Die zwei Gesichter der Überbevölkerung

Überbevölkerung zeigt sich im globalen Süden als ein Problem bitterer Armut; im globalen Norden als ein stetiges Überschreiten der Ressourcen der Erde. Diese doppelte Überbevölkerung verlangt je eigene Lösungen.

Armut: Foto eines Mädchens in Somalia, die auf die Kadaver verdursteter Ziegen blickt.
Verdurstete und verhungerte Ziegen in Dollow im Südwesten Somalias. Seit drei Jahren ist in Somalia kein Regen mehr gefallen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Unterscheiden lernen. „Überbevölkerung“ entsteht im globalen Norden, denn dort werden mehr Ressourcen verbraucht als die Erde hat.
  • Bildung und Rechte. Armut kann durch Bildung und die Stärkung der Rechte von Frauen global bekämpft werden.
  • Akzeptanz für Verbote. Die Politik hat die Aufgabe, den Konsum so zu steuern, dass die Ressourcen der Erde nicht übernutzt werden.
  • Suffizienz und Gemeinwohl. Der reiche Norden muss verstehen lernen, mit dem auszukommen, was da ist und den Wachstumspfad verlassen.

Tesfaye ist ein armer Bauer im Hochland von Äthiopiens Südwesten. Ich habe ihn vor ein paar Jahren getroffen, unweit der Straße von Bonga nach Mizan Teferi, wo er ein Stück Wald gerodet hat, um Ackerbau zu betreiben und sich, seine drei Frauen und 24 Kinder über die Runden zu bringen. Das gelingt eher schlecht als recht.

Die Kinder, zu klein und zu schmal für ihr Alter, stecken in zerschlissenen Klamotten aus der mitteleuropäischen Kleidersammlung. Drei grob gezimmerte, vom offenen Feuer verqualmte Bambushütten bieten den Menschen kaum Schutz. Geschlafen wird auf dem nackten Boden oder schmutzigen Bastmatten.

Die Weltbevölkerung wächst nur noch dort, wo Menschen um ihre Existenz kämpfen.

Tesfaye und seine drei Frauen sind nie zur Schule gegangen, sie fahren kein Auto, haben keinen Stromanschluss. Als arme Subsistenzbauern sitzen sie in der Falle. Für sie bedeutet Kinderreichtum Armut – und umgekehrt. Sie haben keine Perspektive, sie können ihr Leben nicht planen. Und wer nicht planen kann, denkt auch nicht an Familienplanung. So pflanzt sich Armut fort und erfasst in der nächsten Generation noch mehr Menschen.

Tatsächlich wächst die Weltbevölkerung fast nur noch dort, wo die Menschen um ihre Existenz kämpfen, vor allem in Afrika und Westasien. Die verantwortlichen Regierungen schaffen es kaum, ihre Leute mit dem Notwendigsten zu versorgen, mit Schulen – mit Nahrung, einem Dach über dem Kopf, mit Gesundheitsdiensten und vor allem: mit Jobs. In solchen Fällen muss man von einer Überbevölkerung sprechen.

Armut und Verschwendung

Doch bei diesem Thema nur auf den armen Teil der Welt zu schauen, greift zu kurz. Ein reiches Land wie Österreich, wo die Kinderzahlen je Frau längst unter das bestandserhaltende Niveau gesunken sind, ist viel stärker überbevölkert als etwa Äthiopien.

Denn in Österreich verbrauchen die Menschen deutlich mehr Rohstoffe als die Natur nachliefern kann, und sie hinterlassen mehr Müll in jeder Form als die ökologischen Kreisläufe unschädlich machen könnten. Das österreichische Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von 45.000 Euro, eines der höchsten weltweit, bedeutet nicht nur Wohlstand, sondern erhebliche Kollateralschäden.

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Zahlen & Fakten

Deutlich wird das am Ausstoß des Verbrennungsgases Kohlendioxid, hauptverantwortlich für den menschengemachten Klimawandel. Wollte man diesen auch nur einigermaßen begrenzen, müssten die weltweiten Emissionen bis Mitte des Jahrhunderts auf null sinken. Ein Durchschnittsbewohner Österreichs verursacht derzeit jedoch pro Jahr rund neun Tonnen Kohlendioxid. Für Äthiopien liegt der Wert bei 0,1 Tonnen. Eine einzige Person in Graz oder Bregenz verhält sich somit statistisch gesehen mehr als drei Mal klimaschädlicher als die komplette 28-köpfige Großfamilie von Tesfaye.

