Selbstversorgung hat ihren Preis

Spätestens seit Russlands Überfall auf die Ukraine wünschen wir uns eine vollständig energieautarke Gesellschaft. Dieser neue Eifer für Selbstversorgung birgt aber auch Risiken. Am stärksten bedroht: das Klima.

Illustration einer idealen autarken Welt in Menschenhand
Zu schön, um wahr zu sein? Die Sehnsucht nach Selbstversorgung wird – nicht ganz zu Unrecht – kontrovers debattiert. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Umdenken. In den letzten Jahren verlor das Projekt Weltklimarettung global an Schwung. Russlands Angriff auf die Ukraine hat das nun auch für Skeptiker geändert.
  • Unabhängigkeit. Das Ziel, sich weniger abhängig von Energieimporten aus dem Ausland zu machen, weist grundsätzlich in die richtige Richtung.
  • Doppelmoral. Allerdings richtet sich die Diskussion nicht ausschließlich auf erneuerbare Energien. Auch die Rückkehr zum Klimasünder Kohle wird erwogen.
  • Übereifer. Langfristig ist niemandem geholfen, wenn der Klimaschutz auf dem Altar der möglichst raschen Energieunabhängigkeit geopfert wird.

Die EU will seit Putins Angriffskrieg so schnell wie möglich von russischen Energieimporten unabhängig werden. Auf Gedeih und Verderb von einem Autokraten abhängig zu sein, schmerzt nicht nur finanziell, sondern greift auch den europäischen Gedanken empfindlich an.

Im Prinzip geben der Ukraine-Konflikt und die wirtschaftliche Abhängigkeit von China – siehe Halbleiter-Krise – dieselbe Richtung vor: Es muss zu einer Dezentralisierung und Deglobalisierung kommen. In Zukunft sollten nicht nur die bei der Energieversorgung, sondern auch die bei Alltagsprodukten und Konsumgütern vorhandenen langen Transportwege vermieden werden. Zudem sollten diese Güter am besten aus heimischer Produktion und über regionale Lieferketten verfügbar sein.

Paradigmenwechsel

Der zweite, nicht weniger bedeutende Aspekt des Überfalls auf die Ukraine betrifft die Klimapolitik. Für die Ökobewegungen ist die Entwicklung ein willkommener Argumentverstärker für eine schnellere Energiewende hin zu erneuerbaren Energieformen. Aber mehr noch: Plötzlich ergibt die Investition in erneuerbare Energien auch für jene einen Sinn, die den Klimawandel nicht mit nahezu religiösem Eifer verfolgten.

Tatsache ist, dass Europa alleine das Weltklima nicht wird retten können. Den Sinn einer stärkeren Unabhängigkeit gegenüber Energiepreisen und Blackouts versteht hingegen jeder. Von daher verwundert es nicht, dass die aktuellen Pläne zu Energieautarkie als regionale Versorgung derzeit so viel Zuspruch bekommen.

Plötzlich ergibt die Investition in Erneuerbare auch für jene Sinn, die den Klimawandel nicht mit religiösem Eifer verfolgten.

Wobei sich der Fokus aktuell mehr auf generelle Unabhängigkeit richtet und zunehmend weniger auf Erneuerbare. Hauptsache überhaupt Energie! Selbst Robert Habeck, der grüne deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister, schließt mittlerweile nicht mehr aus, dass Kohlekraftwerke länger laufen könnten, um Deutschland energiepolitisch unabhängiger von Russland zu machen.

Auch Luisa Neubauer, das deutsche Gesicht von Fridays for Future, fordert die komplette Unabhängigkeit von russischen Energieimporten, denn laut Neubauer hängen die Invasion Russlands und die Klimabewegung eng zusammen. Wie genau hier der Zusammenhang zwischen Invasion und Klimawandel zu verstehen ist, bleibt unklar. Aber es wird wohl gemeint sein, dass (fossile) Energieimporte per se schlecht fürs Klima sind.

Neue Abhängigkeiten vermeiden

In weiten Teilen der Politik (und der Öko-Bewegungen sowieso) gelten Wind- und Sonnenenergie als zentrale Elemente für Europas Unabhängigkeit. Immerhin sind beide Energiequellen frei verfügbar und im Grunde unerschöpflich. In den derzeitigen Diskussionen entsteht sogar der Eindruck, dass ein energieautarkes Leben, das Europa vor Blackouts und kalten Wintern genauso schützen kann wie vor den Unvorhersehbarkeiten der Weltpolitik, zu einem Freiheitssymbol des 21. Jahrhunderts werden könnte. Der deutsche Bundesfinanzminister Christian Lindner bezeichnete erneuerbare Energien in diesem Zusammenhang sogar als „Freiheitsenergien“.

