Ankaras Machtpoker in Afrika

Seit Jahrzehnten verfolgt die Türkei einen hochgradig koordinierten Aktionspan für Afrika. Präsident Erdogan zieht daraus großen innenpolitischen Nutzen, aber die geopolitischen Risiken seiner Strategie sind nicht zu unterschätzen.

Äthiopische Frau mit türkischem Hilfspaket
Mit humanitärer Hilfe stärkt die Türkei ihren Einfluss in Afrika. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Soft Power. Schon in den 1990er-Jahren begann die Türkei damit, ihren Einfluss in Afrika durch humanitäre Hilfe und Bildungsprojekte auszubauen.
  • Innenpolitisches Kalkül. Erdogan setzt diese Strategie fort – und nutzt sie, um politische Rivalen auszuschalten und die heimische Wirtschaft anzukurbeln.
  • Keine Altlasten. Anders als viele europäische Länder hat die Türkei keine Kolonialvergangenheit in Afrika. Das mindert die Berührungsängste.
  • Dritter Weg. Für Länder, die nicht zum Spielball zwischen den USA und China werden wollen, ist die Türkei ein zunehmend attraktiver Bündnispartner.

Seit den 1990er-Jahren verfolgt die Türkei eine langfristig angelegte Afrika-Strategie. Dabei orientiert sie sich eher an innenpolitischen Zielen als an außenpolitischen Ambitionen. Gestützt auf Nationalismus und eine zunehmend autoritäre Regierung präsentiert sich die Türkei als immer attraktivere Alternative zum westlichen Modell der liberalen Demokratie und des Säkularismus.

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Als 1998 klar wurde, dass es für die Türkei im europäischen Projekt keinen Platz geben würde, stellte das Land seinen ersten „Aktionsplan für Afrika“ vor. Die südwärts gerichtete Politik gewann 2005 mit Beginn der Strategie „Öffnung nach Afrika“ an Stärke. Im selben Jahr erhielt die Türkei den Beobachterstatus bei der Afrikanischen Union. Mit den wachsenden Ambitionen Ankaras entstand ein neues Narrativ rund um die Wiederbelebung des Osmanischen Reiches und des Panislamismus. Recep Tayyip Erdogan, der nach elfjähriger Amtszeit als Premierminister 2014 Präsident der Türkei wurde, präsentierte das Land als wachsende Regionalmacht und als „afro-eurasischen Staat“.

Umstrittene Bewegung

Die Präsenz der Türkei in Afrika begann bereits Ende der 1990er-Jahre. Damals spielte die Gülen-Bewegung – eine länderübergreifende Ansammlung von islamischen Vereinigungen, Medien und Schulen – eine führende Rolle bei den türkischen Vorstößen auf dem Kontinent. Die von der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) geführte Regierung in Ankara nutzte die Bewegung, um in Afrika durch die Unterstützung von Bildungs- und sozialen Initiativen Soft Power zu demonstrieren. Im Jahr 2013 gab es auf dem gesamten afrikanischen Kontinent über 100 von Gülen gesponserte Schulen.

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Aufstieg und Fall der Gülen-Bewegung

1960er-JahreDie Gülen-Bewegung wird vom islamischen Geistlichen Fethullah Gülen gegründet.
1980er-JahreDie Organisation macht sich einen Namen durch Bildungsinitiativen und Medienprojekte, die den Eindruck eines gemäßigten Islam vermitteln.
1990er-JahreDie Gülen-Bewegung unterstützt die rechtspopulistische Partei AKP. Der Kontakt zu Recep Tayyip Erdogan wird enger.
1999Ein Kurswechsel zeichnt sich ab: Fethullah Gülen ruft dazu auf, die säkularen Staatsorgane der Türkei religiös zu unterwandern. Kurz darauf flieht er ins Exil in die USA.
2000er-JahreDie Gülen-Bewegung bleibt eng verbündet mit der AKP. Sie infiltriert zunehmend die türkische Armee und Polizei.
2011-2014Im Kampf um die Macht in der Türkei kommt es zum Bruch zwischen der Gülen-Bewegung und Erdogan. Ein Korruptionsskandal facht das Feuer 2013 weiter an.
2016In der Türkei findet ein Putschversuch statt. Präsident Erdogan macht die Gülen-Bewegung dafür verantwortlich und stuft sie als Terrororganisation ein.
2021Selahaddin Gülen, der Neffe Fethullah Gülens, wird in Kenia verhaftet.

