Russland kann diesen Krieg nur verlieren

Seit fast vier Monaten herrscht Krieg in der Ukraine. Ein Blick in die Geschichte zeigt, warum Putin glaubt, dem Land die Eigenstaatlichkeit absprechen zu können – und weshalb sein Vorhaben nur scheitern kann.

Russland und die Ukraine: Foto eines Mannes mit Kosakenmütze und einer Weste in den Nationalfarben der Ukraine sitzt telefonierend an einem Tisch.
Euromaidan, Kiew 2014: „Kosake“ meint Widerstand. Hier richtet er sich gegen Russland und die politische Führung. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Verzerrtes Geschichtsbild. Schon im Juni 2021 veröffentliche Wladimir Putin einen historischen Essay, in dem er behauptete, Russen und Ukrainer seien ein Volk.
  • Langer Schatten. Es ist nicht das erste Mal, dass der russische Präsident Geschichte manipuliert, um sein eigenes Herrschaftsnarrativ zu stärken.
  • Politische Kluft. Anders als Russland ist die Ukraine nicht von Autokratie und Zentralismus, sondern von Selbstverwaltung und Dezentralisierung geprägt.
  • Souveränität. Putin kann der Ukraine seine veralteten Vorstellungen von Herrschaft und Identität nicht aufzwingen – selbst, wenn das Land militärisch unterliegt.

Westliche Beobachter stehen derzeit vor einem Rätsel: Wie konnte Russland – seit Ende des Kalten Krieges ein „normaler Staat“ – internationales Recht brechen und die Partnerschaft mit dem Westen aufs Spiel setzen, um die Ukraine anzugreifen? Und wie gelingt es der Ukraine – einem vergleichsweise rückständigen Staat, bekannt für Korruption und Misswirtschaft –, der zweitgrößten Armee der Welt erfolgreich Widerstand zu leisten?

Die Antwort auf diese Fragen ist in der unterschiedlichen politischen Kultur dieser beider Länder zu suchen. Russland ist kein „normaler Staat“ im europäischen Sinn, denn es hat nie aufgehört, sich als zentralisierte und expansionistische Macht zu sehen. Die Menschen der Ukraine hingegen sind an dynamische Strukturen gewöhnt und geübt darin, sich selbst zu verwalten. Russlands Idee, zwei „brüderliche Völker“ wiedervereinen zu wollen, basiert also auf einem grundlegenden Missverständnis: Russen und Ukrainer waren nie ein Volk.

Sehnsucht nach „Größe“

Russlands historische Entwicklung ist durch vier Konstanten geprägt: eine autokratische Staatsführung, die Isolation von äußeren Einflüssen, eine kompromisslose Außenpolitik und Perioden territorialer Ausdehnung und Schrumpfung. Alexander Dugin, ein rechtsextremer Vordenker und ehemaliger Berater des russischen Parlaments, behauptet, dass Russland nie zu einem Nationalstaat des europäischen Typus geworden ist, weil den Russen schlichtweg das Verlangen nach repräsentativer Führung fehlte.

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Zahlen & Fakten

Erst waren es die Romanows, die über Jahrhunderte eine autokratische Hierarchie auf Kosten der bürgerlichen Freiheiten errichteten, dann Lenin und die Sowjets, die diese Hierarchie ab 1917 übernahmen und ihr einen proletarischen Anstrich verliehen. Anders ausgedrückt: Autokratie und eine zentralisierte Regierungsform prägten stets die russische Staatsordnung, unabhängig von der historischen Epoche.

"Die Mäher" von Grigori Mjasojedow
„Die Mäher“, Grigori Mjasojedow (1887). Die Farben der ukrainischen Nationalflagge sollen das Blau des Himmels und das Gold von Getreidefeldern darstellen. © Getty Images

Der russische Expansionsdrang wurde von den Russen nie als zerstörerisch oder falsch angesehen. Zwischen 1550 und 1700 nahm Russland jährlich Ge­biete in der Größe der heutigen Nieder­lande ein, die einzigartigen Kulturen der ­unterworfenen Völker wurden so gut wie ausgelöscht. Reue für diese Taten sucht man bis heute vergebens. Das Gegenteil ist der Fall: Die Eroberung neuer Territorien diente und dient als Ersatzbefriedigung für die bedauernswerten Zustände im eigenen Land; jede neue Expansion bringt Stolz, während jeder Verlust von Territorien eine „große Depression“ in Gang setzt.

