Was der neue Totimpfstoff kann

Der Covid-19-Totimpfstoff von Valneva wird nach einigen Rückschlägen zugelassen. Die Erwartungen sind groß, dass das Vakzin auch von Impfskeptikern angenommen wird. Sind Totimpfstoffe wirklich besser?

Illustration Virus
Tausendmal kleiner als ein menschliches Haar und doch so schwer zu bekämpfen: das SARS-CoV-2-Virus. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Technologie. Die Pandemie stellte die Medizin vor eine Herausforderung. Niemals zuvor wurde so schnell wie mit mRNA ein Impfstoff entwickelt.
  • Tradition. Die Entwicklung von herkömmlichen Impfstoffen dauert länger, weil sie nicht nur gegen ein Protein, sondern den ganzen Krankheitserreger wirken.
  • Schutz. Vollimpfstoffe stimulieren das Immunsystem damit auch umfassender als das mRNA-Vakzin. Insofern ist die Abwehr solider.
  • Pandemie. Sollte in der kälteren Jahreszeit eine neue Corona-Welle kommen, könnten die Ganzvirus-Impfstoffe ein wichtiges Element in der Bekämpfung werden.

Hand aufs Herz: Die Pandemie haben alle reichlich satt, Geimpfte wie Ungeimpfte. Doch derzeit steigen die Infektionszahlen wieder empfindlich an. SARS-CoV-2 macht den Menschen rund um den Globus das Leben schwer. Doch nun soll ein neuer Impfstoff das Arsenal gegen die Pandemie erweitern. VLA2001 von Valneva hat nach gründlicher Prüfung durch die Europäische Arzneimittelbehörde das „Go“ erhalten. Es ist der einzige inaktivierte Ganzvirusimpfstoff in der EU. Aber was heißt das genau und worin unterscheidet er sich von den derzeit zur Verfügung stehenden Vakzinen?

Worüber sich Experten einig sind: Impfungen sind der Schlüssel zurück in die Normalität. Sie nehmen der Infektion ihre Lebensgefährlichkeit. Mit den mRNA-Impfstoffen kam voriges Jahr eine neue Generation der Immunisierung, der viele mit Skepsis begegneten. Eine Menge Menschen zogen es vor, auf einen herkömmlichen Totimpfstoff zu warten und sich vorläufig nicht impfen zu lassen. Jetzt steht diese Option bald zur Verfügung.

Impfen: Der Mensch als Bioreaktor

Die Corona-Pandemie hat die Impfdebatte entfacht. Sich durch Vakzine vor Krankheiten zu schützen hat eine lange Tradition, genauso wie die Angst davor. Dabei ist der Körper ein Bioreaktor – und die mRNA-Technologie eine Chance, die Medizin zu revolutionieren.

Extrem wichtig zum Verständnis von Viren ist ihre Wandelbarkeit. Das Coronavirus ist mitnichten die kleine Kugel mit den Stacheln, als die es immer dargestellt wird. „Viren sind keine statische Einheit, sondern sind einem permanenten Wandel unterworfen. Ihre Oberfläche ändert sich immer wieder – abhängig davon, wo und in welchen Patientenkollektiven sie gerade grassieren“, erklärt Impfstoffexperte Otfried Kistner. Weil das Virus mit menschlichen Zellen interagiert, können – rein theoretisch – in jedem einzelnen Infizierten Mutationen entstehen. Sie können die Oberfläche und das Innere des Virus betreffen. Je mehr Infizierte, desto größer die Wahrscheinlichkeit dafür.

Dass das Spike-Protein – trotz der hohen Infektionszahlen – nach wie vor eine große Rolle zu spielen scheint, sei ein großes Glück, sagt Kistner. Nur weil sich das Spike-Protein an der Oberfläche des SARS-CoV-2-Virus kaum verändert hat, funktionieren die mRNA-Impfstoffe noch. Das könnte sich unter Umständen aber ändern, gibt Impfstoffexperte Kistner zu bedenken. Hätte sich das Spike-Protein zu sehr verändert, dann wäre das durch den Impfstoff angeregte Immunsystem nicht mehr in der Lage gewesen, das Virus zu erkennen – und damit bliebe die Impfung wirkungslos.

