Russland: Droht der Zusammenbruch?

Russlands Krieg gegen die Ukraine könnte im Extremfall für die Führung im Kreml den Zusammenbruch bedeuten. Für eine Prognose lohnt sich ein Blick in die russische Geschichte.

Der russische Präsident Wladimir Putin mit den ukrainischen Separatistenführern Wladimir Saldo, Jewhen Balyzkyj, Leonid Passetschnik und Denis Pushilin während der Annexionszeremonie von vier ukrainischen Regionen im Großen Kremlpalast im September 2022.
Der russische Präsident Wladimir Putin mit den ukrainischen Separatistenführern Wladimir Saldo, Jewhen Balyzkyj, Leonid Passetschnik und Denis Pushilin während der Annexionszeremonie von vier ukrainischen Regionen im Großen Kremlpalast im September 2022. Werden die Verbündeten Putins nach dem Ende des Krieges noch zu ihm halten? © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Quo Vadis? Russlands Rückschläge im Krieg gegen die Ukraine könnten für Putins Regierung im Zusammenbruch enden.
  • Vergangenheit. Ein Blick in die russische Geschichte zeigt, vom Staatszerfall bis Bürgerkrieg ist alles möglich nach einer Niederlage am Schlachtfeld.
  • Rechtfertigung. Das russische Geschichtsverständnis dient dem Regime als Filter, um seine Handlungen zu legitimieren.
  • Kein zurück. Eines ist sicher: Die russische Propaganda wird jeglichen Kriegsausgang als Sieg inszenieren.

Die Entscheidung des Kremls, eine „Teilmobilisierung“ von 300.000 Reservisten zu veranlassen, wurde als Zeichen der Verzweiflung und als Eingeständnis gewertet, dass Russland Zusammenbruch den Krieg in der Ukraine verloren hat. Selbst wenn es gelingt, hunderttausende Soldaten zusammenzutrommeln und an die Front zu schicken, glauben nur wenige, dass sie einen nennenswerten Unterschied machen werden. Ohne eine angemessene Ausbildung, Ausrüstung und Befehlsgewalt könnte die Einberufung den Krieg nur verlängern.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland eines seiner Kriegsziele erreicht, ist sehr gering. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, was mit Russland geschieht, wenn der Krieg vorbei ist. Angesichts der dramatischen Misserfolge russischer Streitkräfte, müssen auch extreme Konsequenzen in Betracht gezogen werden. Diese schließen einen Bürgerkrieg und einen Zusammenbruch des Staates mit ein.

Zwar sind derartige Spekulationen nur wenig realistisch, aber angesichts der Risiken, die ein Abstieg Russlands ins Chaos mit sich bringt, müssen diese Möglichkeiten ernst genommen werden.

Historisches Gedächtnis

Ein Grund für die Plausibilität eines Staatszerfalls ist, dass die russische Geschichte ein ausgeprägtes Muster von Niederlagen in Kriegen aufweist, die genau zu diesem Ergebnis führten. Das war 1598 der Fall, als Moskowien nach der Niederlage gegen Schweden im Livländischen Krieg (1558-1583) zusammenbrach und es fünfzehn Jahre dauerte, bis der Staat wiederhergestellt war. Beinahe wiederholte sich dieses Ereignis 1905, als eine eine russische Niederlage gegen Japan blutige Unruhen in St. Petersburg auslöste, die das Regime des Hauses Romanow schwer schwächten.

Ebenso geschah dies 1917, als eine Reihe von Niederlagen gegen Deutschland die bolschewistische Revolution und den Bürgerkrieg auslöste; zeitweise gab es 20 verschiedene Regierungen auf dem Gebiet des ehemaligen russischen Reiches. Und zuletzt folgte das Jahr 1991, als die Niederlage im Kalten Krieg zum Zusammenbruch der Sowjetunion führte und die Russische Föderation beinahe mit ihr zerbrach.

Putins Welt

Wladimir Putins Aufsatz aus dem Jahr 2021 hat viel Aufmerksamkeit erregt. In diesen Ausführungen bestreitet der russische Präsident die ukrainische Staatlichkeit und behauptet, dass Russland ein angebliches Recht hat, Gebiete innerhalb seiner „historischen“ Grenzen zurückzufordern. Die Kommentare in der westlichen Presse waren oft herablassend und suggerierten, dass Putin nur eine Schimpftirade abließ.

