„Europa macht natürlich nicht genug“

Karl Habsburg-Lothringen geht hart mit der EU ins Gericht: Während die Ukraine für Europa kämpft, finanziert die EU den Krieg für Putin, indem sie ihm das Gas abkauft, so der Kaiser-Enkel im Interview.

Die Ukraine und die EU: Foto eines Jungen, der vor einer Wand in den Farben der Ukraine eine Fahne der EU schwenkt.
Hoffnung EU: Der internationale Kindertag am 1. Juni 2022 in der Ukraine. © Getty Images

Karl Habsburg-Lothringen ist der älteste Sohn von Otto Habsburg und der Enkel des letzten Kaisers von Österreich-Ungarn. Der Medienunternehmer und überzeugte Europäer kritisiert die laxen Sanktionen der EU und hält die Neutralität Österreichs für ein Feigenblatt, mit dem sich das Land aus der Verantwortung stiehlt. Die Ukraine kämpfe den Krieg nicht für sich, sondern für die Werte der EU. Die Integrität der Ukraine inklusive Donbas und Krim sowie ein Regimewechsel in Russland müssten die Kriegsziele sein.

Herr Habsburg, Ihr Vater Otto hat schon vor Jahrzehnten vor Wladimir Putin gewarnt und eine starke europäische Sicherheitspolitik verlangt. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Karl Habsburg: Politik war bei uns zu Hause ein ständiges Thema. Ich bin im Kalten Krieg erzogen worden. Was mein Vater schon gesehen hat, war der Totalitarismus Putins. Es muss daher ein Ziel für die Zukunft sein, ein Umdenken in der russischen Bevölkerung herbeizuführen. Das kann man nicht erzwingen, aber man kann die Demokratie und die Opposition unterstützen. 

Wie beurteilen Sie die europäische Haltung im Ukraine-Konflikt? Unternimmt die EU genug?

Nein, Europa macht natürlich nicht genug. Die Ukraine führt für uns einen Krieg, daher müssen wir sie unterstützen, wo wir nur können. Die Sanktionen gegen Russland beispielsweise klingen sehr schön – aber sie treffen nicht den Hauptpunkt, die Energie. Damit finanzieren wir den Krieg in der Ukraine mit.

Würde ein Gas-Embargo Europa wirtschaftlich nicht stark schwächen?

Natürlich kommt da gleich das Argument, dass wir ohne russische Energie in große wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten werden. Ja, das ist mir absolut klar, ich bin ja nicht völlig weltfremd. Nur sehe ich die Alternative anders. Die Alternative ist die, dass irgendwelche russischen Panzerdivisionen bei uns vor der Türe stehen. Dann ist die Frage der schwächeren Wirtschaft und der höheren Arbeitslosigkeit unser letztes Problem. 

Was meinen Sie mit der Formulierung „bei uns vor der Türe“?

Russland führt keinen Krieg gegen die Ukraine, sie ist nur das erste Opfer am Weg. Die Kriegserklärung gegen Moldawien hat de facto stattgefunden. Oder denken Sie an Königsberg, das von Russland aus nur über NATO-Gebiet zu erreichen ist. Es ist ein Krieg der Werte, den wir derzeit sehen. Wir haben unsere Wertvorstellungen. Unsere westlichen, freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen Grundprinzipien sind eine Bedrohung für ein totalitäres, tyrannisches Regime, wie es in Moskau sitzt. 

Der Einsatz taktischer Atomwaffen ist Teil der russischen Militärdoktrin.

Speziell bei Waffenlieferungen wird oft das Argument gebracht, dass Europa Russland nicht zu stark reizen sollte, um keinen dritten Weltkrieg zu provozieren. Wie valide ist dieser Punkt?

Das ist weltfremd und ignoriert die russische Realität komplett. Putin muss nicht gereizt werden. Wenn er sich zu einer Handlung entschlossen hat, dann führt er sie auch aus. Wenn wir den Anlass dafür nicht liefern, täuscht er eben einen vor. Das war immer so. Wir können nicht mit jemandem reden, der jeden Vertrag bricht, der jede Aussage, die er macht, wenige Tage später bricht. Putin hält sich an keine Zusagen. Er hat mit dem Krieg und den Verbrechen in Butscha oder Mariupol das ganze Staatssystem delegitimiert. Russland ist der Aggressor, der auch nicht vor dem Einsatz von Atomwaffen zurückschrecken wird.

Wie meinen Sie das?

Taktische Atomwaffen sind Teil der russischen Militärdoktrin zur Deeskalation, indem der Gegner schockiert wird. Ihr Einsatz ist eine militärische und keine politische Entscheidung. Daher verstehe ich das Argument nicht, dass man Putin nicht reizen solle. 

Spielt die angebliche Bedrohung Russlands durch die Osterweiterung der NATO eine Rolle bei den Motiven für den russischen Angriff? 

Es gibt keine NATO-Osterweiterung. Die NATO ist eine Sicherheitsgemeinschaft, der souveräne Staaten, die ein Sicherheitsbedürfnis haben, beitreten können. Die NATO-Osterweiterung ist ein Begriff, der aufgrund von Fehlinformationen der russischen Medien verbreitet wird. Das ist ein Begriff der russischen Propaganda. 

