Die guten Seiten der Coronakrise


Die Pandemie hatte auch positive Aspekte. Der neue Lebensstil während der Coronakrise war zum Beispiel gut für unsere menschliche Natur. Eine Bilanz aus der Perspektive eines Biologen.

Die Pandemie förderte die Digitalisierung - im Guten wie im Schlechten
Videokonferenzen wurden zum Sinnbild der Ambivalenz der Pandemie. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Normalität ausgehebelt. Die Pandemie hat uns an unsere Grenzen gebracht und resilient gemacht, das gehört zu den guten Seiten der Coronakrise.
  • Leben in der Krise. Corona war existenzbedrohend, doch die Entschleunigung, die sie manchen brachte, entspricht mehr unserer menschlichen Natur.
  • Stress managen. Ein starkes Wir-Gefühl könnte zu den positiven Aspekten der Coronakrise gehören, aber es fördert auch Freund-Feind-Denken.
  • Lehren ziehen. Die Coronakrise könnte der Auftakt für mehr Digitalisierung und einen nachhaltigeren und gesünderen Lebensstil sein.

Mit März 2020 veränderte sich die Welt. Seit damals sind Menschen in Stresszuständen, worauf jeder teils recht ähnlich, teils ganz unterschiedlich reagiert. Die Krise betont vor allem die Schwächen von Demokratie und Gesellschaft, die bereits vorher latent vorhandenen waren, etwa die Gegensätze zwischen Arm und Reich, Oben und Unten, zwischen Frauen und Männern.

So liefert dieses unwillkommene, aber aus wissenschaftlicher Perspektive hochinteressante Experiment tiefe Einsichten in das Wesen von Mensch und Gesellschaft. Manche überraschen, andere sind trivial und viele beleidigen schon lange unsere Intelligenz, weil Corona seit mehr als 18 Monaten alle Medien beherrscht. Alles andere ist in den Hintergrund geraten, als gäbe es kein Morgen, keine Klimakrise und keine Ereignisse außerhalb unserer Corona-Welt mehr. Politik, Medien und Gesellschaft sind von Corona zwar irritiert, aber haben sich bereits häuslich eingerichtet. Unsere Gesellschaft leidet an Corona-bedingter Perspektivenverengung.

Was Angst macht

Diese Konzentration auf das Virus ist von Politik und Medien sicherlich gut gemeint; bekanntlich ist gut gemeint aber allzu oft das Gegenteil von Gut. Denn perspektivisch verengte Geister lassen sich einfach lenken – beispielsweise mittels ständiger Angstmache. Die Zumutung der Einschränkungen wird daher zumindest öffentlich murrend akzeptiert. War die Bevölkerung im März 2020 solidarisch konform, so herrscht heute in vielen privaten Wohnzimmern der irrationale zivile Ungehorsam – was uns bereits im Winter 2020/21 hohe Infektionsraten bescherte. Seit Monaten tobt die Irrationalität um die Frage, ob man sich impfen lässt oder nicht.

Vor Corona hielt man viele der gewählten Repräsentanten eher für zahnlose Papiertiger, mitten in der Pandemie staunte man nicht schlecht, zu welcher Machtausübung diese dann fähig waren. Die Einschränkungen aktivierten zunächst ein typisch menschliches „Wir-halten-zusammen“-Programm, zunehmend aber auch das „Wir-gegen-die-anderen“. Selbsternannte Blockwarte empörten sich und jene, die aus Sorge um die Demokratie auf die Straße gingen, klassifizierte man pauschal als Mob. Wie praktisch, dass Radikale, QAnon und Spinner aller Schattierungen solche Demos unterwanderten, erlaubte dies doch pauschales Abstempeln – Perspektivenverengung und Polarisierung waren die Folge. Natürlich dürfen sich besorgte Demokraten fragen, ob sie sich wirklich unter solches Volk mischen wollen.

Verengte Sicht

Die an sich richtigen Maßnahmen von Seiten der Politik werden in ihren Details von Vielen als ungerecht und irrational empfunden, weil sie nie alle gleichermaßen betreffen. Sicherlich hat man auch die Fülle an Kollateralschäden durch das Schließen von Schulen, Unis, Kultur- und Sporteinrichtungen und Wirtschaft stark unterschätzt, nicht zuletzt aus einer Unkenntnis der menschlichen Natur. In der Pandemie müssen naturgemäß zunächst die Virologen und Epidemiologen das Sagen haben, doch dass für lange Zeit ausschließlich sie gehört wurden, produzierte eine veritable Verengungskrise. Diese wäre durch mehr Kompetenz und Weitblick in Politik und Gesellschaft vermeidbar gewesen.

Freilich, auch Politiker sind nur Menschen. Es fühlt sich deswegen umso bedrohlicher an, weil die Verengung der Perspektiven auch unsere recht gleichförmige Medienlandschaft erfasst hat. All das sind ungute Indizien dafür, dass es um Bildung und Format jener, die unsere Res publica am Laufen halten sollten, nicht allzu gut bestellt ist.

Kollektiv oder Individuum

Eine der wichtigen Fragen scheint, ob in der Krise ein kollektives „Wir“ entsteht, und ob das ein Wunschtraum oder Wirklichkeit ist. Viele Menschen erlebten die wiederholten Lockdowns als existenzbedrohend. Ich aber saß in meinem gemütlichen Arbeitszimmer, schrieb alle möglichen Beiträge, streifte täglich mit den Hunden durch Wald und Flur und genoss ein im Vergleich zu vor Corona entschleunigtes Leben. Befreiend, dass die sonst mehrmals wöchentlich stattfindenden Fahrten zu Besprechungen, Seminaren, Vorträgen, Vorlesungen und Medienterminen entfielen, weil die Lockdowns jedem vor Augen führten, dass man vieles auch per Videokonferenz erledigen kann.

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Zahlen & Fakten

Corona harmonisierte meine Life-Work-Balance, weil es digitale Kompetenz erzwang. Vieles davon könnte bleiben und für mehr Flexibilität in Verwaltung, Lehre und Zusammenleben sorgen. Administrative Besprechungen können digital gut funktionieren, kreatives gemeinsames Arbeiten jedoch eher nicht. In Zukunft wird man gute Gründe brauchen, um für eine Besprechung 200 Kilometer Anreise in Kauf zu nehmen. Für Menschen als extrem soziale Wesen kann der Bildschirm die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zwar ergänzen, wird sie aber niemals ersetzen können.

Mit welch sozialem Elend das Home-Schooling bei Jugendlichen und deren Eltern einhergegangen ist, hat sich bereits gezeigt. Wenn große Disziplin bei Studierenden und Lehrenden vorhanden ist, funktionieren Online-Vorlesungen. Bei Seminaren ist das anders. Gehaltvolle Diskussionen brauchen alle Sinneskanäle, um in Schwung zu kommen. Das können digitale Medien nicht leisten.

Ende von Sicherheit

Viele jüngere Leute traf die Krise beruflich und privat sehr hart. Sie wurden aus der bis dahin herrschenden, trügerischen Sicherheit in Existenzkrisen gedrängt. „Was uns nicht umbringt, macht uns härter“, ist ein altes Sprichwort, das sich in den modernen Begriff Resilienz übersetzen lässt. Sie wird unter anderem durch positiv überstandene Krisen gefördert.

Dafür spräche auch, dass die Suizidraten in der Krise nicht gestiegen, sondern eher gefallen sind. Scheinbar hat man in der Existenzbewältigung wenig Nerv für grüblerische Nabelschau. Doch auch jeder tröstlich gemeinte Hinweis auf das Gute im Schlechten klingt für jene von der Corona-Pandemie Betroffene zynisch, deren gewohntes, lauwarmes Wohlstandsglück nun Pause macht. Die erfolgreiche Bewältigung dieser Pandemie könnte jedoch für unsere Gesellschaft mittelfristig positive Folgen haben. Corona hat den sozialen und gesellschaftlichen Kontext verändert, die entscheidende Frage ist, warum die einen besser mit der Krise zurechtkommen als andere.

Sozial, aber irrational

Alle Menschen sind einander in ihren mentalen und sozialen Anlagen sehr ähnlich – leider auch in ihrem menschentypischen Verhalten gegenüber „den Anderen“. Man stellt gerne das Trennende über das Gemeinsame. Generell sind die mächtigsten Treiber menschlichen Verhaltens sozialer Natur. Denn evolutionär konnte sich unser großes Gehirn nur durch die komplexe Symbolsprache und auch das Denken im sozialen Zusammenhang entwickeln. Allerdings bleibt dessen Rationalität ein dünner Zuckerguss, weswegen Ambivalenz und Irrationalität im Alltagsdenken und -handeln allgegenwärtig sind.