Die russischen Bürger und ihre Führer leben in einer Blase mit eigenen historischen Erinnerungen.

Das ist ein gefährlicher Irrglaube. Solche Appelle an die Geschichte müssen ernst genommen werden, denn die russischen Bürger und ihre Führer leben in einer Blase mit eigenen historischen Erinnerungen. Für „Westler“ ist das schwer verständlich. Wenn solche historischen Erinnerungen als Filter für das Verständnis aktueller Ereignisse dienen, wird die Geschichte dazu beitragen, die heutigen Erwartungen zu formen und das Handeln in der realen Welt zu bestimmen.

Das ist der Grund, warum die russische Geschichte für die aktuellen Ereignisse so wichtig ist und warum der Kreml häufig auf die Vergangenheit verweist. In weiterer Folge bedeutet es auch, dass das Gespenst des Staatszerfalls nicht ignoriert werden kann. Wenn wichtige Akteure jetzt glauben, dass eine Niederlage in der Ukraine einen solchen Zusammenbruch nach sich ziehen könnte, werden sie so handeln, dass dieses Ergebnis eher eintritt. Es ist symptomatisch, dass sich der tschetschenische Warlord Ramsan Kadyrow weigert, die Mobilisierung in Tschetschenien durchzuführen. Wahrscheinlich in der Erwartung, dass seine Truppen bald im eigenen Land gebraucht werden könnten.

Historische Wurzeln

Die Grundzüge des russischen Geschichtsgedächtnisses wurden unter Zar Nikolaus I. (1825-1855) formuliert. Nach den Worten seines Erziehungsministers, Graf Sergej Uvarov, bestand das Wesen des Zarenreichs aus „Autokratie, Orthodoxie und Nationalität“. Alle drei Merkmale sind nach wie vor bestimmend in Russland. In der Ära Putin haben sie sogar noch an Bedeutung gewonnen.

Unter Autokratie versteht man nicht nur die Herrschaft eines einzelnen Führers, sondern auch das völlige Fehlen von Rechenschaftspflicht. Russland hatte noch nie einen Herrscher, der einer irdischen Macht gegenüber rechenschaftspflichtig war; in diesem Sinne stellt Wladimir Putin die Normalität dar.

Ein Vertreter der orthodoxen Kirche in Russland segnet frisch eingezogene Rekruten auf dem Truppenübungsplatz in Rostow im Oktober 2022
Ein Vertreter der orthodoxen Kirche in Russland segnet frisch eingezogene russische Rekruten auf einem Truppenübungsplatz in Rostow im Oktober 2022. Die Kirche steht an Putins Seite, zumindest so lange dieser den Ton angibt. © Getty Images

Die Rolle der Orthodoxie wurde vom Schriftsteller Fjodor Dostojewski (1821-1881) definiert, der bekanntlich behauptete, dass „russisch zu sein bedeutet, orthodox zu sein“. Demnach hat die orthodoxe Kirche die Aufgabe, die Macht des Kremls zu legitimieren und die Russen als die einzig wahren Christen darzustellen. Putins Beziehung zu Patriarch Kirill ist wiederum völlig normal.

Die Nationalität ist das heikelste Thema. Das russische Wort „narodnost“ bezieht sich nicht auf eine Nation im westlichen Sinne, sondern auf eine tiefere Gemeinsamkeit zwischen den Mitgliedern der Heiligen Rus. Es ist die treibende Kraft hinter der „patriotischen Erziehung“, die derzeit in russischen Schulen auf Hochtouren läuft. Und es erklärt, warum ukrainische Frauen und Kinder in entlegenen Gebiete der Russischen Föderation deportiert werden. Sie sollen nicht-slawische Minderheiten ersetzen, die in der Ukraine in den Tod geschickt werden.

Die möglichen Entwicklungen in Russland lassen sich in drei verschiedene Szenarien einteilen, wobei das erste das Überleben des Regimes beinhaltet.

Szenario I: Überleben des Regimes

Es mag kurios erscheinen, dass die Russen Wladimir Putin als Teil in einer Reihe von Führern sehen, die von Iwan dem Schrecklichen und Peter dem Großen bis hin zu Josef Stalin reichen. Weniger amüsant ist die Tatsache, dass diese Form der Führung über die Jahrhunderte hinweg – unterbrochen von Episoden des Krieges und des Zusammenbruchs – die beständigste Form des Regierens war. Wenn Putin beweist, dass er der Aufgabe gewachsen ist, kann er an der Macht bleiben. Wenn nicht, dann wird er verschwinden.

