Schweiz und EU: In Sturheit vereint

Dreißig Jahre lang wurde nachgedacht, taktiert und halbherzig verhandelt. Jetzt sollte die Schweiz ihre Beziehung zur EU endlich in Ordnung bringen. Auf die Dauer kann man nicht „den Fünfer und das Weggli“ haben.

Schweizer Fünf Franken-Münze vor EU-Flagge
Wirtschaftlich sind die Schweiz und die EU durch zahlreiche bilaterale Abkommen verbunden. Nicht nur das: Die Eidgenossenschaft profitiert auch am stärksten vom EU-Binnenmarkt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Helvetisches Dorf. Die Schweiz: ein kleiner Staat mit großer Identität. Doch der Grat zwischen staatlicher Souveränität und provinziellem Isolationismus ist schmal.
  • Parallelen. So unterschiedlich, wie gerne dargestellt, sind sich die Schweiz und die EU nicht – weder strukturell noch mit Blick auf ihre innere Komplexität.
  • EU-Skepsis. Anti-EU-Haltungen haben in der Schweiz Tradition, trotz enger wirtschaftlicher Beziehungen und der Akzeptanz weiter Teile des EU-Regelwerks.
  • Risiko. In einer Welt, die geopolitisch im Umbruch ist, droht die Schweiz mit ihrer schwammigen Positionierung zur EU eine Chance zu verspielen.

Die Ähnlichkeiten sind verblüffend: Sowohl die Schweiz als auch die Europäische Union sind nicht zufällig entstanden, sondern Ergebnis politischen Willens – jeweils im Widerspruch zum damals herrschenden Mainstream. Hier die Schweiz, der neutrale, föderalistische, wohlhabende Kleinstaat im Herzen Europas. Dort die Europäische Union, das auf Frieden, Wohlstand und Werten gegründete, kontinental angelegte integrationspolitische Experiment.

Auf der einen Seite 26 Kantone, auf der anderen 27 Staaten, alle ebenso eigenständige wie eigensinnige politische Einheiten. Sie werden zusammengehalten von einem raffinierten Gefüge gemeinsamer Regeln und Institutionen. Jeder Kanton, jeder Mitgliedstaat ist machtbewusst, wirtschaftlich erfolgreich, im Wettbewerb mit anderen, international vernetzt.

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Lauter Sonderfälle mit unverwechselbar eigener Geschichte und Tradition. Und alle 53 beäugen misstrauisch, was aus dem Zentrum kommt, einmal aus Bern, einmal aus Brüssel. Beide sind keine echten Hauptstädte, aber Impuls- und Steuerungszentralen in der fein ausgeklügelten Balance der Macht und der Umverteilung solidarischer Leistungen. Neun Millionen Einwohner hier, rund 50-mal so viele dort. Jeweils eine gemeinsame Währung, aber bunt gemischte Sprachen und Religionen. Vier Amtssprachen in der Schweiz, 24 in der EU. Und zweimal ein Motto in lateinischer Sprache: „Unus pro omnibus, omnes pro uno“ (einer für alle, alle für einen) und „In varietate concordia“ (in Vielfalt vereint). Wem gehört welches?

Schwieriges Verhältnis

Trotz aller Ähnlichkeit tun sich die Schweiz und die EU schwer, miteinander ein nachhaltig konstruktives Verhältnis aufzubauen. Das hat viel mit dem jeweiligen Selbstverständnis zu tun, aber auch mit den Interessen einflussreicher Einzelakteure und Gruppen. Dabei ist die enge wirtschaftliche Vernetztheit für beide alternativlos: Die Hälfte aller Schweizer Exporte geht in den EU-Binnenmarkt. Täglich werden Waren und Dienstleistungen im Wert von fast einer Milliarde Franken ausgetauscht. Knapp 1,5 Millionen EU-Bürger arbeiten zu attraktiven Löhnen in der Schweiz, umgekehrt tummeln sich knapp eine halbe Million Eidgenossen auf dem EU-Arbeitsmarkt.

Jeder hätte gerne eine maßgeschneiderte Mitgliedschaft, warum sollten nur die Schweizer eine bekommen?

Die EU hat bisher viel Verständnis für den schwierigen Nachbarn gezeigt. Mehr als 120 bilaterale Einzelverträge regeln die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU, insbesondere den Zugang zum Binnenmarkt. Allerdings war eine Passivmitgliedschaft Dritter am Binnenmarkt, dem Herzstück der europäischen Einigung, aus Brüsseler Sicht nie ein Zukunftsmodell.

