hier entstehen würden, wenn der Mensch aufhören würde, in die Natur einzugreifen. Die nacheiszeitliche Einwanderung vieler Arten aus den Kernländern des Ostens und Südens wurde dadurch möglich, dass der Mensch seit der Jungsteinzeit als Ackerbauer die Wiederbewaldung durch Rodungen beeinträchtigt hat und Teile der mitteleuropäischen Landschaft zu Offenflächen umgestaltet hat. Dadurch fanden die Arten die Lebensräume ihrer Kernländer nun auch bei uns vor und konnten Mitteleuropa besiedeln.

Natur „Natur“ sein lassen

Würde man heute Mitteleuropa vollständig der Abfolge der Vegetation überlassen („Natur Natur sein lassen“), so käme es auf den meisten Flächen zu einer dichten Bewaldung und Mitteleuropa würde einen nicht unerheblichen Anteil seiner Arten verlieren. Rebhühner, Lerchen, Pieper, Schwalben, Würger und Ammern – sie alle sind keine Tiere des Waldes.

Die meisten Lebensräume Mitteleuropas sind nicht natürlich, sondern tragen die Zeichen menschlicher Eingriffe.

Die offenen Kulturlandschaften sind die Lebensräume, denen Mitteleuropa seinen großen Artenreichtum verdankt. Gleichzeitig sind es aber auch die Lebensräume, in denen die Arten seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in zunehmendem Maße verschwinden. Das kann nicht daran liegen, dass wir nicht genug ursprüngliche Natur haben; im Gegenteil: die vielen Aufforstungen der letzten anderthalb Jahrhunderte haben die Landschaften Mitteleuropas naturnäher gemacht, als sie es vorher waren.

Die alten Anbau- und Erntemethoden, die früher die Basis des mitteleuropäischen Artenreichtums waren, sind einer perfektionierten Agrartechnik und einer vorher nie dagewesenen Überdüngung gewichen. Gleichzeitig ist die Beweidung der Heiden, Berghänge und Bachtäler stark zurückgegangen. Viele dieser wertvollen Habitate sind durch Aufforstung vernichtet worden. Alle diese Faktoren haben zu einer Vegetationsverdichtung (Eutrophierung) der gesamten Landschaft geführt, so dass die land- und forstwirtschaftlich bearbeiteten Flächen und die ungenutzten Randgebiete (sofern sie noch vorhanden sind) für viele Arten unbewohnbar geworden sind.

Bestehende Maßnahmen zum Artenschutz

Der gegenwärtige Artenschwund ist von öffentlichem Interesse und daher fast jedem bekannt. Die meisten Menschen sind einer Meinung, dass da etwas getan werden muss; die Wege zur Abhilfe sind allerdings umstritten. Das liegt nicht nur daran, dass die meisten Lösungswege mit wirtschaftlichen Einbußen verbunden sind. Es liegt auch daran, dass es Menschen gibt, die sowohl Natur als auch den verlorenen Artenreichtum zurück haben wollen – und dabei die Meinung vertreten, beides mit den gleichen Maßnahmen erreichen zu können. Das mag für Brasilien zutreffen, aber nicht für Mitteleuropa.

Die Europäische Union hat 1979 zum Schutz der Vogelarten die „Richtlinie 79/409/EWG“ (Vogelschutz-Richtlinie) und zum Schutz der Tiere und Pflanzen 1992 die „Richtlinie 92/43/EWG“ (Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, FFH-Richtlinie) erlassen. Beide Richtlinien verfolgen das Ziel, die Arten durch Erhalt ihrer „natürlichen“ Lebensräume langfristig sicherzustellen. EU-Vogelschutzgebiete und FFH-Gebiete (sog. „Natura-2000-Gebiete“) nehmen in Deutschland insgesamt 15,5 Prozent der Landesfläche ein.

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Zahlen & Fakten

Natura-2000 Gebiete in Deutschland...

  • setzen sich aus 740 EU-Vogelschutzgebieten und 4.606 FFH-Gebieten zusammen
  • bedecken 15,5 Prozent der Landesfläche - davon entfallen 11,2 Prozent auf Vogelschutz- und 9,3 Prozent auf FFH-Gebiete
  • sind klein - jedes vierte FFH-Gebiet umfasst weniger als 50 Hektar; zum Vergleich: der europäische Durchschnitt liegt bei circa 800 Hektar

Ein so hoher Anteil an Schongebieten hätte den Artenschwund eigentlich schon längst stoppen sollen. Jedoch sind viele Arten weiterhin rückläufig, auch in den Natura-2000-Gebieten. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass die in der FFH-Richtlinie vorgeschriebenen Maßnahmen nur unzureichend umgesetzt werden und strenger befolgt werden sollten. Man kann aber auch zu dem Schluss kommen, dass die in der FFH-Richtlinie vorgeschriebene Bewahrung „natürlicher“ Lebensräume nicht der beste Weg ist, einige der immer seltener werdenden Tierarten zu erhalten – weil diese Arten nicht wegen des Verlustes an „natürlichen“ Lebensräumen verschwinden, sondern wegen der Zerstörung der alten Kulturlandschaft.

