Der große Coup der Türkei in Syrien

Die laufende Neuordnung im Nahen Osten hat mit dem Sturz des Diktators Assad einen Höhepunkt erreicht. Die schiitische Achse ist zerbrochen. Die Türkei und Israel kämpfen nun um die Vorherrschaft in der Region.

Bild zum Thema Türkei in Syrien: Ein syrisches Kleinkind steht auf einem Auto auf den Straßen Ankaras und schwenkt eine türkische Fahne umringt von feiernden Syrern.
Syrische Flüchtlinge in Ankara feiern den Sturz von Bashar al-Assad. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Chance. Die starke Stellung der Türkei in Syrien ermöglicht es Ankara, seine historischen Ansprüche aus osmanischer Zeit zu erneuern.
  • Machtverschiebung. Die HTS-Offensive hat nicht nur das Assad-Regime gestürzt, sondern auch die kurdischen Einheiten an der Südgrenze der Türkei geschwächt.
  • Machtkampf. Israel hat mit seinen Erfolgen gegen Assads Unterstützer seinen Sturz ermöglicht, will jedoch die Kurden stärken.
  • Stabilität. Für die Türkei hat ein geordneter Machtwechsel auch aus wirtschaftlichem Interesse beim Wiederaufbau Syriens oberste Priorität.

Für die Türkei hat der Sturz von Diktator Bashar al-Assad durch die Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) neue Perspektiven eröffnet. Der türkische Geheimdienstchef Ibrahim Kalin traf sich bereits mit HTS-Führer al-Dscholani, um weitere Schritte in den syrisch-türkischen Beziehungen zu besprechen und auch der türkische Außenminister Hakan Fidan kündigte an, dass die türkische Regierung ihren Anteil an der politischen Stabilisierung und zum Wiederaufbau des Landes leisten möchte.

Die Türkei, die als Hauptunterstützer der Freien Syrischen Armee (FSA) gilt, gab Ende November 2024 grünes Licht für die militärische HTS-Offensive, die in drei Bewegungen Syrien erobern sollte. Während die Allianz zwischen FSA und HTS von den türkischen Sicherheitszonen Idlib und al-Bab im Norden in Richtung Aleppo, Hama und Homs vorging, rückte das von Washington unterstützte und verbündete Revolutionskommando (zuvor Neue Syrische Armee) vom östlichen al-Tanf ins Landesinnere, während im Süden die 8. Brigade – eine lose verbündete Miliz der HTS – von Imtan und Daraa aus den Raum Damaskus befreite.

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Zahlen & Fakten

Syrien nach Assad

Die russische Luftwaffe versuchte die Offensive zurückzuschlagen, dies blieb jedoch wegen der massenhaften Desertion des syrischen Militärs ohne Wirkung. Die schnelle Eroberung der Städte Aleppo, Homs, Hama und Damaskus durch die syrische Opposition und der Sturz des Assad-Regimes haben der Türkei zugleich neue Optionen im Nahen Osten eröffnet.

Lange Präsenz der Türkei in Syrien

Die Türkei versucht seit zwei Jahrzehnten auf den ehemaligen Territorien des Osmanischen Reiches neuen Einfluss zu generieren, wozu insbesondere Syrien zählt. Die Region stand 400 Jahre unter der Herrschaft der Sultane und wurde noch während des Ersten Weltkrieges Schauplatz blutiger Gefechte zwischen Osmanen, Engländern und ihren arabischen Verbündeten um Emir Faisal. Noch während des Unabhängigkeitskampfes (1919-1923) verfolgte der spätere Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk die Agenda, die neue Türkei auf die Gebiete um Idlib, Aleppo, al-Bab und Cerablus auszuweiten, da sie einen hohen turkmenischen Bevölkerungsteil hatten.

Die Südgrenze zum französischen Mandatsgebiet Syrien bildete schließlich die Demarkationslinie des Waffenstillstandes von 1918. Erst 1939 trat Frankreich das ehemalige Alexandrette und heutige Iskenderun an die Republik Türkei ab, um ein entsprechendes Bündnis mit der Türkei im Zweiten Weltkrieg zu schmieden, was jedoch politisch unbedeutend blieb.

Obwohl die Türkei vertraglich zusicherte, keine weiteren Gebietsanforderungen geltend zu machen, begriff sie sich seitdem als Schutzmacht der turkmenischen Minderheit und nutzte die innenpolitischen Krisen Syriens, um den Grenzstreit wieder aufflammen zu lassen. Die Turkmenen, die die drittgrößte Minderheit Syriens darstellen und deren Zahl zwischen 800.000 bis 1,2 Millionen schwankt, bilden für Ankara einen wichtigen Pfeiler der Syrienpolitik. Ihre Milizen haben innerhalb der FSA wichtige Funktionen inne.