Wenn der Kreml nicht mehr behaupten kann, dass das Militär Russland schützt, dann kommen die Machthaber in Schwierigkeiten.

Unabhängig davon, wer an der Macht ist, wird das Überleben des Regimes von einem Stalinismus geprägt sein, der auf einem extremen Führerkult, Fremdenfeindlichkeit und der Indoktrination russischer Werte beruht. Hinzu kommen verschärfte Repressionen gegen sogenannte Staatsfeinde, geschlossene Grenzen und ein Abstieg in eine autarke Kriegswirtschaft. Das Wirtschaftsmodell würde der „strukturellen Militarisierung“ aus der Sowjetzeit ähneln, was bedeutet, dass die gesamte Gesellschaft den Bedürfnissen des Militärs unterworfen ist. Der Hauptunterschied bestünde darin, dass die heutigen militärischen Produktionskapazitäten Russlands im Vergleich zu den Vereinigten Staaten weit unterlegen sind.

Das neue Nordkorea

Wenn die westlichen Regierungen ihre Versprechen einhalten, den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg zu unterstützen, könnte dieses Szenario wie das Ende des Koreakriegs aussehen: ein Waffenstillstand, aber kein Frieden. Während sich die Ukraine nach dem Vorbild Südkoreas entwickeln und in die westliche Gemeinschaft integrieren würde, könnte Russland zu einem riesigen Nordkorea werden – mit Atomwaffen, einer maroden Wirtschaft und wenigen Freunden in der Außenwelt. Bezeichnenderweise hat sogar das aktuelle Nordkorea Behauptungen zurückgewiesen, es verkaufe jetzt Waffen an Russland.

Der Schwachpunkt dieses Szenarios liegt in der langjährigen Verherrlichung der Streitkräfte des Landes. Die Armee Alexanders I. besiegte Napoleons Große Armee, die Rote Armee von Josef Stalin schlug die Nazis im Großen Vaterländischen Krieg. Der letztgenannte Triumph wurde Generationen von Russen eingebläut und wird jedes Jahr mit einer großen Parade auf dem Roten Platz gefeiert.

Wenn der Kreml nicht mehr glaubhaft behaupten kann, dass das Militär Russland immer noch gegen ausländische Feinde schützen kann, werden die Machthaber in große Schwierigkeiten geraten. Als Putin seine „spezielle Militäroperation“ startete, war es keine Überraschung, dass sie als Kampf gegen Nazis dargestellt wurde. Nun, da eben diese „Nazis“ seine glorreichen Streitkräfte niedergeworfen haben, bröckelt die Fassade seines Macho-Regimes.

Szenario II: Zusammenbruch des Staats

Wenn eine Art Restauration des Stalinismus scheitert, ist eines der beiden alternativen Szenarien der Staatszerfall. In diesem Szenario würde sich die Kette der Ereignisse von 1991 wiederholen, als Moskau von Sowjetrepubliken herausgefordert wurde, die auf der Ausrufung der Unabhängigkeit bestanden. Wie damals würde dieser Prozess ein Mosaik aus verschiedenen Ergebnissen aufweisen.

In Tschetschenien könnte Kadyrow einen neuen Aufstand entfachen, der sich auf den gesamten Nordkaukasus ausweiten würde. Das benachbarte Dagestan ist bereits instabil. Die Regime in den ölreichen muslimischen Republiken entlang der Wolga, wie Tatarstan und Baschkortostan, könnten sich für einen Bruch mit Moskau entscheiden und versuchen, Beziehungen zu Kasachstan und der Türkei aufzubauen. Dies würde zu einer drastischen Neuausrichtung der heute als russisch geltenden Energieströme führen. China könnte im Fernen Osten ein Protektorat errichten, um die Kontrolle über die regionalen Öl-, Gas- und Holzvorkommen zu übernehmen und chinesische Exklaven zu schaffen, ähnlich der Dynamik, die sich in Afrika entwickelt.