Der Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016 zerrüttete die Beziehungen zwischen der AKP und ihren Gülen-Verbündeten. Präsident Erdogan beschuldigte den Anführer der Bewegung, Fethullah Gülen, einen „Parallelstaat“ innerhalb der türkischen Armee gegründet zu haben. Die Bewegung wurde als terroristische Organisation eingestuft.

Daraufhin setzte Ankara die afrikanischen Länder unter Druck, ebenfalls gegen die Gülen-Bewegung vorzugehen. Die Reaktionen waren gemischt, doch die meisten Regierungen gaben den Forderungen Ankaras nach. Viele von Gülen geförderte Schulen wurden durch Schulen ersetzt, die von der Maarif-Stiftung betrieben werden. Diese wiederum wurde 2016 von der türkischen Regierung gegründet.

Militärische Zusammenarbeit

Die Türkei weiß, dass Afrika zu einer wichtigen Bühne im Wettkampf der globalen Großmächte geworden ist. Ankara will sich im Ringen um wirtschaftliche und sicherheitspolitische Chancen eine vorteilhafte Position auf dem Kontinent verschaffen.

Dabei hilft, dass die Türkei ihre wirtschaftliche Stellung in Afrika in den letzten Jahrzehnten stark ausgebaut hat. Kürzlich überschritten die türkischen Direktinvestitionen in Afrika die 6-Milliarden-Dollar-Grenze; zwischen 2003 und 2019 hat sich der Handel verfünffacht – von 5,5 Milliarden Dollar auf mehr als 26 Milliarden Dollar. Der Luftverkehr spielt in dieser wachsenden Partnerschaft eine entscheidende Rolle. Turkish Airlines fliegt inzwischen 52 afrikanische Städte an; es wird erwartet, dass diese Zahl noch steigt.

Wie Russland sieht auch die Türkei Afrika als wichtigen Abnehmer für seine Rüstungsindustrie. Der Waffenhandel mit mehreren afrikanischen Ländern – darunter Kenia, Uganda und Tunesien – floriert. Das spielt Ankara in die Hände, denn die türkische Regierung verfolgt das Ziel, seine Rüstungsindustrie bis 2023 – dem 100. Jahrestag der Republik Türkei – unabhängig zu machen. Neben den Handelsgeschäften wurden auch diplomatische Aktivitäten verstärkt. Ankara hat mit mehreren Ländern – darunter Tschad, Niger und Somalia – Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit unterzeichnet und nicht weniger als 37 Militärbüros auf dem afrikanischen Kontinent eingerichtet.

Strategischer Fokus

Aus geopolitischer Sicht sind drei Länder von besonderer Bedeutung für Ankaras Ambitionen in Afrika:

Somalia

Somalia ist ein Tor zum Indischen Ozean und bietet einen strategischen Zugang zum Roten Meer und zum Golf von Aden. Im Jahr 2011, als das Land eine dramatische Krise durchlebte, besuchte Präsident Erdogan Mogadischu und bot humanitäre Hilfe an. Seitdem hat Ankara Somalia mehr als eine Milliarde US-Dollar an Hilfe und Investitionen zur Verfügung gestellt, unter anderem für den Bau von Straßen, Krankenhäusern und Schulen. Im Jahr 2017 eröffnete Ankara in Mogadischu einen Militärstützpunkt, Camp TURKSOM, zu dem auch ein militärisches Ausbildungszentrum gehört. Ein Jahr später beendeten die Vereinigten Arabischen Emirate, angeblich auf Wunsch der somalischen Behörden, ihr militärisches Ausbildungsprogramm im Land. Kürzlich zahlte Ankara 2,4 Millionen Dollar der somalischen Schulden beim Internationalen Währungsfonds ab.

