Putins Hass auf den Westen

Wladimir Putin verfolgt mit dem Krieg gegen die Ukraine ein einziges Ziel: das russische Imperium wiederherzustellen. Der Krieg wird um die Demokratie in Europa geführt, erklärt der Historiker Orlando Figes im Interview.

Blick aus dem zerstörten Fenster eines Hauses auf Wiesen und Bäume im Winter. Das Bild illustriert ein Interview über Russland und sein Verhältnis zum Westen.
Kherson in der Ukraine am 15. Februar 2023. © Getty Images

Trägt der Westen Verantwortung für den Angriff Russlands auf die Ukraine, wie es Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer in ihrem Manifest behaupten, oder gibt es andere Gründe für neoimperalistische Expansion des größten Landes der Erde? Der britische Historiker Orlando Figes hat sich Zeit seines beruflichen Lebens mit der Geschichte Russlands beschäftigt: Im Laufe seiner Karriere als Professor für neuere russische Geschichte am Birkbeck College in London sind insgesamt zehn Bücher zum Thema entstanden. Für die Präsentation seines aktuellen Buches „Eine Geschichte Russlands“, das im Dezember 2022 bei Klett-Cotta erschienen ist, war Orlando Figes in Wien und hat mit dem Pragmaticus über die Motive für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gesprochen. Für ihn ist sicher: Hört der Westen auf, die Ukraine zu unterstützen, hat der russische Nationalismus gewonnen.

Herr Figes, warum riskiert Wladimir Putin mit diesem Angriffskrieg Russlands geopolitische Stellung? 

Orlando Figes: Was in den dunklen Hinterzimmern von Putins Gehirn vor sich geht, weiß ich nicht. Doch nach seinen Taten zu urteilen, führt er einen imperialistischen Krieg. Er begeht Landraub und nimmt Verwüstungen aller Art in Kauf. Wahrscheinlich wird er Russland damit für lange Zeit isolieren.

Wie rechtfertigt er das in Russland?

Auf unterschiedlichen Ebenen. Was Europa betrifft, werden seine Ideologen im Staatsfernsehen nicht müde, zu betonen, dass der Westen ohnehin kaputt sei und die Zukunft in Südostasien liege. Aber in Wahrheit geht es viel tiefer. Wer Russland verstehen will, muss die Geschichte kennen, denn die Zukunft liegt in Russlands Vergangenheit begründet. Sie ist auch der Grund für diesen Krieg. Genauer gesagt ist es eine Version der Geschichte, die in Russland erzählt werden soll. 

Orlando Figes blickt mit verschränkten Armen lächelnd in die Kamera und trägt ein gelbes Hemd. Er lehnt sich dabei an die Wand. Das Portrait von Figes entstand bei einem Interview mit ihm über den Krieg Russlands gegen die Ukraine udn die Gründe dafür. Die Frage bei dem Interview war, ob Russland in Wahrheit einen Krieg gegen den Westen führt.
Der Historiker Orlando Figes bei der Foto-Session nach dem Interview mit dem Pragmaticus in Wien. © Stefan Fürtbauer

Entspricht sie nicht dem westlichen Verständnis der Geschichte?

Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass sich die russische Wahrnehmung darüber, was Geschichte ist, von einer westlichen Perspektive vollkommen unterscheidet. Deshalb hat das Land nach 1991 auch einen ganz anderen Weg genommen, als wir im Westen dachten. Putin ist es gelungen, sein geopolitisches Handeln mit alten Mythen der Vergangenheit zu rechtfertigen. Er ist gut darin, mit Versatzstücken aus der Geschichte eine Ideologie zu bauen, er hat Mythen zu einer Munition gemacht. All das ist nachzulesen in seinem Essay (Figes mein den Essay „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ – Anmerk.) , den er 2021 veröffentlicht hat.

Welche Mythen genau?

Das Narrativ ist einfach: Ein starker Führer treibt feindliche, ausländische Kräfte aus dem Land. Das gelang zum Beispiel Alexander Newskij im Mittelalter, aber auch Minin und Poscharskij in den Wirren des 17. Jahrhunderts. Es geht dabei um die Souveränität des Landes, und das Besondere ist, dass diese Art der Geschichtsschreibung stets von Emotionen bestimmt wird. Erlaubt an Geschichte ist das, was irgendwie positiv ist. So sehen es Putin und seine Strategen wie etwa Wladislaw Surkow. Und weil in Russland auch die Geschichtsschreibung vom Staat kontrolliert wird, hat sich diese Sichtweise durchgesetzt. 

