So rettet die Schule unsere Demokratie

Autoritarismus entsteht nicht von selbst, er wird gemacht. Die Schule hat die Aufgabe, Lust auf Demokratie zu machen. Und sie hat die Mittel dazu.

Illustration von Schülern beim Debattieren und Lesen
Debattierklubs sind an Schulen im deutschsprachigen Raum noch eine Seltenheit. Sie sind jedoch eine Chance, demokratische Selbstwirksamkeit in der Praxis zu erproben. © Darja Eder
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Auf den Punkt gebracht

  • Mündigkeit. Demokratien sind am Straucheln – weltweit. Um Autoritarismus entgegenzuwirken, muss Politik schon in der Schule zum Alltag werden.
  • Müdigkeit? Die Chancen dafür stehen besser, als oft behauptet: Umfragen zeigen, dass Jugendliche durchaus am Tagesgeschehen und an Politik interessiert sind.
  • Mitsprache. Sie bekommen nur zu wenig Gelegenheit, bereits während der Schulzeit praktische Erfahrungen in politischer Selbstwirksamkeit zu sammeln.
  • Motivation. Lernende dürfen Politik nicht nur als graue Theorie erfahren. Schulen müssen Möglichkeiten zur Debatte und zur Mitbestimmung bieten.

Demokraten fallen nicht vom Himmel – vielmehr muss Demokratie erlernt und erprobt werden. Sowohl die Covid-19-Pandemie als auch der Krieg in der Ukraine machen deutlich, dass Politik ein hochdynamischer Prozess ist, in dem nicht nur alte Zuordnungen verwaltet werden. Politik ist das konflikthafte Ringen um allgemeinverbindliche Lösungen für bestehende Probleme. Im Gegensatz zu Autokratien sind Demokratien darauf angewiesen, dass sich ihre Bürgerinnen und Bürger an diesem Prozess beteiligen. Politische Teilhabe ist allerdings nicht voraussetzungslos. Auf individueller Ebene hängt sie von Wissen, Fähigkeiten und Bereitschaften ab – im weitesten Sinne also von politischer Mündigkeit.

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Leitmotiv Mündigkeit

Mündigkeit geht stets mit Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen einher. „Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet“, heißt es treffend beim deutschen Philosophen Theodor W. Adorno. Mündigkeit lässt sich allerdings nicht mit einer bestimmten Form des politischen Handelns gleichsetzen, sondern kann in einer pluralistischen Demokratie in unterschiedlichen Rollen gelebt werden, zu denen die reflektierte Beobachterin ebenso zu zählen ist, wie der interventionsfähige Bürger oder die politisch engagierte Aktivbürgerin.

Alle drei Rollen gehen idealtypisch mit dem Bekenntnis zur demokratischen Idee und einem grundlegenden Interesse am Politischen einher. Sie sind klar abzugrenzen von einer vierten Rolle – den politisch Desinteressierten. Dieser Typus birgt für die demokratische Ordnung erhebliche Risiken.

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Zahlen & Fakten

Sieht man sich jüngere Befunde zu politischem Interesse und Demokratieverständnis junger Menschen in Österreich an, ergibt sich ein spannungsreiches Bild. So hat etwa die „Lebenswelten 2020“-Studie der österreichischen Pädagogischen Hochschulen gezeigt, dass unter Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 Jahren fast jeder Zweite entweder stark oder zumindest etwas an der Politik interessiert ist. Aus anderen Befunden weiß man, dass dieser Wert mit zunehmendem Alter noch steigt.

Jugendliche wollen Mitsprache

Das den Jugendlichen oft unterstellte Desinteresse an Politik kann durch die Tatsache entstehen, dass Politik häufig gleichgesetzt wird mit Parteipolitik. Jugendliche zeigen aber – wie der SORA-„Demokratiemonitor“ für 2021 deutlich macht – sehr wohl Interesse an Themen, die ihr gegenwärtiges und zukünftiges Leben betreffen, allen voran an politischen Fragen rund um die Pandemie (48 Prozent) und am Thema Klimaschutz (24 Prozent). Die „Fridays-for-Future“-Bewegung führt vor Augen, dass diesem Interesse auch konkrete politische Handlungen entwachsen können.

Fridays for Future Protest in Wien, September 2021
Als am 24. September 2021 der Globale Klimastreik stattfand, nahmen auch in Wien tausende Jugendliche daran teil. © Getty Images

Im Rahmen der „Lebenswelten“-Erhebung wurde deutlich, dass das politische Interesse nach Geschlecht, Herkunftsland der Familie und besuchtem Schultyp variiert. Speziell der sozioökonomische Hintergrund und das Bildungsniveau der Eltern scheinen wesentlich dafür verantwortlich zu sein, dass sich Jugendliche mehr oder weniger stark für Politik interessieren. Ungünstige Voraussetzungen führen leicht zu politischer Abstinenz. Ein zweiter Befund, der zu denken geben sollte, bezieht sich auf die Vorstellungen, die junge Menschen von Demokratie haben. Analog zur Gesamtbevölkerung zeigt sich rund ein Drittel der 16- bis 26-Jährigen anfällig für eine autoritäre Form von Demokratie mit eingeschränkten Spielräumen für Oppositionsparteien, Justiz und unabhängige Medien.

