Radikalisierung zwischen Internet und Moschee

 Einige Online-Plattformen werden für die Radikalisierung junger Menschen verantwortlich gemacht. Aber so einfach ist es nicht. Ohne Verstärker in der realen Welt wird kaum jemand zum Terroristen. 

Symbolbild Radikalisierung: Drei Jugendliche sitzen auf einer Bank, ein Schatten im Hintergrund hat ein gezücktes Messer
Radikalisierung findet nie nur online statt. © Roland Vorlaufer
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Auf den Punkt gebracht

  • Hybridität. Radikalisierung folgt keiner Trennung von Online und Offline, sondern entsteht im Zusammenspiel beider Sphären.
  • Beschleunigung. Plattformen wie TikTok verstärken, beschleunigen und verbreiten extremistische Inhalte in bisher unerreichter Reichweite.
  • Milieus. Reale Kontakte, Gruppen und Szenen verleihen digitalen Botschaften Glaubwürdigkeit und prägen den Weg zur Gewalt.
  • Pubertät. Identitätssuche, Isolation und Zugehörigkeitswünsche machen Jugendliche besonders anfällig für radikale Angebote.

Wer oder was ist schuld, wenn Jugendliche – meistens junge Männer – aus scheinbar heiterem Himmel religiös oder politisch motivierte Gewalttaten begehen? Die Medien und viele Experten scheinen eine Antwort gefunden zu haben: das Internet. Nach fast jedem Terroranschlag heißt es, der Täter habe sich online radikalisiert. Besonders häufig am Pranger steht die Social-Media-App TikTok, auf der sich tatsächlich viele Extremisten tummeln. Muss man nur solche Plattformen sperren, um grauenhafte Bluttaten zu verhindern?

So einfach ist es leider nicht. Die Dynamik einer Radikalisierung vollzieht sich nicht im sterilen Labor einer Online-Welt allein. Vielmehr gibt es verstärkende Netzwerke, Strukturen und Orte im echten Leben. Die Hinterhofmoschee, der Mixed-Martial-Arts-Klub oder das Rechtsrock-Konzert bzw. die Versammlungen oder Protestaktionen mit Gleichgesinnten spielen eine zentrale Rolle bei der Radikalisierung. Das empfundene Gemeinschaftsgefühl benötigt die Begegnung mit Gesinnungsbrüdern. Nur sehr selten kapseln sich Einzelne derart von der Außenwelt ab, dass sie ohne reale menschliche Interaktion in den Sog extremistischer Werthaltungen hineingezogen werden.

Zweifellos tragen soziale Medien und dabei insbesondere beliebte Kurzvideoplattformen wie TikTok dazu bei, den Extremismus im populärkulturellen Gewand und ohne Filter in die hiesigen Kinderzimmer und Klassenräume zu transportieren. Das Internet hat sowohl die Reichweite extremistischer Ideologien und Narrative erweitert als auch die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung enorm beschleunigt. Es ist ein Verstärker und ein Durchlauferhitzer. Noch nie war es so einfach, auf einschlägige Handlungsanleitungen, Propagandavideos oder ideologisch kontaminierte, radikale Texte zuzugreifen.

Doch die geradezu leichtfertige Annahme, Radikalisierung vollziehe sich ausschließlich im digitalen Raum, ist empirisch schlichtweg falsch. Um der Komplexität aktueller Phänomene gerecht zu werden, unterscheiden die Radikalisierungsforscher Chamin Herath und Joe Whitaker vier unterschiedliche Radikalisierungswege („pathways“):

  • Integrated pathway: hohe Einbindung sowohl online als auch offline
  • Encouraged pathway: eher online dominiert mit weniger Offline-Netzwerkkontakt
  • Enclosed pathway: stärker offline orientiert, aber Online-Komponenten sind trotzdem vorhanden
  • Isolated pathway: wenig Netzwerkaktivität, weder online noch offline (bzw. sehr eingeschränkt)