Welche Rolle hat das russische Volk?

Es sind brave Patrioten, die Opfer für ihr Land bringen. Die Religion erscheint mir generell die Basis der russischen Identität zu sein. Am Ende ist es der Glaube, der Russland zusammenhält. 

Ihr neues Buch überblickt tausend Jahre russische Geschichte, eine Abfolge grausamer Herrscher und Kriege. Ist das ein westlicher Blick? 

Es wäre total falsch, zu denken, die Grausamkeit läge in der DNA des russischen Volkes begründet. Das Grundproblem ist die Größe des Landes und die Tatsache, dass es zentralistisch verwaltet wird. Die Ausdehnung des Landes ist enorm, früher dauerte das Verschicken eine Briefes in entfernte Regionen oft ein ganzes Jahr lang, der Zusammenhalt ist also ohne eine Dosis aufgezwungener Diktatur nicht möglich.

Sie ist also Teil des Staatsapparats?

Es war Iwan der Schreckliche, der eine Art Tributsystem eingeführt hat. Russlands Reichtum sind die Bodenschätze, und sie werden meist an sehr entlegenen und unwirtlichen Orten abgebaut. Platin kommt aus Norilsk, auch Öl, Gold und Diamanten werden in den arktischen Gebieten abgebaut. Es sind alles Orte, die nur deshalb erschlossen werden konnten, weil es dort Gulags gab und Menschen in Arbeitslagern dieses Land quasi kolonisiert haben. Das ist heute die Basis für die wirtschaftlichen Ressourcen des Landes. Russland braucht einen zentralistischen Staat, damit die Einnahmen von dort in die vielen anderen ärmeren Regionen der Russischen Föderation verteilt werden können. 

Also ist die Größe des Landes das  eigentliche Problem?

Irgendwie schon. Obwohl historisch betrachtet gerade die Feinde Russlands dieses Argument oft genutzt haben, um Kriege zu beginnen, den Krimkrieg von 1853 bis 1856 um Beispiel.

Muss Putin autoritär handeln, um das Land zusammenzuhalten?

Das ist eine mögliche Sichtweise. Doch ich denke, dass Putin auch Angst vor dem Verwaltungsapparat selbst hat. In der Russischen Föderation leben mehr als 150 unterschiedliche Nationalitäten. Dass die Russen sich anderen Völkern gegenüber überlegen fühlen, hat ebenfalls eine sehr lange Tradition in diesem Land und stammt noch aus der Zarenzeit. Sicher ist, dass Putin wirklich keine demokratischen Ideen brauchen kann. Seine Antwort darauf ist diese vergiftende nationalistische Grundhaltung. Die Ukraine und ihre Forderung nach Demokratie musste er als brandgefährlich sehen. Sie ist für ihn wie ein trojanisches Pferd, in dem westliche, zersetzende Kräfte schlummern. Die versucht er zu ersticken, und das erklärt auch die Vehemenz, mit der er Krieg führt.

Einen äußeren Feind für den inneren Zusammenhalt zu stilisieren ist der älteste Trick der Geschichte …

… aber er funktioniert. Viele Menschen in Russland kennen diesen Hass auf den Westen ja noch sehr gut aus Sowjetzeiten. Er ist fix verankert, denn es gab auch in der Zarenzeit immer wieder entsprechende antiwestliche Bewegungen. Es ist eben leider so, dass Russland sich als ein Gegenpol zum Westen begreift. 

Zurück zum Ukraine-Krieg: Sind die russischen Soldaten motiviert genug?

Im Vergleich zur Ukraine, die mit allen Mitteln um ihre Freiheit kämpft, natürlich nicht. Der ukrainische Kampfgeist hat Putin überrascht. Er dachte, die Eroberung von Kiew würde in ein paar Tagen erledigt sein, aber nun muss er sich auf einen territorialen Krieg einstellen. Ich würde allerdings die russische Armee niemals unterschätzen. Es gab in der Geschichte vollkommen aussichtslose Situationen, die sie trotzdem gewonnen hat. Stalin hat schon gesagt: „Quantität hat eine eigene Qualität.“ Und Putin mobilisiert weiter Soldaten. Insofern ist der Krieg für die ganze Welt eine große Prüfung. Wenn der Westen aufhört, die Ukraine zu unterstützen, haben die russischen Nationalisten gewonnen. 