Folgen für schulisches politisches Lernen

Doch was bedeutet all das nun für das schulische politische Lernen? Nüchtern betrachtet spiegeln diese Befunde wider, dass die Lernvoraussetzungen in der Politischen Bildung ausgesprochen unterschiedlich sind. An ihnen anzuknüpfen und dadurch individuelle Lernzuwächse zu ermöglichen, stellt ein zentrales Gebot für guten Politikunterricht dar.

Lernende sind keine leeren Gefäße, die einseitig mit Faktenwissen gefüllt werden können. Stattdessen sollen ihnen ausreichend Möglichkeiten gegeben werden, um sich mit den eigenen politikbezogenen Alltagserfahrungen, Vorstellungen und Werthaltungen auseinanderzusetzen und sie weiterzuentwickeln. Dies erfordert eine Art von Unterricht, die die Interessen und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt und die dafür die nötigen Freiräume sowie differenzierte Lernangebote bereitstellt.

Lehrpläne geben die Richtung vor

Wie stehen nun die Lehrpläne zu dieser Art, politisch zu lernen? Sieht man sich den aktuell gültigen Lehrplan für den Fächerverbund „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“ in der Sekundarstufe I (Mittelschule, AHS-Unterstufe) an, wird deutlich: Politische Bildung wird hier weder als unreflektiertes Auswendiglernen von Daten und Fakten noch als Einstudieren normativ erwünschter Glaubenssätze verstanden. Inhaltlich macht der Lehrplan nur grobe Vorgaben und lässt Lehrpersonen bei der Themenwahl weitgehend freie Hand.

Schülerinnen und Schüler sollen zum eigenständigen politischen Denken und Handeln befähigt werden.

Von der Analyse von Wahlplakaten oder Instagram-Postings bis zur Auseinandersetzung mit Schlüsselproblemen wie dem Klimawandel oder der Migrationsfrage ist viel möglich. Dabei steht die Vermittlung Politischer Bildung im Zeichen des individuellen fachlichen Kompetenzerwerbs. Unterricht soll es ermöglichen, politische Sach-, Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenz zu entwickeln. Schülerinnen und Schüler sollen zum eigenständigen politischen Denken und Handeln befähigt werden.

Es braucht mehr als bloße Theorie

Der vorliegende Entwurf für einen neuen Lehrplan führt den eingeschlagenen Weg fort, was prinzipiell positiv zu bewerten ist. Bestehende Strukturprobleme dürften davon allerdings unberührt bleiben. Insgesamt stehen im Rahmen des Faches „Geschichte und Sozialkunde / Politische Bildung“ nur wenige Unterrichtsstunden zur Verfügung, bei denen der Schwerpunkt auf Geschichte liegt. Lediglich in einigen berufsbildenden Schulen (zum Beispiel Berufsschulen) gibt es ein eigenes Unterrichtsfach „Politische Bildung“.

"Jugend debattiert" in Hamburg, Februar 2020
„Jugend debattiert“: Im Februar 2020 hatten Schüler und Schülerinnen in Hamburg die Gelegenheit, Debatten mit den Spitzenkandidaten der Parteien für die bevorstehende Landtagswahl zu führen. © Getty Images

Politische Bildung soll vielmehr als eines von mehreren fächerübergreifenden Themen in allen Fächern und Schulformen unterrichtet werden. Dies ist grundsätzlich ein begrüßenswerter Ansatz, denn Politik umfasst fast alle Bereiche unseres Lebens und damit finden sich auch in den Unterrichtsfächern entsprechende Ansatzpunkte. Gleichwohl ist damit aber auch die Gefahr verbunden, dass Politische Bildung als eines von mehreren „Add-ons“ unterbelichtet bleibt.

Aktuelle Herausforderungen

Auch wenn sich mit der Senkung des Wahlalters auf 16 (2007) und der damit verbundenen Aufwertung von Politischer Bildung ein Wandel eingestellt hat, halten sich manche Problemlagen hartnäckig. In einigen Fächern findet das Unterrichtsprinzip keinen Niederschlag. Dort, wo Politische Bildung stattfindet, wirkt die Tradition der staatsbürgerlichen Erziehung, die lange das Bild von Politischer Bildung prägte, als „unpolitische“ Institutionenkunde fort. Im schlimmsten Fall hat das zur Folge, dass sich etwa die Beschäftigung mit der Bundespräsidentenwahl darauf beschränkt, die mit diesem Amt verbundenen Aufgaben und Befugnisse zu besprechen – ohne sich auf Grundlage dieses Wissens näher mit den politischen Ansichten und Amtsverständnissen der zur Wahl stehenden Kandidaten auseinanderzusetzen.