Einen weiteren kurdischen Staat an der Südgrenze will Erdoğan unter allen Umständen verhindern.

Die Türkei gilt seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges von 2011 zu den wichtigsten Unterstützern der syrischen Opposition und verfolgt als primäres Ziel die Zerschlagung der kurdischen SDF/YPG-Einheiten an ihrer Südgrenze, deren Kommandostrukturen mit der terroristischen PKK verwoben sind. Durch mehrere Militäroffensiven in den Jahren 2016 bis 2018 konnte Ankara dem Aufstieg der kurdischen YPG in Syrien Einhalt gebieten. Einen weiteren kurdischen Staat noch dazu unter der Kontrolle der PKK, will die Regierung unter Präsident Erdoğan an ihrer Südgrenze unter allen Umständen verhindern. Ankara pflegt seit fast zwei Jahrzehnten gute Beziehungen zur kurdischen Autonomieregion im Nordirak unter der Familie Barzani, die selbst die Terrororganisation PKK und ihre Ableger als ernste Bedrohung ihrer Herrschaft sieht.

Wettlauf um die Vorherrschaft

Israels Außenminister Gideon Saar bemerkte Anfang November in Richtung Ankara, dass das kurdische Volk „der natürliche Verbündete Israels“ sei. Saar sprach sich bereits 2018 für ein Bündnis mit den Kurden aus, was zugleich einen Affront gegenüber der Türkei darstellte. Der israelische Geheimdienst Mossad hat in den letzten Jahren seine Verbindungen zur PKK und der SDF/YPG intensiviert, was in Ankara den Verdacht einer israelisch-kurdischen Allianz gegen die Türkei verstärkte.

Die Türkei ist das nächste Ziel Israels.

Recep Tayyip Erdoğan, Oktober 2024

Noch im Jahr 2022 gab es Versuche die diplomatischen Beziehungen zwischen Ankara und Jerusalem wiederaufleben zulassen. Der Staatsbesuch von Präsident Herzog wurde als Neustart einer zerrütteten Beziehung angesehen, doch die Polizei-Einsätze gegen Palästinenser auf dem Tempelberg warfen die Bemühungen wieder zurück. Noch vor dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 war ein Besuch von Benjamin Netanyahu in der Türkei geplant, der schließlich abgesagt wurde und das vorläufige Ende der israelisch-türkischen Beziehungen einläutete. Präsident Erdoğans Solidaritätsbekundungen mit der Hamas-Führung und die türkische Unterstützung für die Genozid-Anklage vor dem ICC hatten letztlich die Position der Türkei im Nahostkonflikt unmissverständlich dargelegt.

„Die Türkei ist das nächste Ziel Israels“, erklärte Präsident Erdoğan noch im Oktober 2024 öffentlich. Die HTS-Offensive hat nicht nur den Sturz Assads, sondern auch die Zerschlagung der YPG in Nordsyrien zum Ziel. Die Vernichtung der syrischen Luftwaffe durch israelische Streitkräfte, die Ausweitung israelischer Militärpräsenz und Besiedlung der Golan-Höhen sieht die Türkei als Bestätigung dafür, dass Israel eine territoriale Expansion im Nahen Osten anstrebt und eine Vormachtstellung einnehmen will. Die türkische Regierung protestierte zwar gegen die israelischen Pläne auf den Golan-Höhen, doch Außenminister Hakan Fidan empfahl der HTS keinen Militärschlag gegen Israel zu unternehmen. Für die Türkei hat die Stabilisierung der politischen Verhältnisse in Syrien nach dem Umsturz oberste Priorität.

Die Hamas vertraute auf die schiitische Allianz um die libanesische Hisbollah, Syriens Diktator Assad, den jemenitischen Huthis und der Regionalmacht Iran. Die Türkei und Katar boten ihr mit den Verbindungsbüros in Istanbul und Doha den Zugang zur internationalen Politik und zu den Finanzmärkten. Für Russlands Präsidenten Putin bot der Krieg in Nahost einen weiteren Kriegsschauplatz, der mit Israel den wichtigsten Verbündeten des Westens in seiner Existenz bedrohte und somit den Krieg in der Ukraine in den Hintergrund rücken ließ.

Lange vorbereitete Offensive

Israels militärische Offensive in Gaza und im Libanon und die Neutralisierung der terroristischen Führungsebenen der Hamas und Hisbollah haben der schiitischen Achse schließlich den Untergang bereitet. Diktator Assad verlor mit der Hisbollah seine wichtigste militärische Stütze in Syrien. Die syrische Opposition, darunter die Freie Syrische Armee und die islamistische HTS, nutzten die Schwäche des Regimes für ihre lang geplante Offensive. Gemäß den Ausführungen eines HTS-Kommandeurs gegenüber dem britischen Guardian, war die Offensive der HTS-Allianz mit der Freien Syrischen Armee ab Herbst 2023 vorbereitet worden, als die Hamas gegen Israel losschlug.