So wurde in den 1990er-Jahren für jene Europäer, die der Gemeinschaft auf absehbare Zeit nicht beitreten wollten, der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) geschaffen. Geboten wurde Zugang zum Binnenmarkt mit einer gemeinsamen institutionellen Komponente zur Streitregelung. Liechtenstein, Norwegen und Island traten bei, die Schweizer lehnten 1992 ab. Damals wie heute hatte die ausgeprägte Anti-EU-Haltung übrigens einen Namen und ein Gesicht: Christoph Blocher, Milliardär, Industrieller, Medieneigentümer, Kurzzeit-Bundesrat.

Neuer Beziehungsversuch

Nach dem Scheitern des Schweizer EWR-Beitritts wurde beiden Partnern allmählich klar, wie wenig kompatibel die Vorstellungen für die gemeinsame Zukunft waren. 24 Jahre nach dem Antrag zog die Schweiz 2016 ihr Beitrittsgesuch auch formell zurück. Die Schweiz würde wohl nie EU-Mitglied werden. Oder erst, wenn es ihr wirtschaftlich schlecht ginge, so Christoph Blocher.

Auch in der EU sank die Begeisterung für den extrakomplizierten Partner Schweiz proportional zum internen Druck rechtslastiger europaskeptischer Parteien in den eigenen Reihen. Jeder hätte gerne eine maßgeschneiderte Mitgliedschaft, warum sollten nur die Schweizer eine bekommen?

Christoph Blocher bei einer SVP-Demonstration 1995
Christoph Blocher während einer Kundgebung der „Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz“ in Zürich, 1995. An dem Marsch nahmen auch Rechtsextreme teil, die zu Gewalt gegen Gegendemonstranten griffen. © Getty Images

Binnenmarkt ohne nichts“ war fortan nicht mehr im Angebot der EU. Statt weiterer Einzelverträge sollte eine Art „Dach-Vertrag“ her. An der Spitze der Kommission legte sich ein überzeugter Kleinstaatenvertreter ins Zeug, der Luxemburger Jean-Claude Juncker. Er kannte die Interessenlagen wie auch die tief sitzenden Ängste der erfolgreichen Kleinen besser als jeder andere.

Doch auch dieser Versuch wurde zum Rohrkrepierer. Ende Mai 2021 erklärte die Schweizer Regierung die Verhandlungen für beendet. Einfach so. Ohne Einbeziehung von Parlament und Volk. Bemerkenswert im Musterland der direkten Demokratie. Im Jahr 1992 war das EWR-Thema noch Volk und Ständen zur Abstimmung vorgelegt worden. Dreißig Jahre später war offenbar niemand mehr bereit, für ein tatsächlich maßgefertigtes Abkommen samt dynamischer Rechtsübernahme, Notbremse und Schiedsgericht in den Abstimmungskampf zu ziehen. Damit hätte die Schweiz übrigens als einziges Land weltweit EU-Rechtsvorschriften à la carte übernehmen können.

Wo (k)ein Wille ist, ist auch (k)ein Weg

Außenpolitik ist eine direkte Funktion der Innenpolitik. Die Schweizer Regierung verfing sich im Taktieren. Der Bundesrat unternahm keinen Versuch, den Bürgern den Nutzen eines längerfristigen Stabilisierungsabkommens mit der EU nahezubringen. Keine überzeugungsstarke Persönlichkeit in der Regierung setzte sich vorbehaltlos für das fertig ausgehandelte Abkommen ein. Viele Gruppen fanden Gründe, das Abkommen nicht zu mögen. Besonders die Gewerkschaften kletterten mit dem Thema Lohnschutz erfolgreich auf die Barrikaden. Ihre Allianz mit der rechtsnationalen SVP und deren Souveränitätsfetischismus verhinderten eine Mehrheit für das Rahmenabkommen.

Dazu kamen mangelnde Reformbereitschaft in bestimmten Wirtschaftskreisen und allgemeiner Unwille, sich von der EU in die Karten schauen zu lassen. Am Ende fehlte eine kritische Masse positiver Argumente. Der Status quo schien besser als das überschaubare Risiko einer pragmatischen Flurbereinigung.

In einer vernetzten Welt wird Souveränität längst nicht mehr als mittelalterliche Autarkie verstanden.

