Wie Putin Geschichte umschreibt

Herrscher über Vergangenheit und Gegenwart: Wladimir Putin macht in Russland gerade vor, wie man aus der Geschichte eines Landes ein Fundament der eigenen Macht gießt.

Gemälde Putins bei der Ausstellung "Superputin" in Moskau 2017
Putin hat die Geschichte als Machtinstrument für sein System entdeckt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Spiel mit der Geschichte. Präsident Putin verfolgt eine offensive Geschichtspolitik. Das „richtige“ Erinnern ist inzwischen Teil der nationalen Sicherheitsstrategie.
  • Frage der Identität. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war Geschichte in Russland zunächst Tabuthema. Darunter litt das Selbstwertgefühl der Russen.
  • Glanz und Gloria. Putins Spiel mit der Geschichte zielt darauf ab, die Kontinuität eines starken Staates aufzuzeigen – und das Bild eines siegreichen Volkes zu festigen.
  • Unbewältigte Vergangenheit. Sogar die Ära Stalin wird in das Geschichtsbild eingepasst. Jegliche Erinnerung an die Opfer ist unerwünscht.

Im Spätsommer 2021, es geschah im Kinderzentrum „Ozean“ in Wladiwostok, geriet der Schüler Nikanor Tolstych in eine unangenehme Lage. Nikanor hatte einen landesweiten Schulwettbewerb gewonnen; aus diesem Anlass durfte er persönlich mit Wladimir Putin zusammentreffen. Der Präsident sprach über ein Thema, das ihn sehr interessiert: Russlands Geschichte. Und verwechselte, das kann schließlich jedem passieren, zwei Kriege, die Russland im 18. Jahrhundert ­geführt hatte. Nikanor zögerte, dann traute sich der Junge, was in Russland kaum noch jemand wagt: Putin zu ­korrigieren. Und der? Dankte für „die Berichtigung“.

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Eine Szene, eigentlich nicht weiter der Rede wert – doch sie fand landesweit Beachtung. Ein Schüler, der dem historisch so versierten Präsidenten widerspricht! Würde er Konsequenzen zu fürchten haben? Am Ende mischte sich Putins Sprecher ein: Der Präsident sei stets bereit, sich korrigieren zu lassen, der Junge ein „Prachtkerl“.

Chefhistoriker vom Dienst

Der Vorfall zeigt, wie groß in Russland die Angst vor der „Macht“ ist, der Allmacht, die der Präsident verkörpert. Er zeigt, wie sich Putin als gütiger Zar ­präsentieren kann – ein Herrscher, der Milde walten lassen kann. Aber nicht muss. Er kann auch ganz anders, wie das brutale Vorgehen seines Regimes gegen die wenigen noch verbliebenen Kritiker zeigt.

Und mittlerweile beugt sich ihm auch die Vergangenheit. In der neuen Strategie der nationalen Sicherheit werden viele Bedrohungen für Russland aufgeführt, Terrorismus, Nuklearwaffen, die NATO – aber auch „Ver­suche, die Weltgeschichte zu verzerren, indem die Rolle und der Platz Russlands darin revidiert werden“. Nun sollen die Spielpläne russischer Theater darauf überprüft werden, ob sie womöglich die nationale Sicherheit be­drohen. In Schulbüchern müssen schon lange sogenannte patriotische Werte propagiert werden.

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Zahlen & Fakten

In der neuen russischen Verfassung wiederum wurde der „Schutz der historischen Wahrheit“ verankert. In Kraft ist auch ein Gesetz gegen „Geschichtsfälschung“. Unter anderem stellt es das Gleich­setzen von NS- und sowjetischen Handlungen während des Zweiten Weltkrieges unter Strafe, ebenso die „Verleumdung“ von Kriegsveteranen sowie die Leugnung der „entscheidenden Rolle der Sowjetunion beim Sieg über NS-Deutschland“. Ein Gesetz mit weitem Interpretationsspielraum, das man jederzeit gegen Kritiker einsetzen kann. Ein Gesetz aber auch, das unabhängige Forschung und kritischen Disput nahezu unmöglich macht.

Wladimir Putin ist zu einer Art Chefhistoriker Russlands avanciert. Enthoben der Alltäglichkeit, geht es ihm um Russlands „historische Mission“ als wiederauferstandene Großmacht mit globalem Gestaltungsanspruch. Dabei steht Russland wie eine Festung vor allem gegen den Westen, von dem es immer wieder verraten worden sei. Über Sollbruchstellen russischer und sowjetischer Geschichte schreibt Putin auch selbst – oder lässt schreiben –, diese Beiträge werden auch außerhalb Russlands veröffentlicht. Im Juli 2020 etwa erhielten deutsche Osteuropahistoriker Post von der russischen Botschaft in Berlin, mit einem Verweis auf Putins Artikel über die „wirklichen Lektionen“ aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Experten, hieß es, könnten diesen zur Vor­bereitung historischer Beiträge nutzen.

