Über den Konjunktiv
Das Leben schreibt viele Abenteuer, doch erst in unserer Erinnerung entsteht dazu eine Dramaturgie. Mit dem Konjunktiv schafft der Mensch eine Parallelwelt, die Aufregendes zum Leben erweckt.

Das Unverhoffte, das schlecht ausgehen könnte, wird als Abenteuer gefeiert, wenn wir es zu guter Letzt doch noch geschafft haben. Hätten wir es nicht geschafft, würden die Überlebenden von einer Tragödie sprechen. Wirkliches Abenteuer kann uns nur der Tod bieten. Zumindest irgendwo am Rand sollte er stehen. Ein Sonntagsspaziergang im Grünen verspricht kein Abenteuer, ein Fallschirmsprung schon.
Mehr von Michael Köhlmeier
Der Satz, die wahren Abenteuer sind im Kopf, ist – ich wähle ein Wort, das dem Abenteurer besonders wehtut: spießig. Die Spießigkeit besteht darin, der Sache einen falschen Namen zu geben. Im Kopf finden keine Abenteuer statt. Dies zu behaupten hieße, die eigenen Gedanken auffetten zu wollen. Wahrscheinlich, weil man sie für zu unbedeutend hält und darum meint, einen anderen Namen an sie kleben zu müssen.
Dem Abenteuer ausgeliefert
Einen Thriller zu schreiben ist kein Abenteuer, im wirklichen Leben einem Verrückten gegenüberzustehen, der eine Pistole auf mich richtet, sieht schon eher danach aus. Das Abenteuer kommt immer von außen. Wir wollen ein wirkliches Abenteuer zwar lieber nicht erleben, meinen aber, wenn uns nie eines widerfährt, unsere Zeit hienieden vertan zu haben. Soll’s bitte in der Literatur sein oder auf dem Theater oder im Film! Auf diesen Feldern darf schadlos gestorben werden.
Das Wort „erleben“ enthält, folge ich meinem Sprachgefühl, mehr Passives als Aktives. Das Erlebte habe nicht ich herbeigeführt, und wenn, dann unbeabsichtigt. Erlebtes stößt einem zu. Es widerfährt einem. Oftmals ist das Erleben gar nicht schön, und erst in der Erinnerung beginnt es zu leuchten. Die wahren Abenteuer sind in der Erinnerung. Also doch im Kopf?
Erinnerung, das weiß jeder, ist Dramaturgie, und die findet tatsächlich im Kopf statt. Während ich erlebe, weiß ich weder, wie anfing, noch, wie enden wird, was ich, sollte ich es überleben, erzählen möchte. Erst in der Erinnerung setze ich einen Beginn, baue ich eine steigende Handlung, bestimme ich den Höhepunkt und die Peripetie und gleite durch die Folgen auf den Augenblick der letzten Spannung zu. So hat Aristoteles in seiner Poetik den Aufbau der Tragödie beschrieben, so hat Gustav Freytag in seiner Technik des Dramas empfohlen, ein Theaterstück zu gliedern, danach haben Hollywoods Drehbuchtheoretiker Syd Field oder Christopher Vogler ihre Rezepte verfasst.
Der Konjunktiv ist das Spiel des gottgleichen Menschen.
Wo Leben ist, rumort auch der Lebensüberdruss. Komplementär zur Spannung postiert sich die Langeweile. Wer unter Lebensüberdruss leidet, greift zu Antidepressiva. Das Abenteuer ist ein Medikament. Das Abenteuer führt vor: Es muss nicht so sein, wie es ist. Eine Lebensarznei, je bitterer bei der Einnahme, desto süßer in der Erzählung. Der Wirkstoff heißt Konjunktiv.
Was wäre, wenn?
Wir denken, und ganz gleich, worüber wir nachdenken, immer haben wir eine gewisse Dosis Konjunktiv parat. Er bringt fröhliche Fantasie, aber auch Unzufriedenheit und Frustration. Der Konjunktiv warnt uns vor Unbill, aber er kann uns auch zeigen, wie eintönig unser Leben ist. Indikation und Kontraindikation.
Der Konjunktiv ist das Spiel des gottgleichen Menschen. Der spielende Mensch, homo ludens, hat den Konjunktiv erfunden, und da es ihn nun schon so lange gibt, dürfen wir glauben, er sei für das Abenteuer Menschheit überlebenswichtig. Der holländische Kulturwissenschaftler Johan Huizinga wies in dem gleichnamigen Werk dem Spiel die kulturerschaffende Funktion schlechthin zu. Die Dichtung, schreibt er und meint damit den Entwurf von Leben im Konjunktiv, werde im Spiel und als Spiel geboren, und es sei ein geweihtes Spiel. „Von bewusster Befriedigung eines Schönheitsdrangs“ – also Kunst – „ist noch sehr lange nicht die Rede. Dieser liegt noch unerkannt im Erleben des heiligen Akts beschlossen, der in poetischer Form zu Worte kommt und als Wunderwerk, als festlicher Rausch, als Entrückung empfunden wird.“
Spielerischer Balanceakt
Ausgerechnet vom ernsten, ideologisch so fest gefügten Friedrich Schiller stammt die Sentenz: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Der Mensch wird erschaffen, und er erschafft sich ein zweites Mal. Einmal Indikativ, einmal Konjunktiv. Ich bin, und ich könnte sein. Ich kann dies tun, und ich könnte etwas anderes tun. Ersterem mangelt Dramaturgie, Letzteres besteht aus Dramaturgie. Mit dem einen Bein stehen wir hier, mit dem anderen dort. Wer das eine mit dem anderen verwechselt, wer sein konjunktivisches Ich für das wahre Ich hält, der läuft Gefahr, seine Existenz und Identität in eine Nippesfigur zu verwandeln. Das wäre spießig. Wer das Konjunktivische in seinem Leben kleinhält, der gestattet sich den Überfluss nicht, der hält Musik für ein Geräusch unter anderen Geräuschen.
Wir sollten uns ein Vorbild an den Hexen nehmen. Den Zaunreiterinnen. Sie sitzen auf dem Zaun, ein Bein strecken sie in die Realität, das andere hinüber ins Irreale. Sie schwanken, einmal auf diese Seite, dann auf die andere. Aber sie fallen nicht. Weder hierhin noch dorthin.