Das Blocher’sche Narrativ vom unbeugsamen helvetischen Dorf hatte die öffentliche Meinung in Besitz genommen. „Wir finden uns wieder zurück auf Feld 1 nach dreißig Jahren europapolitischem Murks“, sagt Peter Ziegler, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung „Der Bund“ und reumütiger EWR-Gegner, angesichts des ergebnislosen Verschleißes an diplomatischen und politischen Energien.

Auffallend ist: Der mittlerweile fast flächendeckend praktizierte „autonome Nachvollzug“ – also die direkte Übernahme von EU-Recht – scheint niemanden zu stören. Warum will die souveränitätsbewusste Schweiz in Brüssel nicht am Tisch sitzen? Mitentscheiden? Mitverantworten? Ist der „Sonderfall Schweiz“ am Ende gar strategieunfähig geworden? In einer vernetzten Welt wird Souveränität längst nicht mehr als mittelalterliche Autarkie verstanden. Gerade für Kleinstaaten, deren Sicherheit letztlich von außen gewährleistet wird, geht es um Optimierung von Einflussmöglichkeiten. Und um die kluge Nutzung von multilateralen Zusammenschlüssen als „Souveränitätsverstärker“ – siehe EU und Irland.

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Zahlen & Fakten

Schweizer Abfangjäger F/A-18
Hornissenflug: Die Schweizer Luftwaffe verfügt über 30 Stück des Abfangjägers F/A-18 Hornet samt Radar und Raketen. © Getty Images

Festung in den Alpen

Als neutrales Land muss sich die Schweiz selbst verteidigen können. Die Eidgenossenschaft ist daher gut gerüstet, Wehrhaftigkeit gilt in der Gesellschaft als Bürgerpflicht.

Armeevolk

Oft hört man: Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee. Das Heer rekrutiert sich zum Großteil aus Milizsoldaten. Alle männlichen Bürger müssen sich mit 18 stellen. So sie körperlich und geistig tauglich sind und nicht Zivildienst leisten, nehmen Rekruten nach der anfänglichen Ausbildung regelmäßig an Übungen teil. Dadurch verfügt die Schweiz über rund 150.000 aktive und eingeübte Soldaten. Wer den Militärdienst nicht leistet, muss drei Prozent seines jährlichen Einkommens als Militärersatzsteuer zahlen.

Hohe Schlagkraft

Im Vergleich der militärischen Fähigkeiten kommt die Schweiz weltweit auf Platz 44 (Global Firepower Index). Doch alle höher gelisteten Länder – mit Ausnahme Norwegens – haben eine größere Bevölkerung als die Eidgenossen; das gleich große Österreich kommt im selben Ranking nur auf Platz 84. Kein Wunder, die Schweiz investiert rund fünf Milliarden Franken pro Jahr in Rüstung. Neben einem gut ausgebauten Netzwerk aus Verteidigungsanlagen verfügt die Armee über 148 Flugzeuge, darunter die F-35, die modernsten Kampfjets der Welt. Trotz der vielen Berge hat die Schweiz 380 Panzer.

Waffe im Kleiderschrank

So mancher Tourist staunt über bewaffnete Bürger in der Öffentlichkeit. Soldaten nehmen ihre Dienstwaffe, das Sturmgewehr 90, mit nach Hause. Jährlich gehen etwa 100 Waffen verloren. Häufig würden sie aber wiedergefunden, wie ein Armeesprecher beteuerte, etwa vom Nachmieter.

Demonstration von Wehrdienstverweigerern, Bern 1967
Ein Protest gegen den verpflichtenden Militärdienst in Bern, 1967. Tatsächlich wurde erst 1992 ein ziviler Ersatzdienst in der Schweiz eingeführt – für all jene, die den Wehrdienst aus Gewissensgründen nicht leisten wollen. © Getty Images

Was will die Schweiz?

Das Schweizer Modell des „Ein Fuß drinnen, einer draußen“ wirkt komfortabel. Als gäbe es tatsächlich auf Dauer „den Fünfer und das Weggli“ (helvetische Metapher für ein Tauschgeschäft, bei dem einer alles, der andere nichts erhält). Nicht umsonst bescheinigt eine Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2019 der Schweiz den größten Profit vom EU-Binnenmarkt. Aber der Ist-Zustand taugt nicht als Zukunftsmodell. Neue Marktzugangsabkommen wird es aus EU-Sicht ohne Einigung über die institutionelle Dimension nicht geben.