Was halten Sie von der These, wonach Russland bei der Wiedervereinigung Deutschlands zugesichert wurde, dass die NATO sich nicht weiter nach Osten ausdehnt?

Die einzige Beschränkung war, dass die NATO-Kommandostruktur nicht in den Osten verlegt werden darf. Das sagen auch alle Zeugen von damals. Ich hatte die Gelegenheit, über dieses Thema ausführlich mit dem früheren deutschen Außenminister Hans Dietrich Genscher zu sprechen. Er hat gesagt, die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder war nie ein Thema. Das wäre ja auch ein absurdes Fantasiespiel gewesen, zumal es damals den Warschauer Pakt noch gab – und von einer Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO überhaupt keine Rede war.

Wie könnte eine Lösung in dem Konflikt aussehen?

Ich sage normalerweise keine guten Dinge über Stalin, aber Stalin hat etwas gemacht, wofür ich ihn ungemein bewundere. Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion gab es die erste Sitzung des Zentralkomitees. Stalin hat vorgegeben, nicht über die aktuelle militärische Lage zu sprechen, sondern über das Kriegsziel. Erst wenn das feststeht, kann man die Schritte definieren, um das Kriegsziel zu erreichen. Ich glaube, es wäre sinnvoll, zu überlegen, was das Ziel des Westens sein soll.

Wir haben die Neutralität als Feigenblatt eingesetzt, um uns von Konflikten davonzuschleichen.

Wie würden Sie die Ziele definieren? 

Das Erreichen der territorialen Integrität der Ukraine, selbstverständlich unter Einschluss des Donezbeckens und der Krim. Darunter geht gar nichts. Das müsste die absolute Mindestforderung sein. Das zweite Kriegsziel müsste ein Regimewechsel in Russland sein. Wenn es zur territorialen Integrität der Ukraine kommt, hat Russland verloren, womit Putin ohnehin nicht mehr tragbar ist. Dann wird er von den eigenen Leuten abgeräumt. Putin ist nicht mehr der Mensch, mit dem wir in Zukunft rechnen müssen. Wir wollen einen verlässlichen Partner in Russland haben, der demokratische Grundprinzipien akzeptiert. 

Wie soll das gelingen?

Wir müssen jetzt die russische Opposition unterstützen. Es gibt ein anderes Russland. Es gibt Menschen, die sich einsperren lassen – weil sie mit einem leeren Blatt Papier in der Hand auf die Straßen gehen. Es gibt eine Opposition. Aber was machen wir zu ihrer Unterstützung? Einfach gar nichts. Das finde ich schockierend.

Und welchen sicherheitspolitischen Status erwarten Sie für die Ukraine? Die Neutralität?

Zur Neutralität rät dir nur der Feind, nicht der Freund. Die Frage der Neutralität der Ukraine stellt sich nicht mehr. Wenn Russland von Neutralität redet, meint es Neutralisierung. Das erinnert an die Position Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals meinte Russland auch, Österreich soll neutral werden. Gemeint war die Neutralisierung. Die Amerikaner haben dann auf die wehrhafte Neutralität nach Schweizer Vorbild gepocht. In der Ukraine ist dieser Zug abgefahren.

Wie beurteilen Sie die österreichische Neutralität?

Ich habe meine Meinung über die österreichische Neutralität in den letzten 40 Jahren nie geändert. Das Problem ist, dass Österreich die Neutralität zu einem religiösen Wert erklärt hat. Sie ist kein Wert, sondern ein Instrument. Wir haben es eingesetzt als Feigenblatt, um uns von Konflikten davonzuschleichen. Wir haben die Neutralität auch dazu eingesetzt, internationale Organisationen herzubekommen, was sehr gut war. Neutralität ist wie ein Hammer, mit dem man viel Schaden anrichten kann, aber auch viel Gutes machen kann.

Was heißt das konkret? Sollte Österreich aus Ihrer Sicht der NATO beitreten?

Ich bin einem NATO-Beitritt nicht abgeneigt, halte ihn aber nicht für realistisch und auch nicht unbedingt für notwendig. Dagegen halte ich den Beitritt Finnlands für absolut vernünftig. Das Land ist für Russland ein Angstobjekt, ein Statussymbol als der Widersacher im hohen Norden. Diese Bedeutung hatte Österreich nie, weil wir nicht so nahe am Geschehen waren. 

Sie sind seit rund 25 Jahren im Radio-Geschäft tätig. Wie haben Sie den Kriegsbeginn in der Ukraine erlebt?

Wir haben einige Sender in Mittel- und Osteuropa und sind seit 2007 in der Ukraine. Nach Kriegsbeginn hat die ukrainische Regierung den Sendern ein Radioprogramm zur Verfügung gestellt, das fast alle übernommen haben, das aber nicht sehr prickelnd ist. Meine Mitarbeiter haben gesagt: Jetzt ist es wichtig, ein wirklich gutes Programm zu machen. Wir haben die Familien unserer Mitarbeiter aus der Ukraine herausgebracht und Radio gemacht. Wir sind nur einmal ausgefallen, als der Rundfunkturm in Kiew bombardiert wurde. 

Portrait von Karl Habsburg während eines Interviews über die Ukraine und die EU.
„Die Ukraine ist nur das erste Opfer“, ist Karl Habsburg überzeugt. © Stefan Fürtbauer