Putins Neo-Imperialismus

Die tiefste dieser Sinnkrisen folgte auf den Zusammenbruch der Sowjetunion. Das umfassende Trauma der 1990er-Jahre wurde zum idealen Nährboden für Putins Herrschaftsnarrativ, das von Anfang an in neoimperiale Großmachtfantasien gebettet wurde. Für den russischen Präsidenten war der Zerfall der UdSSR keine wirtschaftliche oder ideologische, sondern die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie er 2005 verkündete.

2006 führte Wladislaw Surkow, Assistent des Präsidenten, dann das Konzept der „souveränen Demokratie“ ein: Eine politische Ordnung, in der die Staatsführung die Werte der Demokratie, des freien Marktes und der Menschenrechte an die russischen Gegebenheiten anpasst. Mit anderen Worten: Wladimir Putin und sein Umfeld entscheiden, welche universellen Werte für die russische Gesellschaft angemessen sind – ganz wie in der guten, alten Sowjetzeit.

Die Eroberung neuer Territorien dient als Ersatzbefriedigung für die bedauernswerten Zustände im eigenen Land.

Auch Putins Außenpolitik zeigt neo­imperiale Züge, etwa wenn er Russlands Nachbarn selektiv das Recht auf Selbstbestimmung abspricht. Das beste Beispiel aus jüngster Zeit ist das Ultimatum des Kremls an die NATO im Dezember 2021, in dem die „Entmilitarisierung“ aller ehemaligen Mitglieder des Ostblocks gefordert wurde – allen voran Polens und der baltischen Staaten, also traditioneller „Zonen privilegierter Interessen“. Gleichzeitig wird Russland regelmäßig zum Verfechter von Souveränität, wenn Bürgerrechtsbewegungen die Herrschaft autoritärer Regimes im Ausland bedrohen – etwa in Syrien oder Libyen.

Russlands Nostalgie für starke Herrscher

In der russischen Bevölkerung trifft diese Politik auf Applaus, neigt sie doch dazu, autokratische Führer und expansionistische Maßnahmen zu legitimieren – sofern diese dem Land zu „Größe“ verhelfen. Das Trauma der 1990er-Jahre wirkt auch hier nach: Anfang der 2000er-Jahre bedauerten bereits 82 Prozent der Russen den Untergang der Sowjetunion; das Konzept „zurück in die UdSSR“ wurde zur neuen nationalen Idee. Neo-imperiale Großmachtfantasien begannen, sich auch in der russischen Kunst und Literatur zu verbreiten. Mit Erfolg: 2020 drückten 64,5 Prozent der befragten Russen Bedauern aus, dass ihr Staat Mitte der 1990er-Jahre sein Potenzial nicht ausgeschöpft hätte; 82 Prozent wünschten sich, dass Russland den Status einer Großmacht zurückerlangen würde.

Diese Nostalgie für den einstigen Großmachtstatus – sei er imperialer oder sowjetischer Natur – hat noch andere Nebeneffekte. Im Jahr 2017 ermittelte das Pew Research Center, dass 58 Prozent der Russen Josef Stalin als eine „sehr“ oder „meistens“ positive Figur betrachteten, ungeachtet all seiner Verbrechen. Dagegen behaupten nur 22 Prozent dasselbe über Michail Gorbatschow, dessen Perestroika und Glasnost für den Zusammenbruch der Sowjetunion verantwortlich gemacht werden.

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Zahlen & Fakten

87 Prozent der Russen hielten Putins Außenpolitik für effizient, insbesondere in Bezug auf die Ukraine und Syrien. 59 Prozent glaubten, dass Russland seit 2007 dank Putin stärker geworden sei. Im März 2022, nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, lag die Zustimmung der Bevölkerung zu Putin bei 83 Prozent.

