Türkei: Die Wahl nach dem Beben

Das Erdbeben hat der Türkei gezeigt, dass Korruption tödlich sein kann. Doch kann das System Erdoğan eine mögliche Niederlage akzeptieren? Ein Interview mit dem Politikwissenschaftler Cengiz Günay.

Nachtaufnahme von zwei Menschen in Schutzkleidung, die ein schweres Tuchzwischen sich tragen. Das Bild gehört zu einem Interview über die Wahlen in der Türkei mit einem Politikwissenschaftler.
Der Leichnam der 45jährigen Mujde Cavlak wird am 14. Februar 2023, acht Tage nach dem schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien, in Hatay aus den Trümmern geborgen. Cavlak ist eines von mehr als 50.000 Todesopfern in der Türkei. © Getty Images

Das Beben kam in den frühen Morgenstunden des 6. Februar 2023. Mehr als 50.000 Menschen starben, mehr als drei Millionen wurden obdachlos. In einem Jahr sei alles wieder gut, versprach der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Hatay. Die Wahrheit ist: Der Wiederaufbau wird Jahre dauern – und die türkische Bevölkerung weiß das.

Das Interview

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Wird die türkische Bevölkerung das System Erdoğan bei den kommenden Wahlen am 14. Mai beenden? Und falls ja, wird das System Erdoğan seine Niederlage akzeptieren?

Die Antwort auf diese Frage entscheidet, wohin sich die Türkei in den nächsten Jahren entwickeln wird. Zwei Strömungen – die eine nationalistisch bis rechtsextrem, die andere gemäßigt konservativ bis demokratisch-links – charakterisieren die Situation.

In den letzten den Jahrzehnten sei die türkische Gesellschaft insgesamt konservativer geworden, sagt Cengiz Günay, was sich auch im Wahlbündnis rund um die AKP wiederfindet: Die islamistische Neue Wohlfahrtspartei (YRP), die rechtsexrtreme MHP und die ebenso ultranationalistische BBP sowie Hüda Par, eine ultrakonservative islamistische Partei. Die Situation sei ähnlich wie in Israel, so Günay. Die AKP hat sich wiederholt dem Druck von rechts gebeugt und ist etwa 2021 aus der völkerrechtlichen Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt ausgetreten.

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Zahlen & Fakten

Ein Mann trägt eine Frau mit einer Gasmaske in den Armen. Die Frau hält eine Wasserflasche in den Händen und ist verletzt. Es geht in dem Bild um die Proteste gegen die Shopping Mall im Gezi-Park seit 2013. Das Bild ist von 2014.
Istanbul am 31. Mai 2014: Die Proteste an dem Tag fanden im Gedenken an die Proteste gegen die Bauprojekte im Gezi-Park ein Jahr zuvor statt. Acht Menschen, darunter der 15jährige Berkin Elvan, waren bis dahin bereits durch die Polizeieinsätze getötet worden. Die Gezi-Proteste waren die bisher stärkte zivilgesellschaftliche Opposition gegen die Regierung Erdoğan. © Getty Images

Die Macht des Präsidenten

  • Die Wahlen am 14. Mai 2023 sind sowohl eine Präsidentschaftswahl als auch eine Wahl der Großen Nationalversammlung der Türkei, dem Parlament. Die letzte Präsidentschaftswahl fand 2018 statt. Seit 2014 wird der Präsident direkt gewählt.
  • 2017 setzte Erdoğan mittels Referendum eine tiefgreifende Veränderung der türkischen Verfassung durch, die die Macht bei der Exekutive und beim Präsidentenamt konzentriert. Seit 2018 kann der Präsident das Parlament jederzeit auflösen und Neuwahlen ausrufen – auch der aktuelle Wahltermin wurde so per Dekret festgelegt.
  • Der Ministerrat und das Amt des Premierministers wurden abgeschafft; der Präsident hat die Möglichkeit mittels Präsidialverordnung Gesetze zu erlassen – das Parlament hat drei Monate lang ein Vetorecht. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde eingeschränkt, das Kontrollorgan, der Rat der Richter und Staatsanwälte, mit AKP-nahen Personen besetzt und verkleinert; Verfassungsbeschwerden sind nicht mehr möglich.
  • Kleinere Parteien wurden durch eine zuerst 10-Prozent-Hürde, nun durch eine 7-Prozent-Hürde, gegenüber Großparteien benachteiligt.
  • Die Veränderungen gingen insgesamt zu Lasten der demokratischen Vielfalt und der Zivilgesellschaft – dort wendet sich die Unterdrückung vor allem gegen Frauen und LGBTQ-Rechte; die politische Opposition wird systematisch unterdrückt, viele Oppositionelle sitzen in Haft.
  • Ebenso wie die Medienfreiheit ist das Recht auf Versammlungsfreiheit in der Türkei stark eingeschränkt. Beispielsweise werden friedliche Demonstrationen und auch Veranstaltungen wie die Pride-Week aufgelöst oder bereits im Vorfeld verboten. NGOs, die sich für die Rechte von Frauen einsetzen, wurden aufgelöst, Menschenrechtsanwälte inhaftiert.

Zugleich gibt es eine Renaissance demokratischer und linker Bewegungen in der Türkei, erklärt Günay. Diese Kräfte haben gesellschaftlichen Rückhalt bei Intellektuellen und Künstlern und durch liberale Kräfte der Wirtschaft, die insbesondere die Niedrigzinspolitik der Notenbank beenden wollen. Im Oppositionsbündnis finden sich neben linken Kräften auch nationalistische und islamistische Parteien: Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ (Emek ve Özgürlük İttifakı) besteht aus der CHP, die größte Oppositionspartei), der pro-kurdischen HDP, der Grünen Linkspartei (YSP), der EMEP, TÖP, EHP, SMF, İnsan ve Özgürlük Partisi (Menschen- und Freiheitspartei) und der Kürdistan Demokratik Partis (Demokratische Partei Kurdistans).

Das Erdbeben und die Kosten des Wiederaufbaus – die auf elf Prozent des BIP geschätzt – haben den oppositionellen Kräften Auftrieb gegeben. Für die Türkei, die immer noch unter einer Inflation von mehr als 50 Prozent leidet, sind die Folgen des Erdbebens kaum zu bewältigen. Hinzu kommt: Behördenversagen und Korruption haben das Erdbeben noch zerstörerischer gemacht, und auch das wissen die Wähler.

Die große Frage, die sich für den Politologen Günay stellt, ist, ob die AKP und Erdoğan eine mögliche Wahlniederlage akzeptieren. Immerhin hat Erdoğan 2019 bereits einmal demokratische Wahlen rückgängig gemacht. Amnesty International befürchtet ein Verbot der pro-kurdischen Partei HDP noch vor den Wahlen.

Über Cengiz Günay

Cengiz Günay ist Politikwissenschaftler und forscht zu Demokratieentwicklung und Islamismus mit regionalem Schwerpunkt auf die Türkei, den Nahen Osten und Nordafrika. Er leitet das Österreichische Institut für internationale Politik (oiip) und lehrt an der Universität Wien. Er ist der Autor von Die Geschichte der Türkei. Von den Anfängen der Moderne bis heute und From Islamists to Muslim Democrats? The Case of Tunisia’s Ennahda.

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