Von Geburt an brauchen wir andere Menschen mehr als alles andere. Tatsächlich spielt die autonome Regulation von Nähe und Distanz zu Partnern, Familie, Freunden und Gesellschaft eine zentrale Rolle im Leben. Menschen müssen das Gefühl haben, dazuzugehören, sich einordnen und verorten zu können. Darum sind sie religiös und wissenschaftlich interessiert, denn Glaube und Wissen schaffen Geborgenheit. Die Folge: Das menschliche Gehirn stellt zwanghaft Wenn-dann-Beziehungen her, egal, ob diese objektiv stimmen oder nicht. Selbst irrationale Vorurteile und Aberglaube schaffen überlebenswichtige Sicherheit.

Misstrauen und Gerechtigkeit

Geteilte Überzeugungen erzeugen das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit. Zweiflern drohen traditionell Ausschluss und Verfolgung. Das ist auch der Ursprung des zähen Kampfes zwischen dem faktenbasierten Wissen der Eliten gegen die Vorurteile und die Skepsis jener, die aufgrund mangelnder Bildung von diesem Know-how ausgeschlossen sind. Die soziale Barriere führt dazu, dass oft die Wissenschaftler für die vielen Einschränkungen verantwortlich gemacht werden, vor allem von jenen, die besonders anfällig sind für Extremismus und Verschwörungstheorien. Andererseits aber lenkt die Corona-Krise den Fokus wieder auf mehr Bildung und Wissenschaft.

Zu den wichtigsten menschlichen Bedürfnissen zählt das Dazugehören, am besten zu einer kohärenten und solidarischen Gruppe, selbst wenn es dazu erforderlich ist, intelligenzbeleidigende Überzeugungen zu übernehmen. Überlebenswichtig von Geburt an bis ins hohe Alter ist es auch, Zuwendung zu geben und zu empfangen. Natürlich geht es dabei auch um Fairness, Respekt und Gerechtigkeit.

Kraft der Evolution

Menschen sind anfällig für Kränkung, Zurückweisung und Ungerechtigkeit, was zum sozialen Rückzug oder manchmal sogar zu Gewaltausbrüchen führen kann. Kränkung durch Zurückweisung etwa ist ein zentrales Motiv der meisten amoklaufenden Einzeltäter, einschließlich des norwegischen Massenmörders Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 unter dem Vorwand krauser Ideologien 77 Menschen tötete.

Als weitere zentrale menschliche Universalie gilt, dass Menschen „biophil“ sind, also buchstäblich von Geburt an mit Tieren und in der Natur leben wollen. Wir sind evolutionär daran angepasst. Wird Heranwachsenden dies vorenthalten, reagieren sie in späteren Lebensjahren mit einer erhöhten Anfälligkeit für mentale Probleme, wie aktuelle Daten zeigen.

Diese Liste der menschentypischen Anlagen und Grundbedürfnisse erklärt, warum viele Menschen auf den durch Corona verursachten gesellschaftlichen Stress recht ähnlich reagieren. Typisch etwa das Zusammenrücken zu Beginn der Krise, typisch aber auch, dass dieses solidarische „Wir“ mit dem Andauern der Einschränkungen in sein kakophonisches Gegenteil zerfiel. Denn die Menschen merkten, dass nicht alle gleich betroffen waren, vielen ging die Geduld aus.

Dachte man zu Beginn, die Isolierung würde die alten Menschen besonders heftig treffen, so stellte man bald fest, dass Kinder und Jugendliche viel stärker unter der sozialen Isolation litten. Sie entwickelten reihenweise depressionsartige Zustände, denn für ihre Entwicklung sind Gleichaltrige unverzichtbar.

Mit Krisen zurechtkommen

Auch die Arbeitswelt veränderte sich grundlegend. Zu Beginn der Pandemie wurde der mit dem Rückzug ins Homeoffice verbundene Verlust an sozialer Wirksamkeit durch kreative Videos kompensiert – eine Coping-Strategie, die mit der Dauer der Maßnahmen der Resignation und Erschöpfung wich. Es wurden aber auch Langzeitstrategien entwickelt. Man arrangierte sich mit diesem seltsamen neuen Leben, gestaltete die Wohnung neu, entdeckte das Kochen. Im besten Fall wurde man zum leidenschaftlichen Jogger, im schlechtesten Fall verfiel man dem Alkoholismus.