Radikalisierung als Prozess

Der italienische Philosoph Luciano Floridi spricht daher von einer „Onlife-Konstellation“, in der die Grenze zwischen online und offline zunehmend verschwimmt. Genau dies beobachten wir auch im Bereich der Radikalisierung. Ein TikTok-Clip wird auf dem Smartphone konsumiert, darüber wird in der Schule gesprochen, im Sportverein weiterdiskutiert und sich später auf Telegram ausgetauscht. Online-Impulse und Offline-Erfahrungen bilden keine getrennten Sphären mehr, sondern verschränken sich zu einem kontinuierlichen Onlife-Prozess. Für die Radikalisierungsforschung bedeutet das: Wir müssen von der Vorstellung klarer Trennlinien Abschied nehmen.

Forschungsergebnisse relevanter Extremismus-Studien zeigen, dass online vermittelte Inhalte häufig den ersten Kontakt herstellen, Interesse wecken und bestimmte extremistische Narrative normalisieren. Doch die entscheidende Vertiefung findet in der Regel offline statt. Erst diese persönliche Rückkoppelung verleiht digitalen Botschaften Glaubwürdigkeit und bindet Einzelne in ein Milieu ein.

Radikalisierung ist nie linear, sondern entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel von individuellen Bedürfnissen, ideologischen Angeboten und sozialen Netzwerken. Der Radikalisierungsforscher Arie Kruglanski hat diese Dynamik in seinem Drei-Komponenten-Modell prägnant beschrieben: die Suche nach Sinn oder Anerkennung (needs), die ideologische Erzählung (narrative) und die Einbettung in ein soziales Netzwerk (networks).

Vom Opfer zum Täter

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Radikalisierung war nie ausschließlich eine Frage der Kommunikationsmittel. Entscheidend ist und bleibt die Rolle der extremistischen Ideologie. Sie liefert eine zugeschnittene Deutung von Unzufriedenheit, sie rechtfertigt Gewalt als Mittel der Veränderung, sie schafft eine militante Subkultur. Ob jihadistische Gewalt, rechtsextremer Terror oder linksextreme Militanz – allen Formen ist gemein, dass die dahinterstehende Weltsicht den Schritt von bloßer Empörung hin zur Gewaltanwendung strukturiert. Meist aus der Opferrolle heraus werden Radikalisierte dann zu Tätern. Es geht primär um Rache.

Das Internet verstärkt diesen Prozess, indem es die ständige Verfügbarkeit von radikalen Botschaften garantiert und Echokammern schafft. TikTok hat sicherlich Suchtpotenzial, und gerade Teenager erliegen der Versuchung, immer tiefer in die Scheinwelt einzutauchen. Algorithmen verstärken die Tendenz zur Polarisierung, Gleichgesinnte finden sich schnell in geschlossenen Foren zusammen, wo demokratie- und menschenfeindliche Ansichten kaum infrage gestellt werden. TikTok kann der Beginn eines „slippery slope“ sein, wo es kaum geeignete Haken gibt, um das Hinunterschlittern zu bremsen. Aber entscheidend bleibt, dass diese Inhalte durch persönliche Gespräche, reale Gruppenbindungen oder symbolische Handlungen weiter „geerdet“ werden.

Wie sich Täter radikalisierten

Einige der jüngsten terroristischen Vorfälle in West- und Zentraleuropa belegen, wie stark Online- und Offline-Komponenten bei der Radikalisierung ineinandergreifen:

  • Wien, Pride-Parade 2023 (vereitelter Anschlag): Drei Jugendliche – ein 14-Jähriger tschetschenischer Herkunft und zwei Brüder bosnischer Abstammung – planten einen Anschlag mit Sturmgewehr und Machete auf die Regenbogenparade. Ermittlungen ergaben, dass sie sich maßgeblich über TikTok radikalisiert hatten. Besonders die Beiträge salafistischer „Influencer-Prediger“, die eine pop- und jugendkulturell „attraktive“ Ästhetik nutzen, dienten als Einstieg in ideologische Radikalisierung. Gleichzeitig besuchten die Jugendlichen Moscheen und tauschten sich Berichten zufolge sowohl in Chat-Foren als auch vor Ort aus – ein Hinweis auf eine klassische Online-offline-Verschränkung.
  • Wien, Taylor-Swift-Konzert 2024 (vereitelter Anschlag): Der 19-jährige Hauptverdächtige Beran A. konsumierte intensiv TikTok-Videos salafistischer Prediger wie Abul Baraa, spielte Ego-Shooter-Games, ging ins Fitnessstudio – und suchte die Nähe zu radikalen Netzwerken in Österreich, Deutschland und auf dem Balkan. Er experimentierte mit Sprengstoff, hatte Waffenpläne und kommunizierte über Telegram mit Gleichgesinnten. Sein Beispiel zeigt, wie digitale Indoktrination und analoge Netzwerke zusammen eine gewaltsame Dynamik entfalten können.
  • Zürich, März 2024 (Messerattacke): Ein 14-jähriger Schweizer mit tunesischem Migrationshintergrund verletzte einen orthodoxen Juden schwer. Der Täter war tief eingebettet in die digitale Subkultur des „Islamogram“ – einer Mischung aus Jihadismus, Meme-Kultur und Gaming-Ästhetik. Es blieb auch in diesem Fall nicht beim Online-Konsum. Der Täter fühlte sich in seiner realen Umgebung missverstanden und suchte offenbar Bestätigung in radikalisierten Jugendgruppen.
  • Villach, Februar 2025 (Messerangriff): In einer Stadt ohne bekannte islamistische Szene griff ein junger syrischer Asylwerber Passanten mit einem Messer an. Hinweise deuten darauf hin, dass er sich über TikTok radikalisiert haben könnte – ein Beleg für die Reichweite des „virtuellen Kalifats“. Doch auch hier spielten die reale Isolation, sein soziales Umfeld und das Fehlen integrativer Strukturen eine zentrale Rolle.
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Zahlen & Fakten

Die Extremisten passen sich an

Für die nächsten Jahre ist zu erwarten, dass sich die hybride Natur der Radikalisierung weiter verschärft. Extremisten werden soziale Medien immer raffinierter nutzen, auf Memes, Kurzvideos und verschlüsselte Kommunikation setzen. Plattformen reagieren bereits mit strengeren Moderationsregeln und Löschungen, doch Extremisten passen sich an – indem sie auf neue Plattformen ausweichen oder szenetypische Codes und Symbolsprache verwenden.

Die digitale Extremismuslandschaft ist hochdynamisch: Was heute TikTok ist, kann morgen eine andere Plattform sein. Regierungen und Sicherheitsbehörden hinken dieser Entwicklung zwangsläufig hinterher. Hinzu kommt, dass zu harte Regulierung schnell als Einschränkung der Meinungsfreiheit kritisiert wird. Ein kaum zu unterschätzender Turbofaktor ist die generative KI, die komplett neue Herausforderungen, aber ebenso alternative Möglichkeiten zur Extremismusbekämpfung mit sich bringen wird. 

Was können die Eltern tun?

Bei der Prävention könnten Eltern eine wichtige Rolle spielen: Wenn sie ein kritisches Auge auf den Social-Media-Gebrauch ihrer Kinder haben, bringt das viel mehr als das Verbot einzelner Plattformen. Zeitliche Beschränkungen für Kurzvideoapps können sich in manchen Fällen dennoch als effektive Strategie erweisen, um die Intensität des Konsums zu reduzieren.

Wie die Praxis zeigt, entgeht den Eltern die Radikalisierung ihrer Sprösslinge in den meisten Fällen nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus simpler Überforderung und fehlender digitaler Kompetenz. Oftmals erkennen Erziehungsberechtigte problematischen Content auf Plattformen wie TikTok nicht als extremistisch, weil dieser harmlos wirkt und in Videospielästhetik präsentiert wird.

