Wie Erdoğan Putin zermürbt

Der Krieg in der Ukraine ist eine gute Gelegenheit für die Türkei, endlich mit Russland und dem Westen abzurechnen. Ein Hintergrund über die wahren Ziele Erdoğans im Ukraine-Krieg.

Die Türkei ändert mit dem Ukraine-Krieg ihre Politik: Foto des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bei einer Sitzung des Minister-Kabinetts.
Recep Tayyip Erdoğan sieht seine Chance für die Abrechnung mit Russland und der westlichen Welt gekommen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Neue Chancen. Die weitgehende Isolation Russlands eröffnet Ankara plötzlich außenpolitische Macht-Perspektiven.
  • Neue Stärke. Die NATO muss anerkennen, dass die Türkei eines der wichtigsten Mitgliedsländer des Militärbündnisses ist.
  • Neue Macht. Die Verbündeten im Atlantikpakt sind gezwungen, politische Zugeständnisse zu machen.
  • Neue Ordnung. Nicht nur die NATO, auch die EU ist zu einer Neubewertung des Verhältnisses zur Türkei gezwungen. Dies ordnet die Kräfteverhältnisse neu.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sieht sich angesichts der angespannten Lage vor den anstehenden Wahlen im nächsten Jahr und sinkender Umfragewerte im Zugzwang. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommt da zur Ablenkung gar nicht ungelegen – worin Ankara das Zeug zum Sieger hat. Denn die Probleme im Land sind vielfältig.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Türkei fest im Griff. Die hohe Inflation mit ihren explodierenden Preisentwicklungen ist überall spürbar, auch wenn die türkische Bevölkerung den Wertverlust ihrer Lira aus der Vergangenheit kennt. Insbesondere nationalistische Stimmen finden in diesen Tagen großen Zulauf, so dass vor allem syrische Flüchtlinge zur Zielscheibe des Fremdenhasses aus der Unter- und Mittelschicht werden. Auch die Nationalisten in der eigenen Regierung fordern einen radikalen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik.

Unter den syrischen Flüchtlingen steht der türkische Präsident ebenfalls in der Kritik, kündigte er doch kürzlich an, die Beziehungen zum Assad-Regime normalisieren zu wollen. Dabei werden es vielleicht die Stimmen der syrischstämmigen Türken sein, von denen Erdoğans Wiederwahl abhängt.

Ende der Realpolitik mit Russland

Russlands verlustreicher Feldzug und der Widerstand der Ukrainer haben dazu geführt, dass die Türkei nun bereit ist, ihre Haltung zur syrischen Opposition, ähnlich wie zuvor bei der Muslimbruderschaft in Nordafrika und maßgeblich in Ägypten, zu Gunsten einer neu ausgerichteten Außenpolitik aufzukündigen. Staatspräsident Erdoğan sucht händeringend nach einem Ausweg aus dem Syrienkrieg, ohne dabei das eigene Ansehen zu beschädigen.

Der Krieg in der Ukraine hat die Karten neu gemischt und neue Verhandlungsgrundlagen für Ankara geschaffen. Die Türkei möchte die Syrer repatriieren und mit einer neuen Militäroffensive gegen die kurdische Terrororganisation PKK vorgehen. Die Pläne scheiterten maßgeblich am Widerstand Moskaus, das als Schutzmacht des Assad-Regimes eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu Damaskus zur Grundvoraussetzung erklärte.

Auch während des Kalten Krieges betrieb die Türkei eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost, die damals wie heute auf Unverständnis trifft.

Die enge Zusammenarbeit zwischen den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin verläuft seit 2016, trotz Höhen und Tiefen, in verschiedenen geopolitischen Konflikten erfolgreich. Die Türkei verfolgt seit Jahren eine pragmatische Realpolitik, die jede direkte Konfrontation mit Moskau vermeiden will. Dies hat vor allem historische Gründe, da die russische Expansionspolitik des 19. Jahrhunderts das Osmanische Reich fast zerschlagen hätte: 1878 standen russische Truppen bereits 30 Kilometer vor Istanbul. Während des Ersten Weltkrieges lag der Hauptschwerpunkt der osmanischen Militärführung in der Vernichtung des russischen Erbfeindes mithilfe von Deutschland.

