Politische Parteien im Aus

Politikmüdigkeit ist ein Trend in der westlichen Welt. Die Inhalte der etablierten Parteien sprechen die Menschen nicht mehr an.

Illustration vom Einwurf eines Stimmzettels
Die allgemeine Politikmüdigkeit ist während der Pandemie stärker geworden. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Sehnsucht nach Autorität. Die Corona-Pandemie zeigt, dass in der Krise der Ruf nach starken Führungspersönlichkeiten laut wird.
  • Gesellschaftliche Kluft. Misstrauen gegen herrschende Eliten lassen populistische Strömungen aufleben. Es entstehen Bewegungen auf globaler Ebene.
  • Post-Demokratie. Den etablierten Parteien laufen die Kernwähler davon, weil traditionelle Inhalte nicht mehr als relevant wahrgenommen werden.
  • Anti-Politik als Trend. In einer Gesellschaft könnten Mehrheiten auch unabhängig von politischen Einstellungen gefunden werden, wie beim Venezianischen Modell.

Es sind Analysen wie jene von Johannes Leithäuser in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die aufhorchen lassen: „Angela Merkel kennt keine Parteien mehr, sie kennt Vernünftige und Unvernünftige, wissenschaftliche Fakten und unüberlegte Glühweinfeiern im Freien.“ Die deutsche Bundeskanzlerin sei längst nicht mehr „Exponentin ihrer Partei“, ja nicht einmal „Repräsentantin einer Regierungsmehrheit“, sondern „Bezugsperson und Führungsfigur für alle, die in dieser Viruskrise Hoffnung, Trost, Rat und Anleitung erwarten“.

Solche Konstellationen kennt man aus Kriegszeiten, wenn das patriotische Gebot der Einheit alle politischen Gegensätze überschreibt und das Volk die Regierung mit einer unbeschränkten Vollmacht ausstattet. Im pandemischen Ausnahmezustand verlaufen die Fronten nicht mehr zwischen den Parteien oder zwischen Regierung und Opposition, sondern zwischen Ja-Sagern und Nein-Sagern, wobei die Ja-Sager – die Befürworter harter und notfalls immer härterer Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung – zweifellos in der Mehrheit sind. Die damit verbundene Einschränkung ihrer Bürgerrechte nehmen sie als letztlich unvermeidlich in Kauf.

Die Corona-Pandemie hat den paradoxen Effekt, dass auch die Regierungen, die bei der Eindämmung der Seuche manifest versagen, daraus großen politischen Profit schlagen. Als im Herbst 2020 die zweite Covid-Welle mit Wucht über Deutschland rollte, verbesserten sich die Popularitätswerte der Regierung kontinuierlich, während jene der Opposition abnahmen. Besonders betroffen waren AfD und FDP, die sich dem seuchenpolitischen Konformitätsdruck am meisten widersetzten.

Wie Eliten radikalisieren

Die Transformation der parlamentarischen Demokratie in eine Elitenherrschaft, die sich der demokratischen Kontrolle immer mehr entzieht, hat natürlich nicht erst mit dem Ausbruch der Pandemie begonnen, sie wird von ihr jedoch kräftig beschleunigt.  In der westlichen Welt kontrollieren heute nahezu unangreifbare Machtkartelle die Kommandohöhen der Gesellschaft, von Zentralbanken, multilateralen Institutionen und multinationalen Unternehmen bis zu Regierungen, Parteien, Massenmedien und Bildungsinstitutionen. Sie schotten sich ab gegen Konkurrenz wie gegen die wechselnden Stimmungen und Präferenzen der Wählerschaft.

Die Corona-Pandemie hat den paradoxen Effekt, dass auch die Regierungen, die bei der Eindämmung der Seuche manifest versagen, daraus großen politischen Profit schlagen.

Nach und nach hat sich in den liberalen Eliten ein experimenteller Radikalismus durchgesetzt, der die Welt nach den Maßstäben der eigenen Vernunft permanent umkrempeln will und in wechselnden Erscheinungsformen zu Tage tritt: Im Ökologismus, in einer hysterischen Klimapolitik, im Genderismus, schließlich in einem weltumspannenden Humanitarismus, der alle Grenzen öffnen und Millionen Migranten aus Afrika und Asien nach Europa schleusen will.

