Flüchtlinge: Erdogan wieder am Drücker

Der westliche Exodus am Hindukusch hat Europa und die Türkei gleichermaßen alarmiert. Doch während die einen zitternd helfen, hat Ankara eine Strategie entwickelt, um neue Flüchtlingsströme zu verhindern.

Afghanische Flüchtlinge in der Türkei
Viele afghanische Flüchtlinge stranden in der Türkei. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Migration als Lackmustest. Neue Flüchtlingsströme aus Afghanistan stellen die Türkei und Europa auf die Probe. Klar ist: Die Türkei braucht Unterstützung.
  • Problempartner. Trotz gemeinsamer Vereinbarungen gibt es immer wieder Streit zwischen der Türkei und Europa über die Aufnahme von Flüchtlingen.
  • Interne Konflikte. Die Schwäche der EU liegt, wie so oft, in ihrer Uneinigkeit im Auftreten nach Außen. Was bleibt, ist eine Beobachterrolle.
  • Neue Strategie. Präsident Erdogan verfolgt stattdessen ein klares Ziel: die Eindämmung der Migration durch Gespräche mit den Taliban.

Mit der Machtübernahme der Taliban enden in Afghanistan zwei Jahrzehnte relativer Freiheit. Fast zwanzig Jahre lang waren NGOs und Stiftungen bemüht, eine Zivilgesellschaft aufzubauen, die auf Schulbildung und Teilhabe setzt, auch und gerade für Mädchen und Frauen. Traurige Illustration dessen, was nun blüht, war ein Foto, das einen Mann zeigte, der an einem Brautmodengeschäft die Fotografien weiblicher Modelle mit Farbe übertünchte. 

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Der Triumph der Taliban setzt viele Menschen unter Druck, die nicht mehr in einem Gottesstaat leben wollen. Sie setzen sich in Bewegung. Das erste Ziel ist die Türkei. Von dort erhoffen sie sich Chancen, nach Europa zu gelangen. Ankara ist alarmiert, denn das Land beherbergt bereits rund vier Millionen Flüchtlinge, von denen laut UNO 120.000 aus Afghanistan stammen. Die neue Welle, die sich einen Weg über den Iran an die türkische Grenze bahnt, soll allerdings gebrochen werden – nach türkischen Angaben mit einer neuen Grenzbefestigung, die Menschen am Weiterkommen hindert. 

In Europa weckt der Exodus der Menschen aus Afghanistan die Erinnerung ans Jahr 2015. Über eine Million Menschen flohen damals vor dem Bürgerkrieg in Syrien in Richtung freie Welt, die meisten landeten in Deutschland und Österreich. Der Marsch der Vertriebenen vor sechs Jahren legte offen, dass die Mitglieder der EU uneins sind über den von ihnen selbst beschlossenen Verteilungsschlüssel von Flüchtlingen. Er zeigte aber auch, wie verwundbar der Block an seiner östlichen Flanke ist: Mehrfach drohte Präsident Recep Tayyip Erdogan, Flüchtlinge durchzuwinken, sollte Brüssel seine Forderungen nicht erfüllen.

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Zahlen & Fakten

  • 1.000 Flüchtlinge kommen pro Tag illegal über den Iran in die Türkei. Eine Mauer soll diese Migrationsbewegung stoppen.
  • 895.000 Soldaten stehen für die Türkei unter Waffen. Die Armee wird auch zur Bewältigung der Flüchtlingsströme eingesetzt – oft mit robustem Auftreten.
  • Die Beziehungen zu Pufferstaaten wie dem Iran gelten als schwierig. Hauptvorteil der Türkei ist freilich ihre jahrhundertelange Prägung der Region Zentralasien mit ihrem kulturellen Einfluss.

Europas Déjà-vu

Zwar erzielten die EU und die Türkei 2015 und 2016 entscheidende Verhandlungserfolge, die rechtlich bindend festgehalten wurden: Die Türkei sollte demnach Geld erhalten, um Flüchtlinge unterzubringen und ihre eigene Grenze zu sichern. Dennoch gibt es seither immer wieder Streit zwischen der Türkei und Europa, vor allem mit Griechenland. Erdogan hat den Europäern mehrfach vorgeworfen, ihre Versprechen nicht zu halten, und deshalb die Grenze für Flüchtlinge geöffnet. Wie auch immer man zu Gebaren und Rhetorik des Präsidenten steht: Die Türkei ächzt unter der Last der Flüchtlinge und wird eine weitere Welle nicht beherbergen können. Das Land braucht Unterstützung.