Virus gegen Immunsystem

Sämtliche Coronavirus-Varianten nutzten stets das Spike-Protein, um am menschlichen Organismus anzudocken und in der Folge in die menschlichen Zellen einzudringen. Eine mRNA-Impfung kann diese Andockstelle blockieren. Geimpfte werden in die Lage versetzt, Antikörper herzustellen. Das führt dazu, dass Erkrankungen wesentlich milder verlaufen. 

Viren sind keine statische Einheit, sondern sind einem permanenten Wandel unterworfen.

Otfried Kistner (Experte für Impfstoffentwicklung)

„Das Coronavirus besteht nicht allein aus dem Spike-Protein, sondern aus insgesamt 27 anderen Proteinen, die sich nicht nur in der Hülle des Virus, sondern auch in seinem Inneren befinden“, erläutert Kistner. Er geht so wie alle Virologen davon aus, dass eine echte Infektion im Körper eine umfassendere Immunreaktion hervorruft als die mRNA-Impfung. Obwohl Kistner selbst dreimal geimpft ist, wartet er trotzdem auf den Totimpfstoff, weil er davon überzeugt ist, dass sich der Schutz gegen das Coronavirus dadurch noch einmal verstärkt.

Abwehr und Gedächtnis

Konkret geht es um die Tatsache, dass die sogenannten Ganzvirus-Totimpfstoffe das Immunsystem auf einer breiteren Basis stimulieren als Impfstoffe, die sich nur auf das Spike-Protein allein konzentrieren. Das betrifft vor allem die Aktivierung jener Zellen, die das Gedächtnis des Immunsystems ausbilden und insofern auch über längere Zeitspannen hinweg eine Abwehr gegen das Virus einschließlich seiner gegenwärtigen und möglichen weiteren Varianten sein können. 

Das bedeutet: Ganzvirus-Totimpfstoffe könnten die Pandemie zum Besseren verändern. Neben zwei chinesischen Impfstoffen, die in Europa nicht zugelassen sind, steht der in Wien entwickelte Ganzvirus-Totimpfstoff von Valneva am Start. Valneva produziert den Impfstoff bereits in seinen Anlagen in Schottland sowie beim Produktionspartner IDT in Deutschland. Daneben gibt es einen zweiten neuen Totimpfstoff des US-Unternehmens Novavax, der auf einer anderen Machart beruht und als Subunit-Nanopartikel-Impfstoff bezeichnet wird.

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Zahlen & Fakten

Illustration von Ärzten, die das Corona-Virus analysieren
Die schnelle Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 war eine Sternstunde der Wissenschaft. © Getty Images

Sprechen Sie Virus?

Viele Wege führen zur Immunität. Eine Übersicht über die unterschiedlichen Methoden der Impfstoffentwicklungen.

  • mRNA-Impfstoffe: Nutzen die genetische Information zur Bildung der Oberflächenstruktur von SARS-CoV-2. Sie veranlasst den Körper, Antikörper gegen das Spike-Protein (und nicht gegen die anderen Proteine des Virus) zu produzieren. Bis jetzt funktionierte das, weil alle Corona-Varianten mit dem Spike-Protein andockten. 
  • Vektorimpfstoffe: Ein harmloses Virus wird als Träger benutzt, um genetische Information gegen den eigentlichen Krankheitserreger einzuschleusen. Ziel: Der Körper produziert durch diesen Trick Abwehrstoffe.
  • Klassische Totimpfstoffe: Funktionieren auf Basis von inaktivierten Erregern, die sich nicht mehr vermehren können. Es gibt unterschiedliche Technologien der Deaktivierung: zum einen chemische, zum anderen physikalische Methoden – etwa bei Spaltimpfstoffen (sie enthalten inaktivierte Bruchstücke des Virus). 
  • Rekombinante Totimpfstoffe: Split-, Spalt- oder Subunit-Impfstoffe, die synthetisch hergestellt werden. Sie enthalten Fragmente des Virus und sind für gewöhnlich gut verträglich.
  • Lebendimpfstoffe: Werden auf Basis von abgeschwächten (attenuierten) Krankheitserregern entwickelt. Sie machen nicht mehr krank, bringen das Immunsystem aber trotzdem dazu, Antikörper zu bilden. Auch bei den Lebendimpfungen gibt es unterschiedliche Methoden der Herstellung. 
  • Adjuvanzien: Damit Krankheitserreger, die nicht mehr krank machen, trotzdem die gewünschte Immunreaktion im Organismus auslösen, haben sich Immunverstärkerstoffe vor allem bei Totimpfstoffen bewährt. Sie stimulieren das Immunsystem und verbreitern dadurch den Impfschutz. Es gibt unterschiedliche Adjuvanzien, etwa Aluminiumhydroxid. Relativ neu ist das unaussprechliche „nichtmethylierte Cytidin-Guanosin-Dinukleotid“ (CpG), das die Immunantwort so anregen kann, dass die Abwehrzellen schneller als auf natürlichem Weg reagieren können. Dieses Adjuvans wird im neuen Valneva-Impfstoff verwendet. 