Dosen eines neuen Bieres der ukrainischen Brauerei "Pravda Beer Theater" mit einem Etikett, auf dem der brennende Moskauer Kreml abgebildet ist.
Eine ukrainische Brauerei bildet auf ihren Bierdosen den brennenden Moskauer Kreml ab. Ein Sieg gegen Russland könnte Putin zu Fall bringen. © Getty Images

Die Russische Föderation könnte zwar noch den formalen Anschein der Einheit wahren, wäre aber ein potemkinscher Staat. Hinter dem Vorhang hätte die Regierung Schwierigkeiten, zentrale Funktionen wie die Tätigkeit der Zentralbank, die Aufsicht über die Finanzmärkte und den Steuerföderalismus aufrechtzuerhalten. Die Folgen für das Bildungs- und Gesundheitswesen und die sozialen Dienste liegen auf der Hand.

Szenario III: Bürgerkrieg

Das letzte, noch düsterere Bürgerkriegsszenario erinnert an die Ereignisse von 1917, als aus dem Krieg mit Deutschland zurückkehrende Truppen einen Massenaufstand auslösten. Die Gefahr eines solchen Flächenbrands wird durch die Wut der Führer ethnischer Minderheiten verschärft. Denn deren Männer werden unverhältnismäßig häufig für den Krieg in der Ukraine eingezogen und in großer Zahl getötet werden.

Ein Bürgerkrieg könnte sogar von der Ukraine ausgelöst werden: Wenn Moskau sein Territorium weiter beschießt, wäre es möglich, dass Kiew den Krieg nach Russland trägt. Die Möglichkeiten reichen von grenzüberschreitenden Kommandoangriffen und Langstreckenraketen bis hin zum Einsatz kampferprobter russischer und tschetschenischer Truppen, die auf ukrainischer Seite kämpfen.

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Zahlen & Fakten

Es mag verlockend sein, diese Szenarien als extrem abzutun, und vielleicht sind sie das auch. Aber sie machen deutlich, wie extrem die Herausforderungen sind, vor denen jeder Mittelweg für Russlands Nachkriegserholung steht. Selbst wenn die Propagandamaschinerie des Kremls jeden Ausgang des Krieges als Sieg darstellen kann, wird das Scheitern der „Sonderoperation“ immer noch außergewöhnlich schwerwiegende Probleme auslösen.

Rechenschaftspflichtige Regierungsführung hat es in Russland noch nie gegeben.

Moskau wird sich mit den verbitterten heimkehrenden Truppen und den Familien der Gefallenen und Verwundeten auseinandersetzen müssen. Es wird sich mit den verbitterten Regierungen der ethnischen Minderheiten der Föderation arrangieren müssen. Es wird Wege finden müssen, um die Beziehungen zu ehemaligen Freunden und Verbündeten wie China und Kasachstan wiederherzustellen, die über die Folgen ihrer Kriegsführung bestürzt sind.

Wirtschaft wiederbeleben

Es wird eine zivile Wirtschaft wieder aufbauen müssen, solange die Sanktionen aufrechterhalten werden, selbst wenn Russland mit einbrechenden Einnahmen aus Öl- und Gasexporten konfrontiert ist. Und es wird eine Form der rechenschaftspflichtigen Regierungsführung erfinden müssen, die es in Russland noch nie gegeben hat. Einschließlich des Aufbaus eines Mindestmaßes an Vertrauen der Bevölkerung in die Legislative und die Strafverfolgung.

Der optimistischste denkbare Kurs Russlands wäre ein Nachkriegsregime unter einer neuen Führung und einen friedlichen sowie konstruktiven Ansatz zur Lösung der oben genannten Probleme. Dies würde auch eine Lockerung der Sanktionen und eine marktwirtschaftliche Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft bedeuten. Doch selbst unter solch rosigen Bedingungen ist der bereits angerichtete Schaden groß. Es wird sehr lange dauern, bis uns Russland als scheinbar normales Land erscheint. In der Zwischenzeit bestehen die drei oben genannten düsteren Szenarien als mögliche Ergebnisse.

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Conclusio

Die russische „Teilmobilisierung“ im Krieg gegen die Ukraine war eine Niederlage für das Regime in Moskau. Dieser Rückschlag rückt wieder eine Frage in den Mittelpunkt: Wie geht es mit Russland nach dem Angriffskrieg weiter? Die russische Geschichte liefert dazu Anhaltspunkte. Vom Zusammenbruch des Staats bis zum Bürgerkrieg reichen die Szenarien. Auf den ersten Blick erscheinen diese Prognosen als zu extrem, aber vor einem Jahr schien ein Krieg in Europa ebenfalls undenkbar.