Panturkismus auf dem Vormarsch

Die Türkei will den Einfluss bei verwandten Völkern Zentralasiens stärken. Für den Panturkismus wurde der Kulturaustausch unterstützt, Gastarbeiter aufgenommen und der Handel gefördert. Die Ziele der Türkei sind aber noch fern. Das soll sich jetzt ändern.

Usbekische Männer sitzen beim Tee
Die Türkei versucht Turkvölker in Zentralasien strategisch an sich zu binden. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Wachsender Einfluss. Der Sieg Aserbaidschans im Berg-Karabach-Konflikt hat die Stellung der Türkei in Zentralasien gestärkt.
  • Strategische Vorsorge. Die Sicherung von Energiereserven in Turkmenistan ist ein vorrangiges Ziel von Präsident Erdogan.
  • Wirtschaftliche Planung. Die Handelsströme sollen unter Umgehung des politisch unsicheren Iran am Laufen gehalten werden.
  • Wichtige Gegenspieler. Die Rivalen in Zentralasien sind vorrangig China und Russland, die ebenfalls am Ausbau ihres Einflusses arbeiten.

Um den türkischen Einfluss zu bremsen, hat Russland seine historische Rolle als regionaler Hegemon genutzt. Der Aufstieg Chinas hat das Spielfeld für neue Marktteilnehmer in der Region noch weiter verkleinert. Der Iran, der darauf bedacht ist, seinen eigenen Handel mit Zentralasien zu entwickeln, hat die Pläne der Türkei, dies ebenfalls zu tun, behindert. Zwei Entwicklungen aus jüngster Zeit deuten jedoch darauf hin, dass sich das Blatt nun zu Gunsten der Türkei und des Panturkismus wenden könnte.

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Die eine Entwicklung ist die sich vertiefende Allianz der Türkei mit Aserbaidschan. Die Niederlage Armeniens gegen Aserbaidschan im Berg-Karabach-Krieg im vergangenen Jahr eröffnete dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan neue Möglichkeiten, geopolitischen Einfluss in Zentralasien auszuüben. Die starke militärische Unterstützung der Türkei für die aserbaidschanische Offensive war ein entscheidender Faktor. Jetzt muss Eriwan einen Korridor durch sein Territorium akzeptieren, der vom südlichen Teil Aserbaidschans nach Nachitschewan führt, einer aserbaidschanischen Exklave, die zwischen Armenien und dem Iran liegt. Die Route verschafft der Türkei einen freien Weg zum Kaspischen Meer und ermöglicht es Ankara, sich aus der Abhängigkeit vom Iran zu lösen und Russland stärker herauszufordern.

Die veränderte Lage im Nahen Osten motiviert die Türkei, ihren Einfluss in Zentralasien zu stärken.

Die andere Entwicklung ist das von den Vereinigten Staaten vermittelte Abraham-Abkommen, das die Position der Türkei im Nahen Osten untergräbt. Nachdem Israel seine Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain normalisiert hat, steuert es auf einen grundlegenden Wandel in seinen Beziehungen zur arabischen Welt zu und könnte sogar seine Beziehungen zu Saudi-Arabien normalisieren. Diese Veränderungen sind ein Schlag für Präsident Erdogan, der ein Image als Beschützer der muslimischen Rechte kultiviert hat. Er hat die Muslimbruderschaft und die Hamas unterstützt, die in der Türkei Versammlungen abhalten durften.

Die neuen geopolitischen Gegebenheiten im Nahen Osten werden Ankara wahrscheinlich dazu veranlassen, seinen Einfluss im Südkaukasus und in Zentralasien auszubauen. Nach den Worten von Hüseyin Bagci, dem Leiter des in Ankara ansässigen Instituts für Außenpolitik, funktionieren die „islamische Karte und das Gerede von der muslimischen Einheit“ nicht mehr und werden durch türkischen Nationalismus ersetzt.

Energie-Vorteil in Zentralasien

Der unmittelbarste Nutzen, den Ankara aus seinem Bündnis mit Aserbaidschan ziehen wird, liegt im Energiebereich. Dort kann ein verbesserter Zugang zu den riesigen Gasreserven in Turkmenistan dazu beitragen, die bereits gestärkte Position der Türkei als regionales Energiezentrum zu verbessern.

Nach drei Jahrzehnten des Ringens einigten sich Baku und Aschgabat Mitte Jänner endlich auf die gemeinsame Erschließung eines Ölfeldes im Kaspischen Meer. Auch wenn das neue Feld für sich genommen keine allzu große Bedeutung haben wird, könnte die Zusammenarbeit dem turkmenischen Gas einen Weg zu den europäischen Märkten eröffnen.

Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht die geplante Transkaspische Pipeline (TCP). Dieses seit langem diskutierte Projekt würde Gas von Turkmenistan nach Aserbaidschan und weiter in den Südlichen Gaskorridor (SGC) pumpen, der über die Türkei nach Südosteuropa führt.