Die Aushöhlung der bilateralen Verträge wird sich zwar vorerst nur schleichend bemerkbar machen – indem etwa weniger oder gar nicht mehr in Forschungsprojekte oder Start-ups und Spin-offs der Universitäten investiert wird; falls die Energiesicherheit bei der Versorgung mit Strom brüchig wird und Hilfe gefragt wäre; wenn Standorte der MedTech-Industrie in die EU verlegt werden. Aber der Zug fährt weiter, und wer nicht rechtzeitig handelt, bleibt am Bahnhof sitzen.

Mitglieder des Schweizer Top Secret Drum Corps beim Spasskaya Tower International Military Music Festival auf dem Roten Platz in Moskau, 2017
Die Auftritte des Schweizer Top Secret Drum Corps – wie hier am Roten Platz in Moskau, 2017 – gehen stets mit hohem Tempo und viel Furore einher. Die Trommelgruppe aus Basel sieht sich bei ihren Auftritten, die sie auch schon bis nach Schloss Windsor geführt haben, als Repräsentant der Schweiz. © Getty Images

2023 wird in der Schweiz gewählt. Normalerweise ist das kein guter Zeitpunkt, um auf Vernunft und übergeordnete Perspektive zu setzen. Aber es gibt keinen Urlaub von der Geschichte. Der brutale russische Angriff auf den Nachbarn Ukraine stellt alte Gewissheiten auf den Kopf. Europäische Sicherheitspolitik formiert sich neu. Die Migrationswelle rollt wieder. Die EU braucht jedes Quäntchen politischer Energie für sich selbst. Der Brexit, der Ukraine-Überfall und die zunehmenden geopolitischen Spannungen bewirken in der EU mehr Geschlossenheit und weniger Bereitschaft für Spezialregelungen.

Was will die Schweiz eigentlich? Wer kennt auf Anhieb die Schweizer Linie, nicht nur in der Europapolitik? In Zeiten sich formierender geopolitischer Blöcke kann dieser Mangel an Lesbarkeit schnell zum gravierenden Nachteil werden. Selbst unter den wohlgesinnten Nachbarn macht sich Ratlosigkeit, ja Unmut breit. Bern hat US-Kampfflugzeuge gekauft, nicht deutsche oder französische. Paris und Berlin kiefeln daran. Die Solidarität mit der Ukraine reicht nicht aus, um in der Schweiz produzierte Munition nach Deutschland zu liefern. Verliert die Schweiz im Umgang mit Partnern an Verlässlichkeit?

Nägel mit Köpfen

Während Bern von einem neuen Rahmenvertrag (Bilateralen III) träumt, ohne sich intern auch nur auf ein Verhandlungsmandat einigen zu können, lässt die Präsidentin der EU-Kommission im Jänner 2023 den Schweizer Bundespräsidenten in Davos im Regen stehen. Keine Zeit für ein Treffen – Entrüstung in den Schweizer Medien. Eine Brüskierung? Oder nur ein bedenkenswerter Hinweis, dass die unentschlossene Nachbarin im Ranking der EU-Prioritäten abrutscht?

Es ist Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Das Schweizerkreuz und die Europasterne stehen nicht für unüberbrückbare Gegensätze. Nichts in der politischen Genetik der Schweiz macht sie zum Europafeind. Und umgekehrt will kein Nachbar die Schweiz gängeln. Vielleicht könnte die Schweiz nach dreißig Jahren Nachdenkpause einige Trugbilder über Bord werfen und der Welt zeigen, was sie in Wahrheit ist: durch und durch Europäerin, immer schon.

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Conclusio

Die Beziehung zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ist seit jeher kompliziert. Zwar gibt es eine Vielzahl von Ähnlichkeiten; sowohl die Schweiz als auch die EU zeichnen sich etwa durch komplexe Institutionen aus, die eine Vielzahl von Einzelinteressen austarieren. Trotzdem fällt es beiden Seiten schwer, ihr Verhältnis dauerhaft zu regeln. Bern brach 2021 die Verhandlungen über einen Rahmenvertrag mit der EU ab, ohne das Volk dazu zu befragen. Die Schweiz muss aus pragmatischen Gründen weite Teile des EU-Regelwerks übernehmen, sträubt sich jedoch dagegen, in Brüssel mitzuentscheiden. Indessen sinkt die Motivation der EU, sich mit dem Kleinstaat zu befassen. Eine schwammige Positionierung der Schweizer könnte in einer Welt, in der sich geopolitische Blöcke formieren, zunehmend von Nachteil sein.

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