Warum gibt es keine nennenswerte Opposition in Russland?

Wer demonstriert, riskiert seine Freiheit. Das ist der Grund. Die Mutigen sitzen ja schon alle im Gefängnis – und die meisten Regimegegner haben das Land verlassen. Schätzungen zufolge sind zwischen vier und fünf Millionen Menschen ausgewandert. Zudem denke ich, dass Stalins Säuberungswellen ab 1937 tiefe Spuren in der russischen Gesellschaft hinterlassen haben. 

Bis heute? 

Ja, es ist eine Erkenntnis, die ich im Zuge der Recherchen zu „Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland“ gewonnen habe. Dafür habe ich viele Gespräche mit Stalin-Opfern geführt und festgestellt, dass sie alle paradoxerweise eine Art von Loyalität mit dem Staat entwickelt hatten, eine Form von Passivität. Es gibt in Russland eine genetisch verankerte Angst in der Gesellschaft, die sich auch auf die nachfolgenden Generationen übertragen hat. Wer Opfer der stalinschen Gräuel war, hat seinen Kindern beigebracht, mit öffentlichen Äußerungen vorsichtig zu sein. Angst ist insofern Teil des kollektiven Gedächtnisses. Putin muss nur ein paar Leute verhaften, um es zu triggern und jeglichen Widerstand zu stoppen. 

Die russische Elite besteht aus älteren Männern. Sehen Sie Nachfolger?

Wer Putin herausfordert, begibt sich in Lebensgefahr. Momentan verlässt er sich auf einen Zirkel von Hardlinern, den Silowiki. Sie waren so wie er selbst 1991 beim Geheimdienst KGB und erlebten aktiv den Zerfall der Sowjetunion mit. Die Ukraine trat 1991 als erstes Land aus der UdSSR aus. Aus Sicht der Ultranationalisten hat sie den Zerfall eingeleitet. Der heutige Krieg ist insofern eine Vergeltung. Ich vermute, dass ein Nachfolger Putins aus diesen Reihen viel schlimmer wäre.

Eine eher düstere Aussicht …

Mir scheint das Ende des Krieges nur dann möglich, wenn der Mythos Putin selbst besiegt wird. Das ist schwierig, weil er dafür gesorgt hat, dass der Putinismus überall gut etabliert ist. Die gute Nachricht: In der russischen Geschichte hat es immer wieder Überraschungen gegeben. Michail Gorbatschow war im Jahr 1985 zum Beispiel eine davon.

Wie wird Putin in die Geschichte eingehen?

Kommt darauf an, wie der Krieg ausgeht. Wenn Putin verliert und sich die Armee aus der Ukraine zurückziehen muss, hätte er ein ähnliches Schicksal wie Zar Nikolaus I. Er würde als einer in die Geschichte eingehen, der so ziemlich alles verraten hat, was im Sinne einer westlichen Intelligenz einen Fortschritt für Russland bedeutet hätte. 

Ein scheinbar sehr kleiner Mann in einer Uniform der swojetischen Roten Armee winkt in die Kamera. Im Hintergrund ist ein Backsteingebäude zu sehen. Er hält eine Pfeife in der Hand und lächelt. Das Bild ist Teil von einem Artikel über Russland.
Verniedlichter Horror: Ein Stalin-Darsteller für Touristen im Mai 2022 auf dem Roten Platz in Moskau. © Getty Images

Und wenn er gewinnt?

Dann werden sich die Leute schnell hinter den Sieger stellen und alle Gräuel vergessen, das hat schon der Schriftsteller Alexander Solschenizyn erkannt. Was zählt, ist der Faktor Zeit. Das wusste vor allem Stalin. Er hat Zeit verstreichen lassen, und die Leute haben vergessen. Und mehr: Sie haben die Vergangenheit sogar verklärt, egal wie viele Verbrechen er und seine Anhänger damals begangen hatten.

Wie kann das sein?

Weil die Vergangenheit nicht aufgearbeitet wurde. Es gab keine Filme, keine öffentlichen Diskussionen, keine Literatur über den Stalin-Terror. Sie hätten auf das kollektive Gedächtnis einwirken und es verändern können. Kurz sah es in der Glasnost-Zeit zwar so aus, als ob es entstehen könnte, doch Putin hat alles im Keim erstickt und durch Nationalismus ersetzt. Das Konzept heißt, dass man auf Russland stolz sein muss. Deshalb knüpft Putin an die imperialistische Vergangenheit an.

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