Zwei Gesichter der Überbevölkerung

Überbevölkerung hat somit zwei Gesichter. Das eine zeigt sich in Weltregionen, wo die Menschen an die Grenzen der Versorgungsmöglichkeiten stoßen. Das andere dort, wo sie weit über ihre ökologischen Verhältnisse leben. Beide Phänomene haben wenig miteinander zu tun, weshalb es keinen Sinn ergibt, die „Schuld“ der Armen und der Reichen gegeneinander aufzurechnen. Oder mit dem Finger vom kinderarmen Europa auf Afrika zu zeigen, wo im Schnitt noch fünf Kinder je Frau zur Welt kommen. Beide Formen der Überbevölkerung sind auf einem begrenzten Planeten nicht tragbar.

Es sind zwei Probleme, die unabhängig voneinander gelöst werden müssen. Denn weder bekommen die Frauen in Äthiopien weniger Nachwuchs, wenn die Österreicher aufhören Auto zu fahren, noch unternehmen die Deutschen weniger Flugreisen, wenn die Menschen in Mali nur noch zwei oder weniger Kinder in die Welt setzen.

Foto einer nächtlichen Grenzkontrolle an der Grenze zwischen den USA und Mexiko.
Grenzkontrollen an der mexikanischen Grenze zu den USA. Der Colorado River führt kaum noch Wasser. Menschen in Mexiko verlieren ihre Lebensgrundlage. Im Südwesten der USA ist das Wasser rationiert. © Getty Images

Aber was wäre zu tun, um das Bevölkerungswachstum zu stoppen und gleichzeitig die Weltwirtschaft in weniger als 30 Jahren so umzubauen, dass sie keinerlei klimaschädigenden Treibhausgase mehr freisetzt, und auch alle anderen konsumbedingten Umweltprobleme verschwinden – von der Vermüllung der Ozeane bis zum Verlust der Artenvielfalt? Keine Generation zuvor war mit einer auch nur annähernd so großen Herausforderung konfrontiert.

Aufgabe Nummer 1, das Bevölkerungswachstum im armen Teil der Welt zu bremsen, ist leichter zu lösen. Es ist empirisch belegt, wie und unter welchen Rahmenbedingungen die Nachwuchszahlen sinken. Das Bevölkerungswachstum lässt sich stoppen, ohne dass dabei Menschenrechte verletzt werden wie einst in China: Gelingt es, die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem zu verbessern, Jobs zu schaffen und für mehr Gleichberechtigung der Geschlechter zu sorgen, entfalten diese Einflussgrößen eine Dynamik, die das Leben der Menschen auf vielfältige Weise positiv beeinflusst.

Im Rahmen dieser Veränderungen sind überall auf der Welt die Geburtenziffern gesunken. Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt bereits in Ländern, in denen die Einwohnerzahlen mittelfristig stagnieren oder sogar schon zu schrumpfen begonnen haben, darunter einstmals sehr arme Länder wie Bangladesch oder Vietnam. Die gute Nachricht lautet: Wenn es den Menschen besser geht, bekommen sie weniger Nachwuchs. Im Schnitt bringen die Frauen der Welt heute nur noch 2,4 Kinder zur Welt, weniger als halb so viele wie vor 60 Jahren. Auch die Wachstumsrate hat sich mehr als halbiert.

Mehr Verbrauch als Ressourcen

Wer aus diesem Rückgang auf ein nahes Ende des Bevölkerungswachstums auf dieser Welt schließt, erliegt allerdings einem arithmetischen Denkfehler: Denn weil das gegenüber den 1960er Jahren halbierte relative Wachstum auf Basis einer inzwischen mehr als verdoppelten Weltbevölkerung stattfindet, hält sich das absolute Wachstum seit einem halben Jahrhundert auf dem gleichen Niveau: Pro Jahr sind seither 80 Millionen Menschen hinzugekommen. Oder 15 alle sechs Sekunden – so lang, wie es braucht, um diesen kurzen Satz zu lesen. All diese Menschen brauchen Trinkwasser, Nahrung, Rohstoffe und Energie.

Selbst wenn heute die Frauen in den wenig entwickelten Ländern nur noch zwei Kinder bekämen, was auf den ersten Blick Nullwachstum bedeutete, wäre dort der Zuwachs nicht gestoppt. Denn in diesen Regionen gibt es einen überproportionalen Anteil an jungen Menschen, darunter Frauen, die das gebärfähige Alter noch gar nicht erreicht haben.