Altes Prinzip

Was man sich von beiden erhofft: dass diese neuen Vakzine es besser als die mRNA-Impfungen schaffen, das Virus abzuwehren, und so das ständige Nachimpfen in kurzen Abständen nicht mehr nötig ist. „Dass das funktioniert, wissen wir, weil wir dieses Prinzip seit 70 Jahren nutzen“, sagt Kistner, der bei der Entwicklung und Zulassung von verschiedenen Totimpfstoffen federführend beteiligt war. Allein: Warum kommen diese bewährten Impfstoffe erst jetzt auf den Markt?

Valneva-Chef Thomas Lingelbach war sich bewusst, dass Viren sich ständig wandeln und es deshalb im April 2020 nicht klar sein konnte, ob man all diese potenziellen Veränderungen im Voraus mitbedenken kann. Außerdem machte er sich Sorgen, wie in einer grassierenden Pandemie die notwendigen Zulassungsstudien durchgeführt werden können. „Es gibt irgendwann keine ungeimpften Probanden mehr, die jedoch für eine Placebogruppe im Rahmen einer Zulassung notwendig sind“, schildert Lingelbach.

Milliarden riskieren

Doch er erinnert sich auch an all jene Voraussetzungen, die ihn und seine Kollegen damals ermunterten. „Wir wussten, dass wir auf unserer Plattform entwickeln können“, sagt er lapidar und meint die technische Infrastruktur, die biotechnologische Hightech-Anlagen erfordert, zum Beispiel ein Hochsicherheitslabor, in dem man mit den hochansteckenden Viren die vielen unterschiedlichen Versuchsreihen durchführen kann, die bei der Entwicklung und der Produktion notwendig sind.

Die Wahl des Virus, auf dessen Basis der Valneva-Impfstoff entwickelt wurde, war eine spezielle Herausforderung. „Wir haben uns für das SARS-CoV-2-Virus einer Chinesin entschieden, die im Jänner 2020 nach Italien zurückgekommen war, weil sie dort arbeitete“, erzählt Lingelbach. Der Totimpfstoff basiert also auf der Virusentnahme dieser einen Patientin.

Wenn Impfstoffhersteller von Plattform sprechen, meinen sie aber auch die Methode, mit der sie den Krankheitserreger manipulieren. Auch da gibt es sehr unterschiedliche Ansätze, die viel Know-how und langjährige Erfahrung voraussetzen. Valneva hatte eine Plattform, auf der ein Impfstoff gegen die Japanische Enzephalitis (Gehirnentzündung) entwickelt wurde. Man untersuchte, ob sie sich auch für das Coronavirus eignen würde.

Valneva ist ein mittelständisches Unternehmen mit zwei bestehenden Produktionsstandorten. Deshalb mussten Vorkehrungen getroffen werden, um den Impfstoff in riesigen Mengen produzieren zu können. Die Erweiterung des Standorts in Schottland sicherte schließlich diese Voraussetzung. Konkret handelt es sich um eine großindustrielle Produktionsanlage, in der schon jedes Körnchen Staub zu viel ist, weil es die Produktion gefährden könnte. Irgendwann, sagt Lingelbach, gab es dann das „Go“. Zur Erinnerung: Das war im Frühjahr 2020, also noch lange bevor der mRNA-Impfstoff auf dem Markt war und irgendein Wissenschaftler wusste, ob sich die neue Technologie bewähren würde.

