Ukrainer, die letzten Verteidiger Europas

31 Jahre der Unabhängigkeit, und Europa will immer noch nicht wahrhaben, dass die Ukraine zu Europa gehört. Warum? Aus Bequemlichkeit und Kalkül.

Ein ukrainisches Mädchen in den Armen ihrer Mutter während des Marsches der Verteidiger der Ukraine anlässlich des Unabhängigkeitstages in Kiew, 24. August 2020
Beim Marsch der Verteidiger der Ukraine anlässlich des Unabhängigkeitstages in Kiew im August 2020 waren auch die Jüngsten dabei. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Freiheitsliebe. Im Dezember 1991 fand in der Ukraine ein Referendum über die Unabhängigkeit von der Sowjetunion statt. 90 Prozent waren dafür.
  • Krieg. Heute kämpft die Ukraine um ihr Überleben – und verteidigt Tag für Tag ihre Zugehörigkeit zu Europa, die europäischen Werte und die freie Welt.
  • Doppelmoral. Doch die anfängliche Solidarität des Westens mit der Ukraine schwindet. Besonders die hohen Preise lassen alte Denkmuster zurückkehren.
  • Westlicher Blick. Aber: Der liberale Tenor der Ukraine ist kein neues Phänomen, und das Land kein kleines Russland. Die Ukraine war schon immer europäisch.

Der 24. August ist der Unabhängigkeitstag der Ukraine. Im Jahr 2022 symbolisiert er 31 Jahre dynamischer Entwicklung, politischer Kehrtwendungen, schrittweiser Demokratisierung – und Krieg. Der Staat hat sich von einer tragenden Säule der Sowjetunion zu einem Vorkämpfer der liberalen Welt entwickelt, sich gleichzeitig aber auch von einem vielversprechenden Powerhouse Europas – so die Prognose der Deutschen Bank Anfang der 1990er Jahre – zu einem der wirtschaftlichen Nachzügler des Kontinents entwickelt.

Schließlich verließ die Ukraine 2014 den Kreis der „Bruderstaaten“ Russlands und schloss sich der europäischen „Staatenfamilie“ an. Der Beitritt zu letzterer wurde nicht nur zu einem nationalen und lebenswichtigen Interesse des Staates, sondern auch zur innenpolitischen Legitimitätsquelle von rekordverdächtiger Zugkraft. Doch was bedeutet das eigentlich – „europäisch“ zu sein?

Was heißt schon „Europa“?

Ganz allgemein gesprochen ist „Europa“ ein Gedankengebilde. Die Grenzen Europas sind an die Grenzen unserer Vorstellungskraft gebunden, statt durch die kontinentale Geografie eingeschränkt zu sein. Haben Sie sich jemals gefragt, welche Stadt mehr europäisches Flair hat – das spanischsprachige, katholische Havanna in Kuba mit seinen engen Gassen und barocken Kathedralen, oder das postkommunistische Minsk in Belarus mit seiner monumentalen Architektur und seinen lächerlich breiten Alleen? Warum gehört Saint-Pierre und Miquelon, ein französisches Territorium an der Grenze zu Kanada, zur EU, während die Republik Moldau so hart darum kämpfen musste, in die EU aufgenommen zu werden?

Die Wissenschaft hat sich intensiv mit dem Wesen Europas beschäftigt. Zu einer allgemeingültigen Definition ist es dadurch nicht gekommen, doch drei Dimensionen tauchen immer wieder auf:

  • Die erste ist der Glaube an Europas Einzigartigkeit. Es ist die Überzeugung, dass „Europa“ ein zivilisatorischer Raum ist, der auf vier Pfeilern ruht: der griechischen Philosophie, der christlichen Moral, dem westfälischen Staatensystem und dem Humanismus der Aufklärung. Diese Dimension ordnet alle Staates des Kontinents, die dieses Erbe teilen, demselben Kulturraum zu.
  • Die zweite Dimension ist das Weltbürgertum. Aus dieser Perspektive ist „Europa“ ein Gebilde, das auf universellen demokratischen Werten und Menschenrechten beruht, die von den Staaten des Kontinents begründet, aber auch von ihnen verfochten werden. Daher bedeutet „europäisch“ zu sein, Geschichte, Gesetzgebung und politische Institutionen zu teilen und sich gleichzeitig für die Verbreitung und Unterstützung guter Regierungspraktiken weltweit verantwortlich zu fühlen.
  • Die dritte Komponente ist der Transatlantismus. Um „europäisch“ zu sein, sollte ein Staat Mitglied in westlichen Institutionen (zum Beispiel die EU, NATO, OSZE, Europarat) sein und somit gemeinsamen Mechanismen zur Verteidigung des Wohlstands unterliegen. Diese Dimension wird durch den Wunsch nach Anerkennung und Macht genährt, der nur durch einen gemeinsamen institutionellen Rahmen verwirklicht werden kann.