Das Prestige der Europäischen Union und insbesondere Deutschlands in der arabischen Welt hat immensen Schaden durch den Gaza-Krieg erlitten.

Die HTS-Offensive und Einnahme von Damaskus hat die Türkei zur dominierenden Macht in Syrien gemacht. Die Offensive der syrischen Opposition mit Unterstützung der Türkei erfolgte in einer denkbar günstigen geopolitischen Lage; die US-Administration ist immer noch gelähmt vom anstehenden Amtswechsel von Biden zu Trump, das Prestige der Europäischen Union und insbesondere Deutschlands in der arabischen Welt hat immensen Schaden durch den Gaza-Krieg erlitten.

Außerdem war die EU bereits aufgrund des Ukrainekrieges und einer fehlenden europäischen Außenpolitik nicht im Stande, sich im Nahostkonflikt als Vermittler anzubieten. Frankreich, das als ehemalige Besatzungsmacht im Libanon und Syrien noch über einen geringen Einfluss verfügte, kann wegen einer schweren Haushalts- und Regierungskrise nicht aktiv werden und der Iran scheint durch die reihenweisen Verluste seiner wichtigsten Verbündeten paralysiert und handlungsunfähig.

Türkische Wirtschaft in den Startlöchern

Das wirtschaftliche Interesse der Türkei in Syrien ist zudem von großer Bedeutung. Der Regierungswechsel in Damaskus eröffnet nun Ankara die Möglichkeit türkische Unternehmen am Wiederaufbau Syriens zu beteiligen und damit auch die hohe Arbeitslosigkeit und Inflation im Land zu reduzieren. Nach Angaben der Vereinten Nationen beziffert sich der Wiederaufbau auf 400 Milliarden Dollar, um Syriens Infrastruktur und den Wohnsektor wiedererstehen zu lassen. Experten an der Istanbuler Börse rechnen mit einem Markt von ungefähr 100 Milliarden Dollar, der sich für türkische Unternehmen eröffnet. Der Bausektor soll bereits in den ersten fünf Jahren Aufträge im Wert von drei Milliarden Dollar erhalten.

Ankara vertraut auf die Millionen von syrischen Flüchtlingen als wichtiges Bindeglied zwischen beiden Staaten.

Internationale Hilfsgelder oder ein Wiederaufbau-Kredit des Internationalen Währungsfonds würden die türkische Wirtschaft entsprechend begünstigen. Projektaufträge für Brücken-, Straßen-, Strom- und Wassernetze werden durch den Einfluss Ankaras auf Damaskus an türkische Unternehmen verliehen werden. Der sehr angespannte Wohnsektor in Syrien, der durch eine Rückkehr vieler syrischer Flüchtlinge in eine neue Phase eintreten wird, wird ebenso von türkischen Baufirmen dominiert werden. Die türkische Speditions- und Logistikbranche bereitet sich bereits jetzt auf eine hohe Auftragswelle vor. Die Türkei wird ihren neugewonnenen Status in Damaskus weiter ausbauen und entsprechend die Stabilisierung des neuen politischen Systems begleiten.

Es wird sich zeigen, wie weit sich der Einfluss der Türkei in der Region durchsetzen wird. Ankara vertraut dabei auf die Millionen von syrischen Flüchtlingen, die seit einem Jahrzehnt Asyl erhalten oder bereits türkische Staatsbürger geworden sind und jetzt als wichtiges Bindeglied zwischen beiden Staaten fungieren, um ihre Rückkehr als Ordnungsmacht im Nahen Osten zu sichern. Hundert Jahre nach dem Abzug der Osmanen, feiern die regierungsnahen Medien das Hissen türkischer Fahnen in Aleppo und Damaskus als Sieg und Rückkehr der Türkei.

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Conclusio

Der Coup. Die Türkei nutzte die Gunst der Stunde, als Assads Unterstützer – Russland, Iran, Hisbollah – geschwächt waren und die USA mitten in der internen Machtübergabe hängen.
Vorherrschaft. Israel und die Türkei ringen um die Vorherrschaft im Nahen Osten, wobei die Außenpolitik unter US-Präsident Donald Trump die große Unbekannte darstellt.
Stabilität. Die große Frage bleibt, ob der Machtwechsel in Syrien geordnet abläuft, oder das Land neuerlich in einen Bürgerkrieg schlittert. Immerhin haben die involvierten Groß- und Regionalmächte ein hohes Interesse an Ordnung in der Region, während die revisionistischen Kräfte rund um den Iran sehr geschwächt dastehen.

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