Vor allem im Verhalten der Jugendlichen lassen sich aber Warnsignale erkennen: Sie begeben sich in eine Art virtuelle Selbstisolation, sie ziehen sich plötzlich von Freunden oder gewohnten Freizeitaktivitäten zurück. Hiermit korrespondiert nicht selten eine übersteigerte Religiosität mit moralisierendem oder polarisierendem Charakter („wahre Muslime“ vs. „Ungläubige“), verbunden mit einer Abgrenzung gegenüber stereotypisch gefassten, kollektiven Feindgruppen (z. B. „die Juden“). Ebenso werden westliche Lebensweisen oder die Gesellschaft zunehmend als götzendienerisch („schirk“), dekadent bzw. feindlich abgelehnt.

Pubertät oder Radikalisierung?

Häufig geht dies mit der verstärkten Nutzung von TikTok, Telegram oder X einher, wo ansprechbare Jugendliche (zu 70 Prozent sind es Burschen) Propagandavideos mit Märtyrerästhetik, monotonen religiösen, häufig auch jihadistischen Gesängen (Naschids) oder einschlägigen Symbolen konsumieren und neue Online-Kontakte knüpfen, die ihre Weltbilder bestärken. Auf emotionaler Ebene treten Sinnsuche, Entfremdung und ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit hinzu – klassische Muster der jugendlichen Identitätsfindung, die jedoch rasch in extremistische Denkmuster umschlagen können, wenn sie von digitalen Algorithmen gezielt verstärkt werden. Regelmäßig unterschätzen Eltern diese Dynamik oder verwechseln sie mit „normalen“ pubertären Phasen.

Wenn mehr oder weniger besorgniserregende Entwicklungen bei den eigenen Kindern nicht unmittelbar und ehrlich angesprochen werden, kommt es zu einer sich aufstauenden Frustration. Prävention sollte sich daher weniger in Schuldzuweisungen manifestieren oder in strenger Kontrolle erschöpfen. Eltern müssen ein Sensorium für extremistische Inhalte mitsamt den relevanten Codes, Rhetoriken und der eigenen ästhetischen Symbolik entwickeln und mit ihren Kindern darüber in einen Dialog treten.

Zu erkennen, dass die von den eigenen Teens auf Social Media konsumierten Inhalte nicht in Ordnung, menschen- und demokratieverachtend, gewaltverherrlichend oder sogar extremistisch sind, ist ein wichtiger erster Schritt zur Vorbeugung. Schulen, Sportvereine, Sozialarbeit sind – je nach Radikalisierungsstadium – ebenso wie Beratungsstellen und Präventionsangebote entscheidend, um Familien frühzeitig zu entlasten. Denn eine schleichende Radikalisierung über TikTok ist weniger ein individuelles Versagen von Eltern als vielmehr Ausdruck einer strukturellen digitalen Dynamik, die Jugendliche gezielt emotional anspricht, bindet und in extremistische Echokammern hineinzieht.

Hybride Realitäten

Die Debatte über Radikalisierung darf nicht in einem Scheinwiderspruch von „online“ versus „offline“ steckenbleiben. Die Realität ist hybrid, individuell ausgerichtet und komplex. Online-Inhalte sind mächtige Katalysatoren, aber sie entfalten ihre Wirkung erst in Verbindung mit realen Erfahrungen, persönlichen Kontakten und ideologischer Bestätigung. Wer Radikalisierung verstehen und bekämpfen will, muss die Interaktionen zwischen beiden Welten analysieren – und Strategien entwickeln, die flexibel auf technologische wie gesellschaftliche Veränderungen reagieren.

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Conclusio

 
Hybridität. Radikalisierung geschieht nicht nur im Netz, sondern im Zusammenspiel von Online- Impulsen und realen sozialen Netzwerken. Wer nur TikTok sperrt, verkennt die Dynamik zwischen digitaler und analoger Welt.

Ideologie. Extremistische Inhalte gewinnen erst durch persönliche Bestätigung und ideologische Einbettung an Macht. Prävention muss daher soziale Bindungen und Sinnangebote stärken, nicht bloß Plattformen kontrollieren.

Prävention. Eltern, Schulen und Vereine sind entscheidend, um frühe Warnsignale zu erkennen, sie müssen aber ein Sensorium für problematische Inhalte entwickeln. Offener Dialog wirkt nachhaltiger als Überwachung oder Verbote.

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