Historisches Fundament

Colin Crouch deutete diese Entwicklung 2003 in seinem Buch Post Democracy an. Bereits Anfang der 1940er-Jahre gelangte James Burnham in The Managerial Revolution und The Machiavellians (1943) zu einer ähnlichen Prognose.  Burnham wiederum stützte sich auf Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und insbesondere auf Robert Michels Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie. Michels hatte argumentiert, dass ein „eisernes Gesetz der Oligarchie“ die Entwicklung jeder politischen Partei und jeder menschlichen Vereinigung bestimme. Wofür auch immer sie stehen und wie auch immer sie sich organisierten, am Ende dienten alle Parteien den egoistischen Interessen ihrer Führer.

EU Parlament
Es ist Demokratie, aber keiner geht hin. Krisen stellen etablierte Systeme in Frage. © Getty Images

Im neo-feudalen System der Post-Demokratie überleben demokratische Institutionen nur noch als leere Hülle. Das wird von immer mehr Menschen auch so gesehen. Im Oktober 2020 veröffentlichte das Bennett Institute for Public Policy in Cambridge einen Bericht, der auf Daten von über 4,8 Millionen Befragten in 160 Ländern zwischen 1973 und 2020 basiert. Das Hauptergebnis war, dass „jüngere Generationen immer unzufriedener mit der Demokratie geworden sind – nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch relativ zu älteren Kohorten in vergleichbaren Lebensabschnitten.

Nach dem Finanzcrash 2008, den negativen Auswirkungen der Euro-Krisen in Südeuropa und der Flüchtlings- und Migrationskrise von 2015 ist das wohl keine große Überraschung. In Europa trug die anhaltende Unfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, die unkontrollierte Massenmigration zu blockieren, zum Niedergang der traditionellen Parteien bei und ebnete den Weg für den Vormarsch populistischer Parteien.

Populismus und Aktivismus

Populisten erkennt man daran, dass sie verständige Kompromisse und ein loyales Wechselspiel zwischen den Parteien durch einen absolut gefassten Gegensatz zwischen „Volk“ und „Eliten“ ersetzen. Das kühle „Age of Moderation“, welches die politische Landschaft der westlichen Demokratien seit 1945 geprägt hatte, ist einem von politischen Leidenschaften erhitzten „Age of Discord“ gewichen. Aus der Cambridge-Studie geht hervor, dass junge Menschen in Ländern, in denen links- oder rechtspopulistische Parteien an der Macht sind, weniger unzufrieden mit der Demokratie sind, zumindest während der ersten Legislaturperiode. Wie es scheint, kann schon ein Hauch von Hoffnung, dass sich die Dinge ändern könnten, demokratische Instinkte wiederbeleben. Unzufriedenheit und geringere Wahlbeteiligung sind nicht zwangsläufig ein Zeichen politischer Apathie. Sie gehen oft Hand in Hand mit einem gegen die herkömmlichen Parteien und „das System“ gerichteten Aktivismus.

Noch in den 1970er-Jahren profitierten die traditionellen Parteien der Linken von sozialen Protesten. Das änderte sich seither dramatisch. Bei den Bundestagswahlen 1972 kam die SPD auf 45 Prozent, 2017 nur noch auf 20,5 Prozent. 1971 erhielten die österreichischen Sozialdemokraten 50 Prozent, 2017 waren es 26,7 Prozent. Einen vergleichbaren Niedergang verzeichneten linke Altparteien in Frankreich, Großbritannien und Italien.

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Zahlen & Fakten

Die Auflösung ihrer Kernwählerschichten im Zuge des sozialen Wandels und der Eintritt der Grünen in den Wettbewerb haben dazu beigetragen. Es war aber auch offensichtlich, dass ihnen weder der Spagat zwischen ihrer Rolle als Regierungsparteien und ihrem Anspruch als Arbeiterparteien gelungen ist, noch dass sie die widersprüchlichen identitätspolitischen Anliegen einer sich immer breiter auffächernden linken Klientel abdecken konnten. Auf der gegenüberliegenden Seite des politischen Spektrums zeigte das Beispiel der AfD, dass monothematisch aufgestellte und wahrgenommene Protestparteien rasch an ihre Grenzen stoßen.

Aversion gegen Parteien

„Antipolitische Politik” – eine überparteiliche Demokratie – war unter Dissidenten in Osteuropa vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sehr beliebt. Václav Havel und seine Freunde stellten sich eine moderne platonische Republik vor, regiert von weisen Männern, die sich in freischwebenden Klubs und Vereinen organisieren würden. Ihr Traum währte nicht lange. Alle postkommunistischen Länder entschieden sich schließlich für ein klassisches parlamentarisches Parteiensystem, denn die Demokratie braucht Parteien, um zu funktionieren und Veränderungen zu fördern.