Ewige Wahrheit

Geschichte mit all ihren Ambivalenzen, das oft so kleinteilige, meist langwierige Ringen um die Schattierungen der Wahrheit dient in Russland als Instrument der Herrschaftssicherung: Geschichtspolitik. Und Putins Sicht – ob aus Überzeugung oder aus politischem Kalkül – soll als fortan allein gültige russische Wahrheit verankert werden. Über alle Zeit hinweg. Denn es geht ja um Wesentliches, um Identifikation und, ja, auch um Identität, den Zusammenhalt einer orientierungslosen Gesellschaft. Wichtig dabei sind die Geschichte und Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Völker der Sowjetunion. In diesem „Großen Vaterländischen Krieg“ hatte die Sowjetunion die meisten Opfer zu beklagen; knapp 27 Millionen Menschen, die meisten unter ihnen Zivilisten. Und der alliierte Sieg über den Faschismus ist vor allem auch ein sowjetischer Triumph.

Bei Putins Geschichtspolitik geht es um Identität, den Zusammenhalt einer orientierungslosen Gesellschaft.

Zur Vorgeschichte des deutschen Vernichtungskrieges aber gehört der „Hitler-Stalin-Pakt“ von 1939. Für Hitler ein taktisches Arrangement zur Erreichung seiner Blut-und-Boden-Ziele, zu denen nach dem Überfall auf Polen auch die Eroberung der Sowjetunion, die Ausbeutung und Versklavung ihrer Bewohner sowie die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung gehören sollten. „Bloodlands“: Auch die Ukraine, Belarus und Russland wurden zu Zentren des Holocaust. Stalins Motive sind bis heute nicht abschließend geklärt, so wie sich die Vergangenheit ja oft klarer Zuordnung entzieht. Er fürchtete wohl, die Sowjetunion könne in den unvermeidlichen „imperialistischen“ Krieg der Westmächte gegen Hitler hineingezogen werden. Und man könne die kapitalistischen Länder schwächen, indem die Krieg gegen Deutschland führten. Den würden am Ende alle verlieren.

Hitler machte Stalin im August 1939 ein Angebot, das der nicht ablehnen wollte. Stalin erreichte die Aufteilung der „Interessensphären in Osteuropa“, wie es im geheimen Zusatzprotokoll hieß, dessen Existenz von der Sowjetunion später jahrzehntelang geleugnet wurde. Demnach fiel der Osten Polens an die Sowjetunion, desgleichen Bessarabien, Finnland und die drei baltischen Republiken. Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Bereits am 17. September marschierten sowjetische Truppen in Ostpolen ein, bald folgte die Annexion der baltischen Staaten.

Eine Pensionistin hält auf einem Gedenkmarsch für den Zweiten Weltkrieg ein Porträt Stalins
Die Erinnerung an Stalin wendet sich unter Putin stark zum Positiven. © Getty Images

Heikle Schuldfrage

Zu Putins „wirklichen Lektionen“ aber gehört die einseitige Interpretation der De-facto-Kriegsallianz als rein taktisches Manöver Stalins. Für den Pakt müsse man sich nicht mehr schämen: Nicht Stalin, sondern alle waren schuld am Krieg, so das Narrativ; Stalin allenfalls der Letzte in der Reihe. Die eigentliche Verantwortung für den Ausbruch des Krieges kommt so den Westmächten und Polen zu. Diese Position vertritt Putin offensiv, zunehmend scharf auch im Ton – vor allem, wenn es um die Deutung der zum Teil engen Beziehungen zwischen Polen und dem NS-Regime Mitte der Dreißigerjahre geht, die seiner Meinung nach auch von der EU ignoriert werden. Auch dies, um Russland zu schaden.

Denn in der Resolution des EU-Parlaments zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges im September 2019 wird der Kriegsausbruch direkt an den Hitler-Stalin-Pakt gekoppelt: „Er erlaubte es zwei totalitären Regimen, die beide das Ziel der Welteroberung verfolgten, Europa in zwei Einfluss­zonen aufzuteilen“ – auch dies eine politische Verkürzung der komplexen europäischen Vorkriegsgeschichte.

So plädiert Claudia Weber, Profes­sorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, dafür, „das europäische Machtspiel der Dreißigerjahre stärker in den Blick zu nehmen“. Aber: „In der neuen russischen Deutung wird dieses Machtspiel direkt mit der geschichtspolitischen Schuldfrage in Verbindung gebracht. Wenn Putin die Schuld am Ausbruch des Krieges quasi ‚vergemeinschaftet‘, geht es nicht um geschichtswissenschaftliche Neubetrachtungen und Perspektivwechsel.“ Vielmehr gehe es um Kontrolle und Deutungsmacht auch jenseits der russischen Grenzen. Zum Beispiel in Deutschland.