Somalischer Soldat lernt Türkisch
Eine Unterrichtseinheit im Camp TURKSOM. © Getty Images

Libyen

Libyen spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle in der Afrika-Strategie der Türkei, da Ankara Anspruch auf umstrittene Wasser- und Rohstoffquellen im östlichen Mittelmeer erhebt. Während des libyschen Bürgerkriegs unterstützten türkische Streitkräfte die Regierung in Tripolis, während die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Frankreich auf der Seite der Gegenregierung unter Feldmarschall Khalifa Haftar standen. Im Zuge dessen intensivierte die Türkei auch ihre militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Tunesien und Algerien. Algerien ist inzwischen der zweitgrößte Handelspartner der Türkei auf dem afrikanischen Kontinent.

Äthiopien

Äthiopien ist ein weiterer strategischer Verbündeter Ankaras. Die Türkei ist nach China der zweitwichtigste Investor des Landes, wobei mehr als ein Drittel (rund 2,4 Milliarden US-Dollar) aller türkischen Auslandsinvestitionen in Afrika auf Äthiopien entfallen. Neben seiner strategischen Lage am Horn von Afrika ist Äthiopien auch ein Tor zu Ostafrika. Dort versucht die Türkei vor allem durch große Investitionen in den Bereichen Energie, Gesundheit und Bauwesen ihren Einfluss auszubauen.

Mit Seifenopern zum Erfolg

Diese Beispiele zeigen die ganzheitliche Natur der türkischen Afrika-Strategie. Sie umfasst nicht nur militärische Kooperation, Handel, Investitionen und Airline-Diplomatie, sondern auch kulturelle Maßnahmen. Türkische Seifenopern zum Beispiel haben Millionen von Zuschauern in großen Märkten wie Nigeria und Äthiopien erobert. Außerdem handelt es sich – wie bei China, aber anders als bei der Europäischen Union oder den Vereinigten Staaten – um eine hochgradig koordinierte Strategie. Der Ausbau der Handelsbeziehungen geht Hand in Hand mit der Einrichtung diplomatischer Vertretungen: Die Zahl der türkischen Botschaften auf dem Kontinent stieg von zwölf im Jahr 2003 auf 43 im Jahr 2021.

Die Türkei profitiert auch von einigen Wettbewerbsvorteilen, die sie mittel- und langfristig beibehalten dürfte. Anders als ihre europäischen Konkurrenten hat die Türkei keine koloniale Vergangenheit, die ihre Beziehungen zu Afrika belastet. Und im Gegensatz zu China kann der Türkei – zumindest derzeit – nicht vorgeworfen werden, eine räuberische Politik zu verfolgen, Neokolonialismus zu betreiben, Schuldenfallen zu schaffen oder afrikanischen Ländern minderwertige Waren und Dienstleistungen anzubieten.

Anders als die europäischen Länder hat die Türkei keine koloniale Vergangenheit, die ihre Beziehungen zu Afrika belastet.

Darüber hinaus stößt die Türkei auch bei afrikanischen Ländern, die sich nicht in den globalen Wettbewerb zwischen den USA und China einmischen wollen, auf Resonanz. Ihr Status als Regionalmacht, die versucht, ihre Position auf der globalen Bühne zu stärken, wird als ebenso positiv gesehen, wie ihr nationalistisches pro-Souveränitäts-Narrativ. Aber auch das Mantra von Präsident Erdogan, dass „die Welt größer sei als fünf“ (in Anlehnung an die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats), findet Widerhall.