Die Rückkehr Russlands in Form der Sowjetunion und die Pläne Stalins, den Osten der Türkei besetzen zu wollen, führte die Türken 1952 in die NATO. Auch während des Kalten Krieges betrieb die Türkei eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost, die damals wie heute bei den anderen NATO-Verbündeten auf Unverständnis trifft. Jede Annäherung an Russland war die Folge türkischen Unmuts darüber, dass der Westen Ankaras außenpolitische Doktrin nicht mittragen wollte. Sei es im Inselstreit mit Griechenland, im Zypernkonflikt, bei der Aufrüstung der türkischen Armee oder im Kampf gegen Terrororganisationen.

Nützlich: Der Krieg in der Ukraine

Die Türkei macht sich die Furcht vor der russischen Aggression zu nutze. Mit der beabsichtigten Aufnahme Finnlands und Schwedens in den Atlantikpakt hat Präsident Erdoğan nun ein Vehikel gefunden, um die türkischen Interessen durchzusetzen. Die Zustimmung der Türkei im NATO-Rat ist für die Nordländer essentiell. „Wir müssen uns mit den Sicherheitsbedenken aller Verbündeten beschäftigen, einschließlich der türkischen Bedenken hinsichtlich der Terrorgruppe PKK“, äußerte sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Juni.

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Zahlen & Fakten

Foto einer Parade der türkischen Kavallerie. Ein Reiter auf einem weißen Pferd trägt eine türkische Fahne.
Eine Übung der Kavallerie im Juni 2022: Militärisch unbedeutend, hält die Türkei an der Traditionseinheit fest. © Getty Images

Im Geiste des Krieges: Militär in der Türkei

Darstellung der militärischer Stützpunkte auf einer Karte der Türkei

Schweden und Finnland haben sich unter dem Gesichtspunkt einer drohenden russischen Aggression dazu bereit erklären müssen Terrorverdächtige auszuliefern und das Waffenembargo gegen Ankara fallen zu lassen. Für Präsident Erdoğan ist dies ein großer außenpolitischer Erfolg, versucht doch Ankara seit den 1990er Jahren die westlichen Verbündeten von der Gefahr der PKK und anderer linksextremer Gruppierungen zu überzeugen. Auch im Hinblick auf die islamische Sekte um den Prediger Gülen fordert Ankara die Auslieferung von Verschwörern des Putschversuchs vom Juli 2016.

EU-Schelte und Merkel-Nostalgie

Die Europäische Union hat sich seit Ausbruch des Krieges mit ihrer Türkei-Kritik in Schweigen gehüllt. Die NATO-Allianz, die von Frankreichs Präsident Emanuel Macron einst für „hirntot“ erklärt wurde, kehrte zurück und mit ihr im NATO-Rat die Türkei. Mit ihrer exponierten Lage und als Herrin über die Meerengen verfügt Ankara über die zahlenmäßig zweitgrößten Armee innerhalb NATO, ist führende Drohnenmacht und unterhält mehrere NATO-Basen an der wichtigen Südostflanke der Allianz. Brüssel und Washington waren wieder auf den unbequemen NATO-Partner in Ankara angewiesen. US-Präsident Joe Biden, der seit seiner Amtsübernahme Präsident Erdoğan ein Telefonat verweigerte, unterstützt jetzt die Türkei bei der angestrebten Modernisierung der F-16-Kampfjets.

Die Ausnahme unter den westlichen Politikern bildete nur die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, die während ihres offiziellen Antrittsbesuchs im Juli den türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu brüskierte, indem sie im Namen der neuen deutschen Regierung klar die Position Griechenlands im Inselstreit bezog. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu betonte, dass unter Angela Merkel nie Partei ergriffen wurde. „Um die Wahrheit zu sagen, war Deutschland in dieser Zeit ein ehrlicher Vermittler. Es war ausgewogen. Deutschlands Politik war ausgewogen.“ Bereits kurz nach Kriegsausbruch sagte Präsident Erdoğan fast wehmütig über die Kanzlerin: „Früher kam Merkel an und hielt den Schlüssel zur Lösung des Problems in der Hand. So eine Führungsfigur gibt es im Moment nicht.“

Was die Türkei will: Großmacht sein

Ankara verfolgt im Ukrainekrieg maßgeblich zwei geostrategische Ziele: den Westen zu zwingen, die Türkei als gleichrangige Großmacht anzuerkennen und Anteil an der Demontage Russlands als Weltmacht zu haben.