…und ihre Schwächen

Die in der EU-FFH-Richtlinie vorgeschriebenen Habitate zur Erhaltung der wildlebenden Tiere und Pflanzen beschränken sich auf „natürliche“ Lebensräume. Die Richtlinie verlangt nicht die Erhaltung von brachliegenden Flächen, bewirtschafteten Äckern oder Weinbergen, Steinmauern, Obstwiesen oder Lebensräumen in Siedlungen. Damit geht es der EU-FFH-Richtlinie also mehr um die Erhaltung von Naturräumen und deren Pflanzengesellschaften als um die Erhaltung von Tierarten. 

Da die heute gefährdeten Tierarten größtenteils auf den ehemals land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen vorgekommen sind, wäre der konsequenteste Weg zur Wiedergewinnung des verlorenen Artenreichtums eine Rückkehr zu den Bewirtschaftungsmethoden, wie sie in früheren Jahrhunderten vorgeherrscht haben. Dieser Schritt zurück müsste allerdings drastisch sein. Maßnahmen in kleinen Schritten, wie etwa Änderungen in der Fruchtfolge oder die zurzeit vorgesehenen Einschränkungen beim Mähen von Gras und Getreide reichen bei weitem nicht aus.

Es ist eine Illusion, dass diese Verordnungen an die landwirtschaftlichen Produktionsmethoden Arten wie Rebhuhn, Kiebitz, Grauammer, Braunkehlchen oder Wiesenpieper auf die Agrarflächen zurückbringen würden: Diese Arten benötigen karg und spärlich bewachsene Agrar- und Weideflächen wie in früheren Jahrhunderten. Die Landwirtschaft derart zurückzuschrauben, ist jedoch unmöglich, weil es unseren Lebensstandard drastisch senken und auch die Welternährung gefährden würde.

Alternativvorschläge zum Artenschutz

Der Schlüssel zur Erhaltung gefährdeter Offenlandarten scheint andernorts zu liegen. Seit einigen Jahrzehnten zeichnet sich ab, dass ein Teil der von den landwirtschaftlichen Räumen verschwundenen Arten auf Truppenübungsplätze, Braunkohle- und Kiesabbauflächen sowie Industriebrachen ausweicht. Dort finden sich noch genügend Flächen, die den ertragsarmen landwirtschaftlichen Böden früherer Jahrhunderte deswegen ähnlich sind, weil sie nicht von dichter Vegetation überwuchert sind.

Diese bemerkenswerte Verlagerung der Artenbestände von den ehemaligen Agrarflächen auf andersartig genutzte Flächen zeigt uns einen Weg, wie man den Artenrückgang eindämmen könnte. Da die derzeitige Überdüngung unserer Landschaft durch eine nie dagewesene Stickstoffemission nicht effektiv genug gesenkt werden kann, ohne unseren gesamten Lebensstil zu ändern, wäre es eine realistische Perspektive, Böden mit kargem Bewuchs durch Abtragen der Vegetation künstlich zu schaffen. Dadurch kann man das ehemalige Erscheinungsbild der stickstoffarmen Böden simulieren.

Ein Weg für den künftigen Artenschutz wäre die Schaffung maßgeschneiderter Habitate für bestimmte Zielarten neben den landwirtschaftlichen Ertragsflächen. Auf solchen Sonderflächen könnten Landwirte zu Artenschützern der Zukunft ausgebildet werden. Mit ihrem Gerät und Know-How könnten sie unter fachkundiger Beratung neben der Aufzucht von Feldfrüchten auf den ertragsorientierten Agrarflächen auf ausgewiesenen Sonderflächen auch die Wieder-Ansiedlung von selten gewordenen Arten wie Rebhühnern, Kiebitzen und Grauammern in die Wege leiten.

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Conclusio

Weltweit steigen jährlich die Zahlen der vom Aussterben bedrohten Tierarten. Auch in Mitteleuropa sind immer mehr Tier- und Vogelarten vom Artenschwund betroffen. Maßnahmen, um diesen Artenschwund zu stoppen, gibt es – aber sie sind unergiebig, weil sie eine Rückkehr zur unberührten Natur fordern. Den meisten mitteleuropäischen Tier- und Vogelarten sind unkultivierte Lebensräume fremd. Statt Natur „Natur“ sein zu lassen, sollten maßgeschneiderte Habitate für bestimmte Zielarten geschaffen werden. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist die Verlagerung von Artenbeständen auf ehemalige Truppenübungsflächen und Industriebrachen.