Eine weitere Definition ist die von Gerard Delanty, der behauptet, dass man „Europa“ von außen betrachten muss, um es zu definieren: Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Staaten des Kontinents werden in den Augen des Betrachters, der die „andere“ Kultur repräsentiert, deutlicher. George Steiner hingegen stellt fest, dass „Europa“ das Ergebnis spezieller menschlicher Verhaltensweisen ist: die Freude an Diskussionen in Kaffeehäusern, die neue Ideen hervorbringen, und die Gewohnheit, zwischen benachbarten Städten zu reisen, um diese Ideen zu verbreiten. Kein anderer Ort auf der Welt kann diese Verhaltensweisen so unterstützen wie „Europa“.

Der Westen verkennt die Ukraine – willentlich

Historisch gesehen wurde die Ukraine außerhalb dieser „europäischen Familie“ platziert – weil sie nur durch westliche Augen präsentiert wurde. Der Historiker Larry Wolf erklärt dieses Phänomen als „philosophische Geographie“: eine jahrhundertalte Tradition Westeuropas, Staaten im Osten (und östlich) des Kontinents in der eigenen Vorstellungskraft zu „erfinden“, statt sie tatsächlich zu „erkunden“.

In den Zeiten des Kalten Krieges war es für die westeuropäischen Staaten üblich, der Ukraine und ihren Nachbarn eine Reihe angeblicher Eigenschaften zuzuordnen, die oft geopolitisch oder ideologisch gefärbt waren. Je mehr die Ukraine und ihre Nachbarn auf diese Weise „imaginiert“ wurden, desto weniger entsprachen sie ihrem wahren Wesen. Wolff selbst schrieb von der „philosophischen Geographie“ als einem „Freizeitsport“ der freien Welt: „Es war eigentlich nicht nötig, nach Osteuropa zu reisen, um an seiner intellektuellen Entdeckung teilzunehmen.“

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Zahlen & Fakten

Wandgemälde des ukrainischen Schriftstellers Taras Schwetschenko in Brovary im Norden der Ukraine
Ein Wandgemälde des ukrainischen Schriftstellers Taras Schewtschenko in Browary im Norden der Ukraine. © Getty Images

Das ist die Ukraine: 7 bekannte Stimmen

  • Nikolaj Gogol (1809-1852): Schriftsteller von Romanen, Kurzgeschichten und Theaterstücken sowie Sammler ukrainischer Folklore. Seine Werke vereinen Elemente der Groteske und der Phantastik mit ukrainischem Lokalkolorit, etwa in Abende auf dem Vorwerke bei Dikanjka und Taras Bulba.
  • Taras Schewtschenko (1814-1861): Dichter, Schriftsteller, Künstler und Ethnograph. Seine Werke waren zunächst der ukrainischen Romantik zuzuordnen, wurden aber schnell politisch und thematisierten die Unterdrückung der Ukraine durch Russland.
  • Lesja Ukrajinka (1871-1913): Schriftstellerin, Dichterin und Dramatikerin; außerdem Feministin, Bürgerrechtlerin und anti-koloniale Vordenkerin. Sie ist auf der ukrainischen 200-Hrywnja-Note abgebildet.
  • Mykola Leontowytsch (1877-1921): Komponist und Chorleiter. Er komponierte das bekannte Weihnachtslied Carol of the Bells, im Original Schchedryk, das zum UNESCO-Weltkulturerbe hinzugefügt werden soll.
  • Oleksandr Archipenko (1887-1964): Avantgarde-Künstler, Bildhauer und Grafiker. Er war einer der ersten, der die Prinzipien des Kubismus auf Skulpturen anwandte und war einer der innovativsten Wegbereiter der modernen Kunst.
  • Kateryna Bilokur (1900-1961): Künstlerin, die für ihre Blumengemälde im Stil der naiven Kunst bekannt wurde. Sie genoss weder eine Schul- noch eine Kunstausbildung, erhielt aber die Auszeichnung „Volkskünstlerin der Ukraine“.
  • Oksana Sabuschko (1960-): Schriftstellerin, Dichterin und Essayistin. Sie adressiert schonungslos gesellschaftliche Tabus und gilt als eine der 100 einflussreichsten Personen der Ukraine.