Blick in die Zukunft

Die Zukunft der Türkei-Afrika-Beziehungen wird von drei Faktoren abhängen: der Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Lage der Türkei; den politischen und sicherheitspolitischen Perspektiven in strategisch wichtigen Regionen wie Nordafrika, Äthiopien und Sudan, und dem Wettbewerb zwischen globalen und regionalen Mächten auf dem Kontinent.

Da vorerst kein Ende der Regierungszeit von Präsident Erdogan und der AKP abzusehen ist, wird sich auch die Afrika-Strategie der Türkei vorerst nicht ändern. Die zunehmende Bereitschaft afrikanischer Länder, sich auf neue Bündnispartner einzulassen, kommt Ankara entgegen. Sie hat aber auch politische Konsequenzen für die Region. Das jüngste Beispiel ist Somalia, wo im Camp TURKSOM ausgebildete Truppen eingesetzt wurden, um Proteste gegen Wahlverzögerungen zu unterdrücken.

Da Frankreich beschlossen hat, seine Militärpräsenz in Westafrika zu verringern, wird der türkische Einfluss auch dort zunehmen. Ankaras Bemühungen, einen Dialog mit Senegal, Gambia, Guinea-Bissau, Nigeria, Niger und Tschad aufzubauen, zeigen, dass die Sahelzone als entscheidend für die Eindämmung der Gülen-Bewegung angesehen wird.

Aus globaler Sicht wird die wichtigste Frage sein, ob die türkische Strategie dazu beiträgt, Chinas Einfluss in Afrika einzudämmen.

Am Horn von Afrika werden die innenpolitischen Ereignisse im Sudan und in Äthiopien die künftigen Szenarien bestimmen. Im Sudan hatte Präsident Erdogan wichtige Abkommen mit dem ehemaligen Präsidenten Omar al-Bashir unterzeichnet. Diese Vereinbarungen haben an Kraft verloren, da die Übergangskoalition eine Zusammenarbeit mit dem Westen zu bevorzugen scheint. In Äthiopien, wo die Aussichten auf Stabilität weiterhin ungewiss sind, fordern die VAE und Saudi-Arabien den Einfluss Ankaras heraus. In diesem Zusammenhang ist der Streit um den Grand Ethiopian Renaissance Dam zu einem entscheidenden Thema geworden. Ankara stellt sich weiterhin auf die Seite Addis Abebas gegen Ägypten, das den Bau des Staudamms ablehnt.

Aus globaler Sicht wird die wichtigste Frage sein, ob die türkische Strategie dazu beiträgt, Chinas Einfluss in Afrika einzudämmen. Obwohl Ankaras wachsender Einfluss auf dem Kontinent nicht in Joe Bidens Strategie einer „Allianz der Demokratien“ passt, wird der von der Türkei angebotene dritte Weg westlichen Interessen wahrscheinlich in die Hände spielen.

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Conclusio

Die Türkei verfolgt seit den 1990er-Jahren eine umfassende Afrika-Strategie. Durch Handelskooperationen, Direktinvestitionen, humanitäre Hilfe und militärische Zusammenarbeit wächst der Einfluss Ankaras auf dem Kontinent beständig, insbesondere in den strategisch wichtigen Ländern Äthiopien, Libyen und Somalia. Präsident Erdogans Interesse an Afrika verfolgt dabei primär ein innenpolitisches Kalkül: Er will den Einfluss der länderübergreifenden Gülen-Bewegung zurückdrängen, die er als Verantwortliche hinter dem Putschversuch 2016 sieht. Dafür scheint er auch geopolitische Spannungen in Kauf zu nehmen – denn je mehr Einfluss sich die Türkei in Afrika sichert, umso mehr wird sie auch zum Gegenspieler Chinas und Russlands. Ob das zu einer Wiederannäherung an den Westen führen wird, hängt letztlich auch vom weiteren Verlauf des Wettkampfs der Großmächte ab.