Um stark und stabil zu sein, muss Russland expandieren – und um zu expandieren, muss die Landesführung die Zügel rigoros in der Hand halten. An diesem Grundsatz ändert sich nichts, selbst wenn Putin eines Tages aus dem Amt scheidet. Der russische Präsident ist nur einer von vielen typischen Herrschern, die Russland „wieder stark machen“ – und er war der erste Staatsmann, der nach Zusammenbruch der Sowjetunion nicht den Minderwertigkeitskomplex, sondern die neoimperiale Arroganz eines ganzen Volkes nährte.

Die Ukraine ist nicht Russland

Das ukrainische Ordnungs- und Identitätsmodell basiert auf einem grundlegend anderen Selbstbild. Historisch betrachtet ist die heutige Ukraine aufgrund dreier Prozesse entstanden: Anpassung an Fremdherrschaft, Untergrabung von Fremdherrschaft und Sabotage von Fremdherrschaft. Die parallelen Regierungsstrukturen, die sich dabei entwickelten, sind von entscheidender Bedeutung, um die Ukraine von heute als demokratisches Land zu verstehen.

Besondere Aufmerksamkeit gebührt dem historischen Erbe der Kosaken. Der US-amerikanische Historiker Edward Keenan sagte einst, im moskowitischen, auf Leibeigenschaft aufgebauten Dorf liege der Kern der russischen autokratischen Tradition. Wendet man das auf die Ukraine an, so ist es die Kosakengemeinschaft, die als Modell für die demokratische Ordnung des Landes steht.

Saporoger Kosaken schreiben Brief an den türkischen Sultan, Gemälde von Ilja Repin
1676 forderte Mehmed IV. die Saporoger Kosaken dazu auf, sich ihm zu unterwerfen. Diese verfassten eine unflätige Absage, die vor kreativen Beleidigungen nur so strotzte. Der russische Maler Ilja Repin hielt die Szene in einem Gemälde fest (1880-91). © Getty Images

Die Kosaken waren eine Graswurzelbewegung, die im 15. Jahrhundert in die Steppe am Schwarzen Meer auswanderte, um der sozialen und religiösen Unterdrückung, den feudalen Verpflichtungen und der staatlichen Besteuerung durch Polen-Litauen und später das Russische Reich zu entgehen. Sie wählten eine rotierende Führung, verankerten verankerten demokratische Normen und individuelle Freiheiten in ihren Gesetzen – etwa in der Verfassung von Pylyp Orlyk von 1710 – und sorgten für Sicherheit in der Steppe.

Im 18. und 19. Jahrhundert verdräng­te das russische Zarenreich die politi­sche Kultur der Kosaken zwar rigoros, sodass sie weder ein solides Fundament für den ukrainischen Nationalstaat noch für die Schaffung formeller Regierungsinstitutionen bot. Doch als informeller Wertekanon und vordefiniertes Verhaltensmuster blieb die Kosakenkultur den Ukrainern erhalten – und zeigt sich immer dann, wenn es um die Verteidigung von Freiheitsrechten geht.

Widerstand gegen Russland

Ein Blick ins 20. Jahrhundert zeigt, wie die Erfahrungen und Praktiken der Kosaken zur Selbstorganisationsfähigkeit der Ukrainer beigetragen haben. Im Unabhängigkeitskrieg von 1917 bis 1921 wurden nicht weniger als vier nationale Armeen in der Ukraine gegründet, die jeweils eine eigene Vision eines souveränen Staates vertraten. Diese Armeen kämpften gegen Deutsche, Polen und Russen, aber auch untereinander. In den 1930er-Jahren, am Vorabend der Hungersnot Holodomor, lehnten sich die Ukrainer gegen die Verstaatlichungsmaßnahmen der sowjetischen Regierung auf; 1,2 Millionen Menschen nahmen an rund 5.000 Bauernaufständen teil.