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Zahlen & Fakten

Im Einklang mit der biophilen Natur des Menschen wuchs der Wunsch nach Skitouren, nach Spaziergängen mit dem Hund, nach einem Schrebergarten, einem Haus im Grünen oder zumindest nach biologischen Lebensmitteln. Diese neue, aber evolutionär alte Liebe zur Natur wurde unter den Bedingungen der Lockdowns konkret. Existenzialistische Bedrohung fördert das Bedürfnis nach Erdung.

Solche auf der menschlichen Natur basierende, kollektive Muster bilden den Rahmen für eine enorme Vielfalt an individuellen Reaktionen. Abhängig von Persönlichkeitsstruktur, Geschlecht, Alter und sozio-ökonomischen Grundvoraussetzungen reagieren Menschen unterschiedlich auf Belastungen. Diese individuellen Reaktionen hängen auch von biologisch-psychologischen Gegebenheiten ab. Es ist das evolutionäre Erbe, das den Rahmen für die Vielfakt der menschlichen Entscheidungen absteckt.

Das Gute im Schlechten

Das Virus wird nicht verschwinden. Dennoch werden wir in Zukunft wieder recht normal leben, auch weil uns Impfungen vor einer Infektion schützen werden. Unklar bleibt allerdings, was „normal“ bedeutet. Werden wir in unser früheres Leben zurückfinden oder wird alles ganz anders werden? Wohl kaum, denn Menschen behalten ihre typischen Anlagen und Bedürfnisse bei, sind ziemliche Gewohnheitstiere. Eine völlige Änderung des Lebensstils wird daher als eher bedrohlich empfunden.

Zu hoffen bleibt, dass das „Hochfahren“ von Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltig erfolgt und so einen Teil jenes raschen und tiefgreifenden Wandels vorwegnimmt, der zur Bewältigung von Klima- und Biodiversitätskrise nötig sein wird. Natürlich werden die Marketingleute ihr Bestes geben, die zu Coronazeiten aufkeimende Konsumkritik rasch wieder vergessen zu machen. Wirtschaftswachstum braucht unkritische Follower und Konsumenten.

Dennoch wird nicht alles so bleiben, wie es war. So haben wir gelernt, so manche Reise durch ein digitales Treffen einzusparen; unsere gewachsene digitale Kompetenz wird die Flexibilität in Lehre, Wirtschaft, Forschung, Verwaltung erhöhen.

Handeln statt vergessen

Wir wissen jetzt aber auch, dass man digital die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht nicht ersetzen kann; dass Schule nicht etwas ist, was es zu vermeiden gilt, sondern vielmehr eine ersehnte Notwendigkeit für Jugendliche, die vor allem Struktur und gesellschaftliche Vernetzung gewährleistet. Auch Kochen kann ein schöner Teil eines gesunden Lebensstils sein. Wenn die Menschen weltweit auf Basis von demokratischen Grundwerten zusammenarbeiten anstatt ihre Energie in Aufrüstung zu stecken, besteht die Hoffnung, dass sich aus den Lehren der Corona-Krise viel Positives entwickeln kann. Allerdings nur dann, wenn man handelt, bevor der Schock wieder vergessen ist.

Die wirtschaftlichen Dellen werden rasch überwunden sein, zumal die sozialen wie technologischen Erfordernisse zur Bewältigung der Klima- und anderer Krisen die wirtschaftliche Entwicklung in einem Ausmaß antreiben werden wie es die Welt seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert nicht mehr gesehen hat. Die Erfahrungen aus Corona können dabei helfen.

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Conclusio

Evolutionär ist der Mensch mit einer Reihe von Fähigkeiten und Bedürfnissen ausgestattet, die seinen Umgang mit Krisen und Stress bestimmen – darunter die Liebe zur Natur (Biophilie), sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Die Corona-Pandemie hat, unter anderem durch die Digitalisierung im Zuge der Lockdowns, einen entschleunigten Lebensstil ermöglicht, der dieser biophilen und sozialen Natur des Menschen näher ist als das Leben vor der Pandemie. Dieser Lebensstil könnte gemeinsam mit dem neuen Fokus auf Bildung und Wissen auch helfen, die Klima- und Biodiversitätskrise zu bewältigen, sofern es gelingt, ihn zur Grundlage der neuen Normalität zu machen.