Von Zeit zu Zeit schafft die Verachtung der Politik neue antipolitische Bewegungen. In Italien versuchte zuerst Silvio Berlusconis Forza Italia, dann Beppe Grillos Movimento 5 Stelle, die traditionelle Entscheidungsfindung durch tagesaktuelle Plebiszite zu ersetzen. Das hat nicht lange gehalten. Das Movimento 5 Stelle startete mit einer linkspopulistischen Attacke auf die „Partitocrazia“, fügte sich aber rasch in den Parteienstaat ein und verlor in der Folge an Attraktivität.

Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.

Winston Churchill

Auch in Post-Demokratien braucht man Parteien, die die politische Agenda formulieren, personelle Ressourcen mobilisieren, Netzwerke bilden und Geld aufbringen. Eine „digitale Demokratie“ bewährt sich nur in Fällen, in denen einzelne, die Bürger unmittelbar betreffende Fragen zur Abstimmung stehen. Die Wähler sind jedoch rasch überfordert, wenn es um komplexe Probleme und langfristig wirkende Entscheidungen geht. Winston Churchill hielt die Demokratie bekanntlich für die am wenigsten schlechte Staatsform. „Das beste Argument gegen die Demokratie“, sagte er einmal, „ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler.“ Ein Grund dafür ist, dass der minimale Einfluss einer Wählerstimme in keinem Verhältnis zu dem Aufwand steht, den eine ernsthafte Beschäftigung mit allen relevanten Fragen erfordert. Die Ignoranz des Wählers hat einen rationalen Kern.

Ewiger Stimmenfang

Joseph A. Schumpeter (1883-1950) definierte Parteien als Gruppen, die sich vereinigt hätten, um im Wettstreit um die politische Macht gemeinsam zu handeln, Capitalism, Socialism and Democracy ist der Titel seines Standard-Werkes. Das erste und wichtigste Ziel jeder politischen Partei sei es, an die Macht zu gelangen oder sie zu behalten. Der Weg zur Macht führe in der parlamentarischen Demokratie über die Stimmenmaximierung. Was die Ware auf dem Markt ist, ist die Wählerstimme in der Politik, so seine These. Führt an den Parteien also kein Weg vorbei?

Das müsste nicht so sein. Die stabilste Republik der Welt war die venezianische. Sechs Jahrhunderte lang, von 1172 bis zu ihrem Untergang 1797, war in Venedig ein Wahlsystem in Kraft, dessen deklarierter Zweck darin bestand, die Entstehung von Parteien und die Beeinflussung der Wahl durch Interessengruppen zu verhindern. Man entschied sich für eine Kombination aus Wahl- und Losverfahren. Das Prozedere war langwierig und kompliziert.

Aus den „nobilhomini” des Großen Rats wurden 30 durch Los bestimmt, aus denen 9 ausgelost wurden. Die Neun wählten 40, aus denen 12 ausgelost wurden. Die Zwölf wählten 25, aus denen 9 ausgelost wurden, die wiederum 45 wählten, aus denen 11 ausgelöst wurden. Diese Elf wählten schließlich 41 Wahlmänner. Isoliert von der Außenwelt nominierten und befragten sie ihre Kandidaten, über die sie der Reihe nach so lange abstimmten, bis einer mindestens 25 Stimmen erhielt. Die Volksversammlung musste die Wahl am Ende bestätigen.

Rein theoretisch wäre es durchaus möglich, ein ähnliches Wahlsystem einzuführen und den Einfluss der Parteien auf ein Minimum zu reduzieren. Es ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich, dass die Parteien solchen Reformen zustimmen würden.

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Conclusio

Die allgemeine Politikmüdigkeit ist während der Pandemie stärker geworden. Statt demokratischer Entscheidungsfindung wurde der Ruf nach starker Führung laut. Wenn politische Parteien ihre Kernwählerschaft verlieren, Politikmüdigkeit um sich greift und Kategorien von Rechts und Links verschwimmen, dann ist die Demokratie in der Krise. Es geht darum, neue gesellschaftliche Mehrheitsfindungen zu finden – und das über politischen Parteien hinaus – so wie es 600 Jahre lang in Venedig funktionierte.