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Zahlen & Fakten

Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen rechnet deshalb in ihrer mittleren Projektion bis Ende des laufenden Jahrhunderts mit rund elf Milliarden Menschen und erst danach mit einem Rückgang. Der Hauptzuwachs geht dabei auf das Konto von Afrika südlich der Sahara, der aktuell am wenigsten entwickelten Weltregion. Der Rest der Welt hat sich über die kommenden Jahrzehnte auf ein Schrumpfen einzustellen – auch Asien, der mit Abstand am dichtesten bevölkerte Kontinent. China erlebt derzeit sein Bevölkerungsmaximum, und auch Indien dürfte in absehbarer Zeit aufhören zu wachsen.

Aber es gibt auch Bevölkerungsprojektionen anderer Wissenschaftler, etwa vom Wittgenstein Zentrum für Demografie und Humankapital in Wien. Sie gehen in ihrer optimistischsten Variante von großen Entwicklungsfortschritten in den armen Ländern aus, vor allem was die Bildung anbelangt. Und kommen so für das Jahr 2100 auf knapp sieben Milliarden Menschen, was gegenüber heute ein Rückgang von einer Milliarde wäre. Für diese Variante gibt es bislang allerdings wenig Hoffnung.

Menschheit in der Wachstumsfalle

Bleibt die immer wieder gestellte Frage: Wo läge denn die maximale Tragfähigkeit des Planeten Erde? Anders gefragt: Ab welcher Grenze wären wir definitiv zu viele? Dazu gibt es keine Antwort, denn sie hängt davon ab, wie sich die Menschen verhalten, wieviel Rohstoffe sie verbrauchen, wie sie sich ernähren, wie viele Naturräume und Ökosysteme sie mit ihrem Lebenswandel zerstören. Mit Sicherheit lässt sich anhand nahezu aller Umweltparameter sagen, dass die heutigen acht Milliarden zu viel sind. Sie bräuchten nach Berechnungen etwa 1,75 Erden, um ihr Leben langfristig zu sichern. Zu dieser „Erdüberlastung“ tragen allerdings überwiegend die wohlhabenden, konsumfreudigen Industrienationen bei.

Auf heutigem Emissionsniveau dürfte die Menschheit gerade noch sieben Jahre weiterheizen.

Aufgabe Nummer 2, den reichen und längst auch den aufstrebenden Teil der Welt aus seiner Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu erlösen, ist deshalb ungleich schwieriger. Denn fatalerweise hängt die Energieversorgung der Welt noch zu über 80 Prozent an Öl, Gas und Kohle. Das von der internationalen Gemeinschaft vereinbarte Ziel, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen, ist deshalb illusorisch: Auf dem heutigem Emissionsniveau dürfte die Menschheit gerade noch sieben Jahre weiterheizen. Selbst das 2-Grad-Ziel ließe sich nur unter enormen Kraftanstrengungen erreichen.

Foto eines Protest-Schriftzugs in Leuchtschrift vor einem beleuchteten Gebäude in der Nacht
Demonstrationen in Glasgow während der Weltklimakonferenz im November 2022: „Beendet den Klimabetrug“. © Getty Images

Die angekündigten, aber bei Weitem nicht eingelösten Maßnahmen der Unterzeichnerstaaten des Paris-Abkommens laufen eher auf einen Anstieg von 2,5 bis 3 Grad hinaus. Unter diesen Bedingungen würde das Überleben in weiten Teilen der Erde erschwert bis unmöglich ‒ weil Städte im Meer versinken, weil das Wasser für die Landwirtschaft fehlt oder weil es schlicht zu heiß wird, um sich im Freien aufzuhalten.

Ohne Verbote geht es nicht

Wollten wir als Bewohner der reichen Länder klimafreundlich werden, könnten wir etwa ein Drittel der Emissionen auf individueller Ebene reduzieren. Wie das geht, ist hinlänglich bekannt, wird aber bisher kaum umgesetzt: Seltener fliegen, keine überdimensionierten Autos kaufen, Heizenergie sparen, weniger Fleisch essen und so weiter.

Für zwei Drittel der notwendigen Emissionsminderungen ist die Politik zuständig. Sie muss ein Ordnungsrecht schaffen, Ge- und Verbote erlassen, die sich vorrangig am Klimaschutz orientieren. Die unerwünschten Folgekosten unseres Lebenswandels, die bislang auf die Allgemeinheit abgeschoben werden, müssen den Verursachern angelastet werden. Das heißt: Preise hoch für alles, was Schaden anrichtet, und zwar so lange, bis kein Schaden mehr entsteht.