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Zahlen & Fakten

  • Die wichtigsten Handels-, Infrastruktur- und Energieprojekte der Region sind die Transkaspische Pipeline (TCP), der Südliche Gaskorridor (SGC), die Transkaspische Internationale Transportroute (TITR) und der Lapis-Lazuli-Korridor.
  • Das Kaspische Meer ist Dreh- und Angelpunkt für die Beziehungen der Türkei zu Kasachstan, Iran und dem engen Verbündeten Aserbaidschan.
  • Sichtbares Zeichen der Annäherung zentralasiatischer Länder wie Kasachstan ist deren Umstellung auf das lateinische Alphabet, welches für Turksprachen besser geeignet ist, als das kyrillische.

Es gibt mehrere Gründe, warum die TCP wohl kaum mehr als eine Vision bleiben wird. Da alle in jüngster Zeit erschlossenen turkmenischen Felder an China vergeben sind, gibt es keine klare Gasquelle für die TCP. Unter den derzeitigen Marktbedingungen ist es schwer vorstellbar, dass das Projekt wirtschaftlich rentabel wird. Außerdem gibt es keine Garantie dafür, dass die Betreiber des SGC sich für die notwendige Kapazitätserweiterung einsetzen werden.

Dennoch zeigt das erneute Interesse an der TCP, wie sich die regionale Geopolitik zugunsten von Aserbaidschan und der Türkei verändert. Letztendlich könnte der geopolitische Nutzen die kommerzielle Vorsicht übertrumpfen. Westliche Mächte haben die TCP, die Russland umgehen würde, lange unterstützt.

Weitreichende Pläne

Die Türkei arbeitet auch an der Erweiterung anderer großer Verkehrsinfrastrukturprojekte über das Kaspische Meer. Eines davon würde eine Route nach Kasachstan und weiter zum Trockenhafen von Khorgas an der chinesischen Grenze eröffnen. Das andere würde dem Lapis Lazuli Korridor, der durch Turkmenistan führt und in Afghanistan endet, neues Leben einhauchen. Auch hier stellen beide eine direkte Herausforderung für Russland dar, dessen traditionelle Rolle in der Region mit der von Norden nach Süden verlaufenden Verkehrsinfrastruktur verbunden ist.

Die Route durch Kasachstan ist Teil der größeren „Transkaspischen Internationalen Transportroute“ (TITR), die in China beginnt und in Europa endet. 2013 gründeten Aserbaidschan, Georgien und Kasachstan einen Ausschuss zur Koordinierung des „mittleren Korridors“ der TITR durch das Kaspische Becken. Die Verbindung kombiniert den Schienenverkehr mit der Schifffahrt über das Kaspische Meer, von Aktau in Kasachstan nach Baku in Aserbaidschan. Von dort führt die Strecke weiter nach Georgien, wo sie sich in Ausläufer zur Türkei und über das Schwarze Meer nach Europa aufteilt.

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Zahlen & Fakten

Ankara ist dem Projekt 2018 beigetreten, nachdem im Oktober 2017 die Eisenbahnstrecke Baku-Tbilisi-Kars fertiggestellt wurde. Der aktuelle Plan sieht vor, dass der Nachitschewan-Korridor dem Projekt weiteren Auftrieb verleiht und die Rolle der Türkei bei der Umsetzung von Chinas Belt and Road Initiative (BRI) stärkt. Russland, das ebenfalls von der BRI zu profitieren hofft, ist gegen diesen Plan.

Der Lapis-Lazuli-Korridor ist ein weiterer wichtiger Teil dieser Strategie. Nach einer Eröffnungsfeier im Dezember 2018 trafen sich im Jänner dieses Jahres Vertreter Turkmenistans, Aserbaidschans und Afghanistans, um sich auf einen Fahrplan für eine vertiefte Zusammenarbeit zu einigen. Die Verbindung von Turkmenistan nach Westen verläuft über eine Fähre von Turkmenbaschi nach Baku und dann per Bahn nach Georgien, in die Türkei und nach Europa.

Der Hauptkonkurrent ist hier der Iran. Im Jahr 2014 leitete er eine Hinwendung zu Zentralasien ein, die ein Freihandelsabkommen mit der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion einschloss. In dem Bestreben, den Wettbewerb mit der Türkei zu untergraben, hat Teheran im Oktober 2014 seine Transitgebühren mehr als verdoppelt und im Jänner 2015 angekündigt, die Versorgung türkischer LKW mit Kraftstoff einzustellen.

Umgehung des Iran

Als Reaktion auf diese Maßnahmen begann die Türkei ernsthaft nach Möglichkeiten zu suchen, ihren Handelsstrom über das Kaspische Meer unter Umgehung des Irans umzuleiten. Der Anreiz, dies zu tun, nahm zu, als der türkische Handelsstrom durch den Iran von 565.000 Tonnen im Jahr 2016 auf 1,08 Millionen Tonnen im Jahr 2019 anstieg.

Die Öffnung des Nachitschewan-Korridors verspricht, dem Iran einen doppelten Schlag zu versetzen. Teheran läuft nicht nur Gefahr, einen Großteil des Transitverkehrs zu verlieren, der Armenien umging, als er zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan floss, sondern auch den lukrativen Warenstrom von der Türkei nach Zentralasien. Auf einer Planungssitzung im Jahr 2015 stellte der turkmenische Botschafter in der Türkei, Ata Serdarow, in Aussicht, dass die transkaspische Route den gesamten türkischen Handel nach Zentralasien abwickeln könnte, ohne den Iran zu durchqueren.

Kasachstan will mit Hilfe der Türkei eine Balance zwischen Russland und China herstellen.

Ein Faktor, der für Ankaras Soft Power spricht, ist, dass Kasachstan eine größere regionale Rolle für die Türkei wünscht, um ein Gleichgewicht zwischen Russland und China herzustellen. Moskaus Aggression gegen die Ukraine hat die kasachischen Eliten verärgert, während Pekings Misshandlung der muslimischen Uiguren-Minderheit im benachbarten Xinjiang einen Großteil der kasachischen Bevölkerung verärgert hat.

Wichtig ist auch, dass große Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur in Ost-West-Richtung geflossen sind. Im Jahr 2018 eröffnete Turkmenistan seinen neuen Seehafen Turkmenbashi, während Aserbaidschan den internationalen Seehafen Baku einweihte. Letzterer befindet sich in Alat, etwa 70 Kilometer südlich von Baku, wo die wichtigsten Eisenbahn- und Straßennetze des Landes zusammenlaufen. Kürzlich kündigten Beamte in Kasachstan außerdem Pläne an, die Kapazität des Hafens von Aktau erheblich zu erhöhen, damit mehr Waren von Aserbaidschan in die Türkei fließen können.

Die Antwort der türkischen Rivalen

Russland und der Iran haben auf diese Entwicklungen mit Säbelrasseln reagiert. Beide verfügen im Kaspischen Meer über wesentlich größere Seestreitkräfte als die anderen drei Anrainerstaaten und haben wiederholt gemeinsame Marineübungen abgehalten, um diesen Vorteil zu unterstreichen. Es war kein Zufall, dass eine solche Übung stattfand, während über den Waffenstillstand im Berg-Karabach-Krieg verhandelt wurde.

Durch ihr entschlossenes Auftreten im Südkaukasus hat die Türkei ihre Position in Zentralasien gestärkt.

Es stimmt, dass ein Großteil der Spekulationen über eine stärkere Rolle der Türkei in Zentralasien auf dem Nachitschewan-Korridor beruht, der nach wie vor in den Händen Russlands liegt. Doch selbst wenn er die Erwartungen nicht erfüllen sollte, hat er bereits eine wichtige Rolle bei der Veränderung der geopolitischen Erwartungen in der Region gespielt.

Indem die Türkei in der Geopolitik des Südkaukasus eine entscheidende Rolle spielt, hat sie ihre Position in Zentralasien gestärkt. In dem Maße, wie sie ihre Zusammenarbeit mit den Staaten der Region vertieft, wird sie eine immer wichtigere Rolle beim Ausgleich des Einflusses von Russland und China spielen.

In den Worten eines erfahrenen Beobachters ist die vielleicht wichtigste Folge des aserbaidschanischen Sieges im Berg-Karabach-Krieg „darin zu sehen, dass die Länder Zentralasiens Aserbaidschan zunehmend als Brücke zum Westen betrachten – was den Einfluss Aserbaidschans (und dahinter der Türkei) in den Turkrepubliken dieser Region nur noch verstärken wird“.

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Conclusio

Die Türkei erweitert zielstrebig ihre Machtsphäre in Zentralasien. Der Vorteil: Turkvölker kontrollieren dort zahlreiche Länder und sind für wirtschaftliche und politische Unterstützung empfänglich. Die Rivalen Russland und China verfolgen jedoch in der Region ebenfalls knallhart ihre geostrategischen Interessen. Um innenpolitisch seine Macht zu zementieren, braucht Präsident Erdogan außenpolitische Erfolge. Zudem will er seinen Landsleuten das Gefühl geben, dass die Türkei eine Großmacht ist – und nicht zuletzt sich selbst eine bleibende Erinnerung in den Geschichtsbüchern verschaffen. Europa sollte die Region nicht aus den Augen verlieren, denn mit ihren Rohstoffen und ihrer Einbettung in die Seidenstrasse gewinnt sie an Bedeutung.