Das Paradoxon dieser Vorstellungen lässt sich an den Ergebnissen der Jalta-Gespräche von 1945 ablesen. Die osteuropäischen Staaten wurden als Teil der Sowjetunion anerkannt, während die zentraleuropäischen Staaten zu deren Satelliten wurden. Gleichzeitig entging Griechenland einem ähnlichen Schicksal, nicht zuletzt, weil Winston Churchill es als Wiege der europäischen Zivilisation und als Land „unsterblicher Herrlichkeit“ bezeichnete. Obwohl Griechenland ein Balkanstaat ist und an Rumänien und Bulgarien grenzt, wurde es in der westeuropäischen – und insbesondere in der britischen – Vorstellung als nicht zur regionalen Geographie gehörend dargestellt.

Schon viel früher, im Jahr 1820, stellte Fürst Klemens von Metternich auf philosophische Weise fest, dass Asien „am Ende der Landstraße“ – also am östlichen Stadtrand von Wien – beginne. Heute, zwei Jahrhunderte später, ist diese Aussage für viele Österreicherinnen und Österreicher noch immer von Bedeutung. In den Köpfen vieler ist Paris näher an Wien als das ukrainische Lwiw (obwohl die Entfernung nach Paris doppelt so groß ist), und liegen Krakau und Budapest näher an Moskau als an Berlin.

Churchill, Roosevelt und Stalin bei der Konferenz von Jalta 1945
Bei der Konferenz von Jalta 1945 wurde die Zukunft Europas durch die alliierten Staatschefs neugeordnet. © Getty Images

Gleichzeitig übersehen die westeuropäischen Staaten die Rolle der Ukraine in der Geschichte des Kontinents. So wird Jaroslaw der Weise, der Fürst von Kiew, in der Ukraine durchaus als Schwiegervater Europas gesehen: Seine Töchter waren mit den Königen Harald III. von Norwegen, Heinrich I. von Frankreich und Andreas I. von Ungarn verheiratet. Seine Söhne heirateten Töchter und Enkelinnen der Kaiser von Byzanz und des Heiligen Römischen Reiches sowie der Könige von Polen. Heute sind die Geschichte der Ukraine und die des Kontinents nicht zuletzt deshalb voneinander getrennt, weil das westeuropäisch geprägte Bild der Ukraine die ukrainischen Vorstellungen von „Europa“ weder kennt noch anerkennt.

Die Ukraine zwischen den Fronten

Die Sichtweise der „philosophischen Geographie“ führt zu einer zwiespältigen Wahrnehmung der heutigen Ukraine. Einerseits wollen die westeuropäischen Staaten sie weiterhin bequem als Teil der russischen Einflusssphäre sehen. Andererseits sind die innenpolitischen Prozesse in der Ukraine in ihrem Kern zutiefst demokratisch, was zu Krisen und Widerstand gegen die zentralistische russische Tradition führt, auf die das übrige Europa reagieren muss.

In den letzten Jahrzehnten hat sich ein vermeintliches Win-Win-Szenario herausgebildet: Russland wahrte die Stabilität in der Ukraine, während die westeuropäischen Staaten politisch auf Distanz blieben. Das war für Russland und den Westen optimal, nicht jedoch für die Ukrainer.

Westeuropa strebte danach, die Ukraine in den Freundeskreis der EU einzubinden – aber nicht in ihren Familienkreis.