Neues Bollwerk

Doch auf dem Weg bis zur Zulassung sollte es noch viele Hürden geben. Etwa die Erkenntnis, dass die von chinesischen Impfstoffherstellern produzierten Totimpfstoffe nicht die erwünschte Immunität bringen. „Uns fehlen die vollständigen Daten zu den Impfstoffen von Sinovac und Sinopharm, doch klar ist, dass beide Impfstoffe in unterschiedlichen Ländern verschieden gut funktioniert haben“, sagt Kistner. Der Grund dafür könnten die unterschiedlichen Virusvarianten sein, die in den betreffenden Ländern gerade unterwegs waren.

Eine wichtige Rolle bei Totimpfstoffen spielen sogenannte Adjuvanzien: Sie sollen die Wirkung des Impfstoffs verstärken. Die chinesischen Produkte enthielten lediglich Aluminiumhydroxid, „die gute Wirkung unseres Impfstoffs führen wir auf den Einsatz des neuen Adjuvans CpG 8-10 zurück. Diese Tatsache zu beweisen war nicht leicht“, meint Thomas Lingelbach. Es gab zudem viele Runden, in denen erzeugt, geprüft, verifiziert und wieder geprüft werden musste. Es hat bis zum 23. Juni gedauert.

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Zahlen & Fakten

Demnächst soll VLA 2001 zur Verwendung der Erstimpfung bei Menschen im Alter zwischen 18 bis 50 Jahre auf den Markt kommen. Der Impfstoff sei „für 15 Prozent der Europäer über 18 Jahren, die noch nicht geimpft sind, eine neue Option“, sagt Lingelbach. Valneva muss nun die Abnahmeverträge mit der EU neu aushandeln und hat ein Maßnahmenpaket vorgeschlagen, das derzeit innerhalb der Europäischen Kommission und unter den beteiligten Mitgliedstaaten weiter diskutiert wird.

Totimpfstoffe können also ein neues Bollwerk werden. „Aus unserer langen Erfahrung wissen wir, dass diese Impfstoffe sowohl sehr gut verträglich und sicher als auch sehr wirksam sind“, sagt Experte Kistner. Sie erzeugen hohe Antikörper-Spiegel. Deswegen ist diese Impfung auch für immungeschwächte Menschen eine Option. Und auch Personen, die der neuen mRNA-Technologie skeptisch gegenüberstehen, könnten mit VLA2001 besser leben. Außerdem gibt es Pläne, bereits Geimpfte mit dem Totimpfstoff zu boostern. Doch die Studien dazu laufen, die Ergebnisse werden im dritten Quartal erwartet – dann also, wenn der Expertenvoraussicht nach die Infektionszahlen wieder stark ansteigen werden.

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Conclusio

Impfstoffe spielen in der Bewältigung der Pandemie eine Schlüsselrolle. Das Coronavirus hat der – nicht nur für Impfungen einsetzbaren – mRNA-Technologie zu einem Durchbruch verholfen. Doch parallel dazu wurden Impfstoffe auch in lange bewährten Verfahren hergestellt. Dabei werden Viren im Labor gezüchtet, vermehrt, entschärft und dann zu Impfstoffen gemacht. Das ist unvergleichlich aufwendiger als das mRNA-Verfahren. Diese sogenannten Ganzvirus-Totimpfstoffe haben jedoch das Potenzial, einen umfassenden Schutz herzustellen, weil das entschärfte Virus mit einer Reihe von Immunzellen interagiert, die durch mRNA-Impfstoffe nicht aktiviert werden. Insofern sind Totimpfstoffe ein zusätzlicher Baustein zur Bekämpfung der Pandemie. Auch deshalb, weil viele Impfskeptiker auf diese bewährte Form der Impfung gewartet haben.