Unsichere Perspektive

Die Türkei versucht, mit ihrem Verbündeten Pakistan eine Lösung zu finden. Die Flüchtlinge sollten am besten in diesem Nachbarland Afghanistans aufgenommen werden. Ins selbe Horn stoßen Politiker in Europa: Die Menschen sollten in der Nähe ihrer Heimat bleiben und nicht in den Westen reisen. Das wird aber kaum verfangen: Denn worauf sollten die Menschen in pakistanischen Flüchtlingslagern warten? 

Flüchtlingskinder an einem Brunnen
In Pakistan wächst die Zahl der afghanischen Flüchtlinge. Große Zukunftsperspektiven sehen diese dort nicht. © Getty Images

In der Türkei zu bleiben ist für die Flüchtlinge auch kein rosiger Ausblick: Sie sitzen in Lagern, finden bestenfalls Beschäftigung in der Schattenwirtschaft und haben keine Perspektive. Syrische Kinder irren durch Istanbul und betteln. Die Grenze nach Griechenland zu passieren mag angesichts dieser verzweifelten Lage wie ein wohliger Traum erscheinen, aber die Lage in griechischen Lagern ist Berichten zufolge katastrophal. Die griechische Marine wurde gefilmt, wie man das Anlanden eines Flüchtlingsboots zu verhindern suchte – ein klarer Verstoß gegen internationales Recht, das verbietet, Menschen in Seenot sich selbst zu überlassen. Der Versuch, Flüchtlinge fernzuhalten, eint die beiden historischen Antagonisten Griechenland und die Türkei. Flüchtlinge aus Afghanistan werden daher erneut versuchen, sich nach Zentraleuropa zu retten. 

Die Makel der Türkei

Angela Merkel musste sich aufgrund des Erpressungspotenzials seitens Ankara wie keine andere europäische Spitzenpolitikerin um ein gutes Auskommen mit Präsident Erdogan bemühen. Dieser macht es den europäischen Partnern allerdings nicht leicht: Die systematische Herabsetzung von Frauen rückt ihn näher an die Taliban als an die freie Welt. Der Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen ist nur die Spitze des Eisberges.

Wohlmeinende in der deutschen CDU/CSU sahen in Erdogans AKP eine islamische Variante der konservativen, christlich geprägten Parteien in Europa. Nun, diese Messe ist gelesen: Recep Erdogan flirtet gerne mit den Muslimbrüdern, einer radikalen Gruppe, die vor fast einhundert Jahren in Ägypten entstand und zu deren Agenda heute noch der totale Kampf gegen Israel gehört. 

Der Versuch, Flüchtlinge fernzuhalten, eint die beiden historischen Antagonisten Griechenland und die Türkei.

Dazu passt auch, dass sich nach der Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban sogleich Mevlüt Çavuşoglu, Außenminister der Türkei, zu Wort meldete. Er sagte, seine Regierung sei via Pakistan mit Vertretern der Taliban im Gespräch. Gleichzeitig lobte er deren erste Ankündigung, keine Vergeltungstaten an der Bevölkerung begehen zu wollen. Das war wohl voreilig. 

Dennoch ist es nicht nur wegen potenzieller Flüchtlinge für die Türkei wichtig, mit den Taliban einen Austausch zu pflegen. Ankara hat bereits beide Augen auf die Bodenschätze des Landes geworfen und hofft, an Schürf- und Bohrrechte zu kommen. Zumindest damit steht die Türkei nicht allein da. Die Volksrepublik China und Russland haben noch nicht einmal ihre Botschaften geschlossen, als Kabul im Chaos versank. Die Hoffnung in den autokratischen Ländern ist, von der neuen (Un-)Ordnung im Reich der Gotteskrieger profitieren zu können. Es geht um viel: Rohstoffe wie Lithium, Öl, Gold, Silber, Marmor. Für Europa bleibt der humanitäre Aspekt.

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Conclusio

Die bevorstehenden Flüchtlingsströme aus Afghanistan stellen die Handlungsfähigkeit der Türkei und Europas auf die Probe. Dabei haben beide Kräfte unterschiedliche Ansätze. Europa fällt mangels gemeinsamer Außenpolitik immer mehr in eine bloße Beobachterrolle zurück, während Ankara klare Strategien entwickelt. Der Fokus: Eindämmung der Migration durch Gespräche mit den Taliban, robustes Auftreten in der Region, Ausspielen der kulturellen Nähe zu zentralasiatischen Republiken, Partizipation an den Bodenschätzen Afghanistans. Die Flüchtlinge selbst geraten derweil in eine immer schwierigere Lage – einzig ihre Fernziele sind klar: Österreich, Deutschland und Schweden. Deren Regierungen üben sich in Schadensbegrenzung, sind aber den Entwicklungen am Hindukusch nahezu ohnmächtig ausgeliefert.