Aber ganz so einfach wird das nicht sein. Die gerade vollzogene harte Wende der Klima- und Freiheitsrettungsstrategien führt auch zu paradoxen Argumentationen, wenn nicht gar zu möglicherweise schlimmeren Pfaden der Abhängigkeit. Im neuen Drive der Öko-Bewegung lässt sich nämlich wieder die Kurzsichtigkeit vieler Ökobewegten erkennen. Wie schon bisher werden nun auch in den Diskussionen um die Unabhängigkeitspolitik gerne unbequeme technische Fakten ausgespart. Denn eine massiv erhöhte Nutzung von Wind- und Sonnenenergie bedeutet, dass andere Abhängigkeiten geschaffen werden beziehungsweise verstärkt werden. Beispielsweise kommen Windkraftanlagen nicht ohne die Metalle Neodym und Dysprosium aus.

Gute Gründe für die Energiewende

Der Einsatz dieser seltenen Erden konnte in den letzten Jahren zwar etwas verringert werden. Trotzdem bleibt die europäische Industrie in puncto Magnetmetallen wie Neodym weiterhin fast vollständig von China abhängig. Zusätzlich wird auch die Solar-Industrie aktuell von chinesischen Zulieferungen dominiert. Der Trend zu Photovoltaik-Anlagen hat sich in Österreich seit Beginn des Krieges verdreifacht, die Preise sind deutlich gestiegen.

Lieferprobleme und Angebotsverknappung sind bereits vorherzusehen. Die vermeintlichen „Freiheitsenergien“ führen also zu neuen Abhängigkeiten und „Unfreiheiten“, die mittelfristig keinen Deut demokratischer, verlässlicher oder friedvoller sein müssen als die Abhängigkeit von Putins Russland.

19. Februar 2022, Niedersachsen, Eversmeer: Die Reste eines eingestürzten Daches liegen nach Orkan Zeynep auf einem Porsche
19. Februar 2022, Niedersachsen: Die Reste eines eingestürzten Daches liegen nach Orkan Zeynep auf einem Porsche. © Getty Images

Wirklich paradox wird es aber, wenn die Folgen des Klimawandels als Beitrag zum Erfolg der Energiewende umgemünzt werden. Die außergewöhnlichen Stürme zu Beginn des Jahres 2022 sowie der extrem trocken-sonnige März in weiten Teilen Westeuropas wurden in vielen Talkshows und Öko-Online-Foren fast gebetsmühlenhaft als weiteres Indiz für den menschengemachten Klimawandel herangezogen.

Mittlerweile scheint man aber diesen Extremwetterlagen auch etwas Gutes abgewinnen zu können, dienen Sturm und Trockenheit doch inzwischen als Erfolgsgarant dafür, dass es mit der Energiewende klappen könne. Etwa sprach die deutsche Tagesschau am 28. März 2022 von „idealem Wetter für erneuerbare Energie“.

Zurück zu Holz und Kohle

Im ersten Quartal 2022 wurden über 74 Milliarden Kilowattstunden Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt und ein neuer Rekord bei Windenergie aufgestellt. Überspitzt formuliert könnte man also sagen: Extremwetter steigern die Energieerzeugungen und helfen damit den Klimawandel zu stoppen. Tatsächlich wird es so sein, dass die Umwandlung in eine CO2-neutrale Gesellschaft ein höchst komplexer Prozess ist, bei dem wir noch viele unangenehme Irrtümer und Überraschungen erleben werden.

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Zahlen & Fakten

Sollte die Sorge um die Unabhängigkeit von russischen Importen noch deutlicher in den Vordergrund rücken und das Klimathema unwichtiger werden (und aktuelle Diskussionen legen dies nahe), könnte in naher Zukunft sogar an den Dogmen der grünen Energiepolitik gerüttelt werden. Dann wäre eine Rückbesinnung auf unsere immer weniger genutzten, importunabhängigen Ressourcen möglich: das stetig nachwachsende Holz aus unseren Wäldern und, wie es Rolf Peter Sieferle einst nannte, der unterirdische Wald – also Stein- und Braunkohle.

Kurzum, mit dem gut gemeinten, aber wahrscheinlich überhöhten Ruf nach Unabhängigkeit von außereuropäischen Energie- und Technikimporten könnte sich die Öko- und Klimabewegung – und nicht nur die – mittelfristig einen Bärendienst erweisen.

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Conclusio

Noch vor wenigen Monaten sah es gar nicht gut aus für die Klima­kämpfer. Die Welt stand vor anderen Sorgen: Covid-Pandemie, Lieferkettenprobleme, steigende Inflation, zunehmend aggressives Verhalten autokratischer Staaten. Dann kam Putins Invasion in der Ukraine, und viele wollen seither nur noch eines: raus aus russischem Erdgas. Das ist zwar eine positive Trendwende, doch paradoxerweise bedroht der neugefundene Eifer gleichzeitig die Ziele des Klimaschutzes – etwa, wenn Kohlebergwerke wieder in Betrieb genommen werden sollen, nur um so schnell wie möglich autark zu werden. Der Weg in die Energie-Unabhängigkeit sollte zwar weiter verfolgt werden. Doch er darf Europa weder kopfüber in die nächsten Abhängigkeiten stürzen noch an den Grundfesten der grünen Energiepolitik rütteln.