Ob das am Ende drei, vier oder fünf Euro für einen Liter Sprit bedeutet, ist offen. Sicher ist, dass damit ein Innovationsschub für emissionsfreie Technologien entstünde. Aber genauso sicher ist, dass die Wählerinnen und Wähler vorher auf die Barrikaden steigen würden. Zu einer nachhaltigen Zukunft gehören eben immer zwei: die Politik und das Volk.

So wichtig neue, effizientere und rohstoffschonende technische Möglichkeiten auf dem Weg zu einem umweltverträglicheren Dasein sind, mit Technik allein lässt sich die Krise nicht bewältigen. Umweltschutz nach dieser Vorstellung verspricht, dass alles Angenehme (Wohlstand, Arbeitsplätze, Produktivitätsgewinne, steigende Einkommen) bleibt, wie es ist, dass dabei aber keine Ressourcen übernutzt und keine Treibhausgase produziert werden. Aus schmutzigem wird grünes Wachstum. Aber das ist eine Milchmädchenrechnung.

Lösung Gemeinwohl und Suffizienz

Allein die Energiewende erfordert gewaltige Infrastrukturen – mit Stahltürmen, Betonfundamenten, Kupferleitungen, Elektromotoren, Lithiumspeichern und den üblichen Folgeschäden an der Umwelt. Stehen die ganzen Wind- und Solarparks einmal, können sie Energie ohne weiteren Ressourcenverbrauch liefern. Aber mit dem so erzeugten Strom soll dann ja weiteres „nachhaltiges“ Wachstum generiert werden. Dafür müssen die Unternehmen eine steigende Zahl von Gütern und Dienstleistungen herstellen, was wiederum nicht ohne Ressourcen- und Naturverbrauch möglich ist. Nachhaltiges Wachstum ist ein Oxymoron – ein Widerspruch in sich.

Wir stecken in einer fatalen Abhängigkeit von Wachstum.

Ein Argument lautet, Wachstum sei notwendig, um den Klimaschutz zu finanzieren. Das ist korrekt. Genauso wird es benötigt, um die Kosten des demografischen Wandels, das Bedienen der Corona-Schulden und immer neuer Weltkrisen zu stemmen. Wir stecken in einer fatalen Abhängigkeit von Wachstum und wollen dessen Kollateralschäden durch weiteres Wachstum bewältigen. Das hat etwas Schizophrenes.

Foto der Speicher-Infrastruktur des Hoover Dam.
Der helle Ring zeigt die Grenzen des Wachstums: Lake Mead, eines der wichtigsten Wasserreservoirs der USA, ist im September 2022 auf dem historischen Tiefstand. © Getty Images

Deshalb kommen wir neben der besten Technik um ein zweites Instrument auf dem Weg zu einem umweltverträglichen Dasein nicht herum: Suffizienz. Sie bedeutet Energie und Material einzusparen, weil sie gar nicht erst zum Einsatz kommen. Dinge nicht zu kaufen. Verzicht. Bescheidenheit.

Suffizienzdenken orientiert sich am langfristigen Gemeinwohl und genau diese Strategie wäre notwendig, um Natur und Mensch in ein Gleichgewicht zu bringen. Zwar ist Verzicht für die meisten Menschen ein Spaßkiller und würde der Wirtschaft eine „Unterkonsumptionskrise“ bescheren. Aber wenn die reichen Gesellschaften der Welt keine Mittel und Wege finden, ein Wohlergehen ihrer Bewohner ohne Wachstum zu ermöglichen, dann wird sich das Problem der konsumbedingten Überbevölkerung nicht lösen lassen.

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Conclusio

Während in den armen Ländern des globalen Südens die Armut das Hauptproblem darstellt, ist es im globalen Norden der ökologisch untragbare Ressourcenverbrauch. Während sich das Armutsproblem lösen lässt, indem zum Beispiel in die Bildung von Frauen und Mädchen investiert wird, kommt der reiche globale Norden um Einschränkungen nicht herum. Unter den Bedingungen einer um zwei Grad heißeren Welt lässt sich das Wachstumsmodell ohnedies nicht mehr aufrecht erhalten. Die Wirtschaft im globalen Norden muss umdenken und sich am langfristigen Gemeinwohl orientieren.