Denkmal für die Opfer des Holodomor, Kiew
Holodomor-Denkmal in Kiew. Die durch die Sowjetregierung herbeigeführte Hungersnot forderte 1932 bis 1933 etwa vier Millionen Opfer, einige Schätzungen beziffern die Zahl der Toten sogar auf sieben Millionen. © Getty Images

1991 stimmten 92,3 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit von der UdSSR. Danach spiegelten die Orange Revolution (2004) und der Euromaidan (2014) die kosakenartige Intoleranz gegenüber unverantwortlichen Führungsriegen wider. Übrigens: Das Lager der Demonstranten in Kiew während des Maidan ähnelte in seinem Aussehen und seiner Funktionsweise der Kosakenhochburg Saporoger Sitsch.

Als 2014 der Krieg im Donbass ausbrach, waren freiwillige Kosakensoldaten die Ersten, die auf dem Schlachtfeld eintrafen. Sie bildeten Kampfverbände, ernannten ein Kommando und beschafften Waffen. Gleichzeitig führten die ukrainischen Streitkräfte die dezentralisierte Struktur der Saporoger-Sitsch-Armee sowie das System der kosakischen Militärränge ein. Als im Februar 2022 russische Truppen einmarschierten, begannen erneut Aktivisten und Freiwillige, die Streitkräfte in bester Kosakentradition zu unterstützen – von Lebensmittellieferungen bis hin zur Beschaffung von Geländewagen und Überwachungsdrohnen.

Der Westen in der Pflicht

Für die russische Invasion gibt es mehrere Gründe:

  • In erster Linie fühlt sich der Kreml angesichts der wachsenden politischen und wirtschaftlichen Präsenz des Westens in seiner „Zone privilegierter Interessen“ unwohl.
  • Zweitens fühlt er sich durch die proaktive sicherheitspolitische Zusammenarbeit des Westens mit der Ukraine beleidigt, die er als Gefährdung des Gleichgewichts nach dem Kalten Krieg wahrnimmt.
  • Drittens fühlen sich sowohl der Kreml als auch die Russen bedroht, da ihre zentralistische politische Tradition für die Ukrainer, die die europäische Integration vorantreiben, nicht attraktiv ist.
  • Schließlich reproduzieren die Russen und Putin als ihr Führer die expansionistischen Muster, die ihren Staat zu historischem Ruhm geführt haben.

Die Russen scheinen die Überzeugung aus dem 19. Jahrhundert zu teilen, dass Expansionismus ihren Staat stark und wohlhabend macht. Sie teilen die Überzeugung des 20. Jahrhunderts, dass die Weltpolitik eine „Zone der privilegierten Interessen“ ist. Und sie sind bereit, der Ukraine des 21. Jahrhunderts diese überholten Überzeugungen aufzuzwingen.

Ohne die Unterstützung des Westens wird die noch unausgereifte ukrainische Demokratie wahrscheinlich unter die zentralistische russische Offensive geraten. Dies wird jedoch nur eine vorübergehende Entspannung bringen. Die Selbstorganisationskräfte der Ukraine werden unter der Unterdrückung wieder zum Vorschein kommen und es wird zu neuen Protesten, Revolutionen oder bewaffneten Konflikten gegen die zentralistische russische Herrschaft kommen. Mit anderen Worten: Der heutige Rückzug des Westens aus der Ukraine wird für die nächsten Jahre Stabilität bringen. Und Unruhe für Jahrzehnte.

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Conclusio

Putins Krieg gegen die Ukraine soll Russland zu alter „Größe“ verhelfen und dem Westen beweisen, dass Autoritarismus, nicht Demokratie das attraktivere Herrschaftsangebot ist. Was der russische Präsident dabei übersieht: Die Ukraine ist ein eigenständiger Staat, der von niemandem fremdbestimmt werden will – weder von Russland noch dem Westen. Putins Irrglaube, das Land von seiner demokra­tischen Führung „befreien“ zu müssen, zeigt, welch veraltetem und verzerrtem Geschichtsbild er anhängt. Sein Versuch, diese Vorstellungen der Ukraine gewaltsam aufzuzwingen, wird unweigerlich scheitern – unabhängig davon, ob Russland einen militärischen Sieg erringt oder nicht. Dafür sind das Recht auf Selbst­verwaltung und der Wunsch nach einer repräsentativen Führung zu stark in der ukrainischen Mentalität verankert.