Russland als selbsternannter Nachfolger der Sowjetunion entwickelte sich nach und nach zu einer neo-imperialen und revanchistischen Macht. Nach Ansicht des russischen Politikwissenschaftlers Igor Gretskiy folgt Russlands heutige Außenpolitik „zwei grundlegenden Elementen der Breschnew-Doktrin: dem Konzept der begrenzten Souveränität von Russlands Nachbarstaaten, und dem Recht, innerhalb dieser russischen ‚Einflusssphäre‘ zu intervenieren“. Gretskiy bezeichnet diese Strategie als Lukjanow-Doktrin, die renommierte Russland- und Außenpolitikexpertin Angela Stent nennt sie die Putin-Doktrin.

Durch diese Außenpolitik wurden die politischen Präferenzen und nationalen Interessen der Ukrainer zur Nebensache. Umgekehrt strebte Westeuropa danach, die Ukraine in den „Freundeskreis“ der EU einzubinden – wohlgemerkt aber nicht in deren „Familienkreis“. Brüssel und andere Regierungen wollten die Ukraine zu einem berechenbaren und vertrauenswürdigen Vermittler zwischen Europas Kern und Russland machen, ohne jedoch eine Mitgliedschaft in der EU für das Land anzuvisieren. Stattdessen wurde die Bedeutung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten betont, um die eigene Soft Power und die eigenen wirtschaftlichen Interessen auf die Ukraine als „neutralen Staat“ zu projizieren.

Europas alte Fehler

Letztendlich haben sowohl Russland als auch Westeuropa die Ukraine wieder einmal mehr erdacht als erforscht. Die vergangenen drei Jahrzehnte der souveränen Existenz des Staates zeigen die Irrelevanz dieser Vorstellungen: Mit jedem neuen Jahrzehnt wurde die Ukraine zu einem demokratischeren, wohlhabenderen, transparenteren und besser regierten Staat, als es die vorsichtige Projektion der EU für möglich hielt.

Ukrainische Flagge weht vor dem Unabhängigkeits-Denkmal der Ukraine in Kiew
Das Unabhängigkeitsmonument der Ukraine auf dem Maidan Nesaleschnosti in Kiew ist im Stil des ukrainischen Barocks gehalten und vereint slawische Mythologie mit ukrainischer Tracht. © Getty Images

Gleichzeitig führte der Euromaidan 2014 dazu, dass Russland sich ob der wachsenden Präsenz von westlichen Werten in der Zone seiner „privilegierten Interessen“ und seiner Unfähigkeit, der Ukraine das eigene, zentralisierte Regierungsmodell aufzuzwingen, „beleidigt“ und „bedroht“ fühlte. Aus Sicht des Kremls haben die Ukrainer ihre nationale Tatkraft „unerwartet“ unter Beweis gestellt – genau wie ihren Unwillen, sich weiter vom Kreml überwachen zu lassen, und ihren Wunsch, sich der freien Welt anzuschließen.

Der Platz der Ukraine ist in Europa

Es war noch nie einfach, zu Verwandten zurückzukehren, die diesen Besuch nicht erwarten. Das ist das Dilemma der heutigen Ukraine: Auf der einen Seite beweist der Staat beharrlich seinen demokratischen Geist und verteidigt die westlichen Werte mit Schweiß, Blut und Tränen. Auf der anderen Seite werden die westeuropäischen Nationen ihrer anfänglichen Unterstützung müde und wanken zurück zu alten Vorstellungen von der Ukraine als nicht-europäischem Staat – sei es, um Schuldgefühle zu lindern, sich von der Verantwortung für die Verteidigung und den Wiederaufbau des Landes zu befreien, oder um weiterhin der bequemen Illusion anzuhängen, Russland könne der ultimative Problemlöser für Osteuropa bleiben.

Statue von Taras Schewtschenko in Charkiw, in Sandsäcke gehüllt
März 2022 in Charkiw: Eine Statue des Nationaldichters Taras Schewtschenko wurde in Sandsäcke gehüllt. Die Ukrainer kämpfen nicht nur für ihre Unabhängigkeit, sondern auch für die Bewahrung ihres kulturellen Erbes. © Getty Images

Dennoch beschreitet die Ukraine ihren Weg beharrlich weiter, um ihren rechtmäßigen Platz in der europäischen „Staatenfamilie“ einzunehmen. Sie erfüllt alle Voraussetzungen, um dort aufgenommen zu werden:

  • Aus dem Blickwinkel des europäischen Exzeptionalismus betrachtet, haben sich die Institutionen und die Demokratie der Ukraine immer an der aristotelischen Philosophie der politischen Organisation orientiert. Das ukrainische Bildungssystem entwickelte sich auf der Grundlage der antiken Trivium- und Quadrivium-Fächer (so etwa der Lehrplan der 1615 gegründeten Kiewer Mohyla-Akademie). Die Ukraine versuchte auch, eigene Staatsbildungsprojekte umzusetzen, war jedoch kein Vertragspartner des Westfälischen Friedens, da es von seinen mächtigeren imperialen Nachbarn – den Polen, Osmanen und Moskowitern – überstimmt wurde.
  • Seit 998 ist die Ukraine christlich, überwiegend orthodox, aber vergleichsweise tolerant gegenüber anderen Religionen; auf ihrem Territorium gab es nur wenige Religionskriege. Im Gegensatz zum Russischen Reich erlebte die Ukraine ihre eigene Aufklärung, die zur Herausbildung eigener Philosophien, Regierungssysteme, Architektur und Kunst führte.
  • Betrachtet man die Ukraine aus der Perspektive des Weltbürgertums, so kann die Ukraine auf eine lange Geschichte des Kampfes für individuelle Freiheiten seit dem Mittelalter zurückblicken. Die Traditionen der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit haben viele Aktivisten dazu ermutigt, sich gegen die Missstände in der Sowjetunion auszusprechen. Außerdem waren die Ukrainer eine der ersten Nationen der Welt, die ihre eigene Verfassung schufen.
  • Die transatlantische Dimension von Europa gilt auch für die Ukraine, da sie Mitglied des Europarats und der OSZE ist. Sie nimmt regelmäßig an den UN-Friedensmissionen teil und unterstützt das Völkerrecht. In ihrer Verfassung hat sie klar zum Ausdruck gebracht, dass die Mitgliedschaft in der NATO und der EU ihre nationalen Prioritäten bleiben. Mit einem Wort: Die Ukraine ist bereits ein wichtiger Teil der transatlantischen Welt, hat sich deren Standards zu eigen gemacht und zu deren Wohlstand und Sicherheit beigetragen.
  • Nicht zuletzt ähnelt die Ukraine, wenn man sie von außen betrachtet, in ihrer Stimmung und ihrem Lebensstil vielen zentraleuropäischen Nachbarstaaten, die erfolgreich der EU beigetreten sind. In den Augen des unvoreingenommenen Betrachters wirkt die Ukraine stärker „europäisch“ als „außereuropäisch“. Die Ukraine teilt die Kultur der Kurzreisen und der Kaffeehäuser; tatsächlich hat die Bewunderung für Kaffee mythischen Status erhalten und bildet sogar einen Teil der nationalen Identität.

Der andauernde Krieg in der Ukraine definiert das Bild des Staates in Europa ebenso neu wie das Bild von Europa an sich. Das Ergebnis dieses Prozesses steht noch aus, aber es wird nicht nur von Politikern entschieden werden, sondern auch von den alltäglichen Türhütern „Europas“: seinen Bürgern. Wir sollten uns darum bemühen, die Ukraine so zu sehen, wie sie ist – und anerkennen, dass sie bereits vor Jahrhunderten den Weg nach Europa eingeschlagen hat.

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Conclusio

Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie uneins sich Europa über die Zugehörigkeit des Landes ist: Gehört die Ukraine zum Westen oder zu Russland? Zu oft werden bei der Beantwortung dieser Frage ukrainische Stimmen ignoriert und historische Entwicklungen außer Acht gelassen, etwa wenn es um die Fortschritte in der Demokratisierung seit 1991 geht, aber auch in Bezug auf das historische Erbe der Ukrainer. Die politische Kultur des Landes hat sich schon immer maßgeblich von der Russlands unterschieden. Die Ukraine als bloße Fortsetzung Russlands zu sehen, die vermeintlich nichts mit Europa gemeinsam hat und deshalb nicht verteidigt werden muss, mag eine bequeme Lösung sein, ist aber auch sträflich nachlässig und spielt Putins Rhetorik in die Hände. Es ist an der Zeit, dass sich der Westen mit östlichen Ländern so auseinandersetzt, wie sie sind – und sie nicht nur als Produkte seiner eigenen Vorstellungskraft wahrnimmt.