Ängste von Lehrpersonen, der politischen Indoktrination bezichtigt zu werden, sind nicht ganz unbegründet.

Das Politische verschwindet bei dieser Art von Unterricht unter einem Berg an Information. Ein weiteres, oft beobachtetes Problem stellt die Gleichsetzung von sozialem und politischem Lernen dar. Dies hat mitunter zur Folge, dass Konflikte in der Gesellschaft und Konflikte im sozialen Nahraum mehr oder minder synonym behandelt werden und damit politisches Lernen auf der Strecke bleibt. Klassenräte stellen in diesem Zusammenhang zweifelsfrei eine gute Möglichkeit dar, um demokratische Mitbestimmung im Schulalltag zu erlernen und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen. Allerdings ist die Durchführung eines Klassenrats noch nicht per se Politische Bildung und kann das politische Lernen an Gegenständen unmöglich ersetzen.

Ein Grund für diese Problemlagen könnten bestehende Ängste von Lehrpersonen sein, der politischen Indoktrination bezichtigt zu werden. Angesichts von öffentlichen Interventionen von Eltern sowie Vertretern und Vertreterinnen der Politik sind solche Befürchtungen auch nicht ganz unbegründet. Darüber hinaus fühlen sich Lehrerinnen und Lehrer oftmals zu wenig qualifiziert für ein Fach, in dem schwierige und tagesaktuelle Themen behandelt werden. Aufgrund der verhältnismäßig wenigen Stunden, die für Politische Bildung zur Verfügung stehen, kommt dann auch noch Zeitmangel dazu. All das führt häufig zu einer Flucht vor der Politik in der Schule.

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Zahlen & Fakten

Rahmenbedingungen verbessern

Wie könnte dem in Hinkunft entgegengewirkt werden? Damit das Konzept der Politischen Bildung als fächerübergreifendes Unterrichtsprinzip an den Schulen tatsächlich seine Wirksamkeit entfalten kann, müsste Politische Bildung in der Ausbildung aller Lehrerinnen und Lehrer – von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II – fest verankert werden. Das Angebot von einschlägigen Lehrveranstaltungen müsste über Wahlfächer hinausgehen und sinnvollerweise in kooperativen Formaten (Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdidaktiken mit der Didaktik der Politischen Bildung) stattfinden. Um die Professionalisierung der Politischen Bildung voranzutreiben, braucht es auch in Zukunft ein nationales Kompetenzzentrum, das forschungsbasierte Impulse für die Praxis bereitstellt.

Unabhängig davon müsste die Politische Bildung allerdings auch als Fach gestärkt werden. Ob im Verbund mit Geschichte oder als eigenständiges Unterrichtsfach: Politische Bildung benötigt deutlich verbesserte Rahmenbedingungen, um ihr Potenzial entfalten zu können. Davon würde nicht nur der einzelne Schüler profitieren, sondern unser demokratisches Gemeinwesen als Ganzes. Spätestens in jenen Momenten, wenn die öffentliche Klage über zeittypische Verwerfungen wie Verschwörungsgläubigkeit, Freund/Feind-Denken oder Demokratiemüdigkeit wieder laut wird, sollten wir uns als Gesellschaft ins Bewusstsein rufen, dass die Befähigung und Anstiftung möglichst vieler junger Menschen zum politischen Selbstdenken nach wie vor die beste Prävention solcher Problemlagen darstellen.

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Conclusio

Politik ist Teil aller Lebensbereiche – und sollte auch entsprechend gelehrt werden. Zu sagen, dass sich die Jugend von heute nicht für politische Themen oder die Zukunft interessiert, geht schlichtweg an der Realität vorbei. Um Impulse für demokratische Selbstentfaltung zu bieten, müssen Schulen zunächst ihren Unterricht öffnen und politische Bildung zum Bestandteil aller Fächer machen: von Geschichte bis Physik, von Deutsch bis Kunst. Das erfordert auch Reformen in der Lehrerausbildung. Zudem müsste die Politische Bildung allerdings auch als Fach gestärkt werden. Lernende brauchen Gelegenheiten, ihrer Stimme wirksam Gehör zu verschaffen – etwa in Form von Klassenräten. Je früher Schülerinnen und Schüler dazu angeleitet werden, ihre Position hinsichtlich gesellschaftlicher Themen zu bestimmen und in Situationen politischer Teilhabe zu testen, desto stärker werden sie sich auch als Erwachsene für den Erhalt der Demokratie einsetzen.