Die Türkei spielt die USA und die Europäische Union in Fragen militärischer Hilfsgüter für Kiew oder der Versorgungssicherheit gegeneinander aus, um sich westlicher Sanktionen zu entledigen und die Machtverhältnisse für eine Raison d‘être der Türkei zu nutzen. Man drängt darauf, den verlorenen Status als Großmacht zurückzuerlangen. Ankara gefällt sich in der Vermittlerrolle zwischen Kiew und Moskau und versucht, außenpolitisches Prestige zu gewinnen, nicht ohne dabei müde zu werden, stets das Versagen des Westens in diesem Krieg zu betonen.

Ankara setzt auf die russische Niederlage und hofft, seinen Machtbereich dadurch ausdehnen zu können.

Während der türkische Präsident sich als „ehrlicher Makler“ gibt, der die Kanäle zu Präsident Putin offen hält, strebt Ankara mit Waffenlieferungen an Kiew eine dauerhafte Fortsetzung des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine an, um den nördlichen Erbfeind der Türkei langfristig zu zermürben und zum Schluss als der heimliche Sieger dazustehen.

Ankara setzt auf die russische Niederlage und hofft seinen Machtbereich im Schwarzen Meer dadurch ausdehnen zu können. Ein Partisanenkrieg wie einst in Afghanistan oder Tschetschenien, soll Russland in der Ostukraine und auf der Krim verbluten lassen. Dabei blickt Ankara insbesondere auf die türkische Minderheit der Krim-Tataren, die sich dem Abwehrkampf der Ukrainer gegen die russische Besatzung angeschlossen haben. Die Türkei unterhält nicht nur enge Beziehungen zu den tatarischen Verbänden im In- wie Ausland, sondern sieht sich aus einer historischen Verpflichtung heraus als natürliche Schutzmacht seit die Krim de facto 1774 der osmanischen Herrschaft entrissen wurde.

Russland: Abhängig von der Türkei

Präsident Putin kennt die außenpolitischen Machtambitionen der Türkei sehr genau, weiß jedoch, dass er auf die türkische Diplomatie nicht verzichten kann, um mit der Kiewer Regierung und der hinter ihr stehenden USA verhandeln zu können. Aus diesem Grund ist die Zusammenarbeit zwischen Moskau und Ankara intensiver denn je. Putin hat bereits angekündigt  Investitionen im Energie- und Bankensektor in die Türkei verlagern zu wollen, um damit westliche Sanktionen umgehen zu können. Ankara kann mit der Bezahlung von Erdöl und Gas in Rubel eigene Dollar-Devisen einsparen.

Für Präsident Erdoğan sind erfolgreiche Deals wie die Einigung über die Ausfuhr von Mais und Weizen auch mit politischem Prestige verbunden, um Stärke zu signalisieren. Ob die Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik von Erfolg gekrönt sein wird, hängt vor allem vom ukrainischen Widerstand um Präsident Wolodymyr Selensky und der finanziellen wie materiellen Unterstützung des Westens ab.

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Conclusio

Die Türkei versucht, die machtpolitische Neuordnung im Gefolge des Krieges von Russland gegen die Ukraine zu ihrem Vorteil zu nutzen. Durch die Aufwertung der NATO sieht sich auch die Türkei in einer besseren Position, um politisch Druck auf die NATO, aber auch auf die Europäische Union ausüben zu können. Die Türkei möchte eine Großmacht sein und wünscht sich eine Niederlage Putins, denn die Türkei hat historisch noch einige Rechnungen mit Russland offen. Nebenbei kann Recep Tayyip Erdoğan auch von innenpolitischen Problemen, wie etwa der Mega-Inflation, ablenken.