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Zahlen & Fakten

Natürlich ist Geschichte im Dienst der Macht alles andere als Selbstzweck und sicher nicht nur Hobby und Leidenschaft eines Präsidenten. Geschichtspolitik legitimiert Innen- wie Außenpolitik, zementiert das autori­täre Regime. Den Archipel GULag, Stalins Ver­brechen, die Millionen Gebrochener und Versklavter und Ermordeter leugnet Moskau nicht – so weit geht die Dekonstruktion der Vergangenheit nicht. Sie werden als „dunkle Seiten“ der sowjetischen Geschichte bezeichnet. Stalins Massengewalt rückt dabei in den Hintergrund, gilt als Verfehlung auf dem harten, einsamen Weg der Sowjetunion zur industriellen Groß- und mili­tärischen Supermacht. Kleine, lokale Initiativen versuchen, die rasch verblassende Erinnerung an die Opfer zu bewahren; sie sind zunehmend staatlichem Druck ausgesetzt. Auch die Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich seit Jahren um die Aufarbeitung des Stalinismus bemüht. Sie ist – noch – nicht verboten. Nur wird ihr die Arbeit immer schwerer gemacht.

Die öffentliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bleibt ein Produkt der Propaganda. Der 9. Mai, der Tag des Sieges, ist der russische Feiertag. Jedes Jahr organisiert der Kreml eine pathosgeladene Siegesparade auf dem Roten Platz. In den Parks wiederum finden sich nachgebaute Gulaschkanonen, davor ziehharmonikaspielende Soldatendarsteller: der Krieg als Familien-Event. Und im Museum des Großen Vaterländischen Krieges können sich Besucher vor einer Kulisse des kriegszerstörten Berlin in nachgeschneiderten Kriegsuniformen samt Plastik-Kalaschnikow fotografieren lassen.

Russische Kinder in Militäruniform zum Tag des Sieges
Krieg wird in Russland zunehmend zum Familien-Event – auch für die Allerkleinsten. © Adobe Stock

Noch immer formt die von unangenehmen Fragen und Zweifeln bereinigte Erinnerung an Krieg und Sieg ein mächtiges Symbol kollektiver Identifikation. Denn erst durch diesen Sieg erfährt das ganze schreckliche russische 20. Jahrhundert einen Sinn. „Er ist“, so der Moskauer Soziologe Lew Gudkow, „faktisch die einzige Stütze für das nationale Selbstbewusstsein der postsowjetischen Gesellschaft.“

Die Zukunft ist Geschichte

Es scheint, dass dieses konstruierte Selbstbewusstsein nun erweitert werden soll. Der im Juni dieses Jahres auf der offiziellen Website kremlin.ru veröffentlichte historische Aufsatz Putins ist bereits im Titel Programm: „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Russen und Ukrainer, schreibt der Präsident, hätten seit tausend Jahren eine kulturelle, sprachliche und geistige Einheit geformt. Für ein vom russischen getrenntes ukrainisches Volk existiere „keine historische Grundlage“. Vielmehr bildeten ukrainische Natio­nalisten und ausländische Feinde Russlands eine Front: „Anti-Russland“. Diese Front habe einen „Bürgerkrieg“ angezettelt – gemeint ist der Donbas-Konflikt im Osten der Ukraine. Der aggressive Kurs gegen Russland komme, so Putin, „in seinen Folgen der Anwendung einer Massenvernichtungswaffe gegen uns“ gleich. „Ohne Übertreibung.“

So steht es nun hochoffiziell, ein vermeintlich historischer Beitrag voller Geschichtsklitterungen, der territoriale Ansprüche rechtfertigen kann, vielleicht aber auch mehr. Nach diesem natürlich auch von den Staatsmedien verbreiteten Narrativ stehen Russland und sein Präsident weiterhin fest als Antagonist des Westens im Mittelpunkt, sich gegen das „Anti-Russland“ behauptend. So schließt sich der Kreis. Nun herrscht Wladimir Putin, der bereits ewige Präsident, auch über die Vergangenheit Russlands. Und die Menschen bleiben voller Angst vor der Zukunft zurück.

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Conclusio

Nach Jahrzehnten einer offiziell auf­erlegten historischen Amnesie ist ­Geschichte in Russland wieder zum politischen Instrumentarium geworden. Anders als seine Vorgänger scheut Präsident Putin den Blick in die Vergangenheit nicht, sondern forciert ihn: mit einem konstruierten Narrativ über Russlands glorreiche Geschichte, in der die dunklen Seiten verdrängt und die Stärken autoritärer Führungspersön­lichkeiten hervorgehoben werden. In der Gesellschaft trifft dieses einseitige Erinnern auf Anklang, hat das nationale Selbstbewusstsein der Russen doch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stark unter Minderwertigkeitskomplexen gelitten. Putins Geschichtspolitik bietet ein Selbstbild, frei von Schwäche – aber auch bereinigt von der Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion.