Wie die Ukraine zu Frieden finden kann

Die Ukraine muss nicht als Verlierer aus diesem Krieg hervorgehen. Kiew wird aber nicht alles bekommen, was es will. Die Frage ist, zu welchen Zugeständnissen das Land bereit ist.

Ein zerstörtes Klassenzimmer in der Ukraine
Der Traum von Frieden: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hinterlässt weite Teile des Landes in Schutt und Asche, wie hier ein Klassenzimmer in Kramatorsk im Juli 2022. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Kein Ende in Sicht. Während der Krieg in der Ukraine in den sechsten Monat geht, setzt der Westen weiterhin auf Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Russland.
  • Zukunft ohne Besatzer. Mindestvoraussetzung für einen Frieden sollte eine unabhängige Ukraine sein – ein souveräner Staat, frei von Fremdbestimmung.
  • Neustart als Chance. Tatsächlich kann die Ukraine gestärkt aus diesem Krieg hervorgehen. Dazu müssen aber Sicherheit und Stabilität gewährleistet werden.
  • Klare Fronten. Russland hat bereits in der Vergangenheit Verträge gebrochen. Nach Ende des Krieges bedarf es einer Abschreckung gegen weitere Aggressionen.

Der Krieg in der Ukraine ist eine Feuertaufe für die Unabhängigkeit des Landes. Der Ausgang könnte die globale Sicherheit, den Frieden und die Freiheit im 21. Jahrhundert beeinflussen. Die UN-Abstimmung Anfang März, in der 141 von 193 Mitgliedsstaaten die russische Invasion verurteilten, zeigt, welche Fronten ein potenzieller Dritter Weltkrieg beinhalten könnte.

Unterdessen werden die westlichen Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegenüber Russland immer schärfer. Sanktionen sind jedoch bei weitem nicht allgemeingültig und wurden in der Vergangenheit immer wieder umgangen. Zudem weigern sich Brasilien, China, Indien und Südafrika, die gemeinsam mit Russland im Verbund der sogenannten BRICS-Staaten sind, an den Sanktionen teilzunehmen. Sie repräsentieren aber knapp 50 Prozent der Weltbevölkerung und 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung.

Abhängigkeit von Rohstoffen

Sanktionen sind kein Selbstzweck. Sie zielen darauf ab, Verhaltensweisen zu ändern. Doch dieses Ziel wird nur in den seltensten Fällen erreicht, und Wladimir Putin haben sie bislang nicht davon abgehalten, den Krieg fortzusetzen. Sanktionen sind aber auch eine offene Einladung für Schmuggler, Gauner und Strohmänner. Nationen, die Sanktionen verhängen, verursachen sich selbst schmerzhafte Einbußen. Im Laufe der Zeit können diese Kosten dazu führen, dass die Unterstützung für Sanktionen in der Bevölkerung schwindet.

Wirtschaftssanktionen führen nur selten zu einer Verhaltensänderung des betroffenen Landes.

Hinzu kommt: Russisches Erdöl und Erdgas – die immerhin 40 Prozent des Staatshaushalts des Kremls ausmachen – waren bis vor kurzem ganz von den europäischen Sanktionen ausgenommen. Auch das schrittweise eingeführte Ölimportverbot der Europäischen Union zielt nur auf den Seeweg ab und lässt Ausnahmen für Ölimporte in Länder wie Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei zu. Den Kauf von russischem Erdgas zu stoppen erweist sich noch schwieriger: Die einzige größere Sanktion war bislang Deutschlands Entscheidung, die Inbetriebnahme der Nord Stream 2 Pipeline zu stoppen. Unterdessen profitiert Russland von den derzeitigen hohen Öl- und Gaspreisen.

Der Rubel rollt (noch)

Der Rubel hat sich erholt, auch wenn er mit Devisenkontrollen gestützt werden musste. Bislang gibt es keine Engpässe bei der Versorgung der russischen Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern; Importe sind zwar eingebrochen, aber die Exporte erwirtschaften trotz geringerer Mengen enorme Überschüsse. Obwohl eine russische Zahlungsunfähigkeit bisher vermieden wurde, könnte sich Moskau bald in der kuriosen Lage befinden, dass es trotz seiner positiven Handelsbilanz internationale Kredite nicht zurückzahlen kann. Die Inflationsrate liegt mit knapp 16 Prozent weit über dem westeuropäischen Durchschnitt.

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Zahlen & Fakten

Die westlichen Länder sollten nicht nur über Waffenlieferungen debattieren, sondern auch über die eigenen Ziele: Was ist überhaupt unser strategisches Ziel in diesem Krieg? Welches sind die Mindestbedingungen, die wir für eine Beendigung der Kampfhandlungen für akzeptabel halten? Und wie können wir uns mit Kiew über diese Bedingungen verständigen?

Der Westen kann sich mit Russland nicht über den Kopf der Ukraine hinweg einigen. Ohne westliche Unterstützung droht dem Land jedoch der Zusammenbruch. Moskaus Streitkräfte haben es nicht geschafft, Kiew den Todesstoß zu versetzen, aber sie haben die Ukraine in einen Würgegriff genommen – und an Russland als Nachbar wird sich weder für Europa noch für die Ukraine etwas ändern. Will man verhindern, dass sich Kiew in Zukunft in einem permanenten Zustand der Bedrohung befindet, muss daher jedwede Friedensformel unter Beteiligung Kiews und Russlands ausgehandelt werden.

Das Ende des Schreckens

Die Lage in der Ukraine ist schwer. Das Bruttoinlandsprodukt des Landes ist seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 um fast 50 Prozent gesunken; unablässige russische Bombardierungen haben große Teile der ukrainischen Infrastruktur zerstört. 25 Prozent der Bevölkerung befinden sich auf der Flucht. Aufgrund der illegalen russischen Blockade der Häfen am Schwarzen und Asowschen Meer ist die landwirtschaftliche Basis der Ukraine, die schätzungsweise 400 Millionen Menschen auf der Welt ernährt, bedroht.

Die Wirtschaft der Ukraine erleidet momentan rund fünf Milliarden Dollar Verlust – pro Monat. Die Kriegsanstrengungen werden durch die finanzielle Unterstützung des Westens und eine hohe Kreditaufnahme aufrechterhalten. Die Ukrainer kämpfen um ihr Überleben, sind in der Mehrheit aber nicht zu territorialen Zugeständnissen an Russland bereit.

Wie könnte dieser Krieg enden, ohne dass Wladimir Putin als Sieger hervorgeht? Mindestvoraussetzung für einen Frieden muss eine lebensfähige, unabhängige Ukraine sein, die ihre Zukunft in Freiheit und Selbstbestimmung gestalten kann. Notwendig dafür sind die Hauptstadt Kiew und der Zugang zum Meer. Die restlichen Territorien des Landes könnten derweil Verhandlungsgegenstand werden – in unterschiedlichen Szenarien.

Szenario 1: Waffenstillstand

Beide Kriegsparteien einigen sich auf einen formellen Waffenstillstand – wohlwissend, dass provisorische Waffenstillstände oft Tatsachen schaffen, wie in Korea oder im Nahen Osten. Für die Ukraine wäre es ein schmerzhafter und riskanter Verlust, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, ohne alle besetzten Gebiete zurückerobert zu haben.

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Zahlen & Fakten

Würde sich Russland aus allen oder den meisten besetzten Gebieten zurückziehen, wäre dies zudem ein Eingeständnis, dass der Einmarsch in die Ukraine vergeblich war. Russland hat in drei Monaten mehr als 30.000 Soldaten verloren, während seine Gesamtverluste in zehn Jahren Afghanistan-Krieg 50.000 Soldaten betrugen.

Dieses Szenario ist unwahrscheinlich.

Szenario 2: Status quo

Die Ukraine könnte sich dazu bereit erklären, ihre jetzigen Grenzen zu akzeptieren – wodurch rund 20 Prozent ihres Territoriums in russischer Hand bleiben würden. Finnland entschied sich 1940, Karelien (das etwa zehn Prozent seines Territoriums ausmachte) an die Sowjetunion abzugeben, um den Rest des Landes zu retten. Das Problem: Russland hat bereits mehrfach die territoriale Integrität der Ukraine ignoriert. Im Budapester Memorandum von 1994 hatte der Kreml zugestimmt, die international anerkannten Grenzen der Ukraine zu respektieren, insofern Kiew sein Atomwaffenarsenal aufgibt. Russlands kriegstrunkene Propaganda bietet auch jetzt wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich der Kreml in Zukunft an vergleichbare Abmachungen halten würde.

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Zahlen & Fakten

Derzeit läuft die Ukraine Gefahr, entscheidende militärische Niederlagen zu erleiden. Wenn es den Truppen des Kremls gelingt, weitere wichtige Städte im Donbass wie Kramatorsk im Gebiet Donezk zu erobern, könnte Russland das Gebiet östlich einer Linie von Charkiw im Norden bis Cherson im Süden kontrollieren und möglicherweise annektieren. Schafft es Russland, alle seine Kräfte auf die südlichen Städte Odessa und Mykolajiw zu konzentrieren, könnte es einen Korridor entlang der Schwarzmeerküste errichten, der die Ukraine faktisch zu einem Binnenstaat macht und Russlands Schwarzmeerküste auf 600 Kilometer verdreifacht.

Dieses Szenario ist wahrscheinlich, sollte aber um jeden Preis vermieden werden, auch unter Einbeziehung der Partner der Ukraine.

Szenario 3: Status quo ante

Die Rückkehr zum Status quo vom 23. Februar 2022 ist nicht nur das bessere Szenario für die Ukraine, sondern sollte auch als moralischer und politischer Imperativ für den Westen gelten. Russland würde die Kontrolle über die Krim und die Teile des östlichen Donbass behalten, die bei der Invasion 2014 eingenommen wurden – etwa sieben Prozent des ukrainischen Territoriums.

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Zahlen & Fakten

Allerdings ist es fraglich, ob die Ukraine die bereits verlorenen Gebiete ihres Territoriums zurückerobern kann. Es würde eine Umstellung von defensiven auf offensive Operationen erfordern, die zu einem Grabenkrieg mit hohen Verlusten auf beiden Seiten führen könnte. Zwar könnte ein langer Zermürbungskrieg mit der Zeit einfach abklingen, was für die Ukraine günstig sein könnte. Voraussetzung dafür wäre jedoch die weitere Versorgung mit Ausrüstung und die Ausbildung von Soldaten.

Dieses Szenario ist derzeit weniger wahrscheinlich.

Szenario 4: Wiedervereinigte Ukraine

Das optimale Szenario für die Ukraine wäre eine Rückeroberung ihres gesamten Territoriums. Das würde die Krim und Donbass-Gebiete miteinschließen, die 2014 an Russland gefallen sind. Jedoch würde das einen langwierigen Krieg bedeuten. Zudem müsste die fast 2.000 Kilometer lange russisch-ukrainische Grenze auf Dauer stark befestigt und überwacht werden.

Ein ukrainischer Soldat legt Blumen am Denkmal zu Ehren der ukrainischen Luftwaffe in Winnyzja ab, Juli 2022
Ein ukrainischer Soldat legt Blumen am Denkmal zu Ehren der ukrainischen Luftwaffe in Winnyzja ab, Juli 2022. © Getty Images

Eine weitere Komplikation wäre, dass eine militärische Rückeroberung der Krim als Angriff auf Russland gewertet werden könnte. Die Halbinsel ist für den Kreml als Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte von enormer strategischer Bedeutung. Sollte Präsident Putin zur Aufgabe der illegal annektierten Halbinsel gedrängt werden, könnte er zu allen militärischen Mitteln greifen, einschließlich Atomwaffen. Das gleiche Risiko besteht für andere ukrainische Gebiete, die Russland besetzt hält.

Dieses Szenario ist sehr unwahrscheinlich.

Szenario 5: Russischer Rückzug

Solange Putin Präsident bleibt, ist ein russischer Rückzug und der Abschluss eines Friedensvertrags nicht denkbar. Er würde eine Umkehrung der anti-ukrainischen und anti-westlichen Propaganda und ein Ende der Verherrlichung der militärischen Vergangenheit Russlands erfordern. Er würde das Eingeständnis eines Fehlers und eines Verbrechens bedeuten. Es würde eine radikale Neuschreibung der russischen Geschichte erfordern. Ein Friedensvertrag könnte nur mit einer neuen russischen Regierung möglich sein, aber einer, die gegen Putin ist. Im Moment ist eine solche Möglichkeit nicht in Sicht.

Dieses Szenario ist äußerst unwahrscheinlich.

Frieden, aber wie?

Eines steht fest: Jeder Ausgang des Krieges muss die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine gewährleisten, einschließlich des Schutzes der Sicherheit nach dem Krieg. Die derzeitige russische Regierung hat gezeigt, dass sie rechtliche Verpflichtungen willkürlich außer Acht lässt. Das Konzept der Interessenkonvergenz durch gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit ist diskreditiert worden. Die deutsche Maxime „Wandel durch Handel“ war ein mutiger Drahtseilakt – nur leider ohne Netz.

Angesichts der vorsätzlichen russischen Gräueltaten und der kolossalen Verwüstungen erfordert die Beendigung der Feindseligkeiten eine starke Abschreckung gegen jede neue Aggression. Das wiederum setzt eine massive Militarisierung der Ukraine voraus. Möglicherweise muss sie auf die formale NATO-Mitgliedschaft verzichten. Aber informell wird die Ukraine Teil der westeuropäischen Verteidigungsparameter bleiben, unterstützt durch eine massive US-Präsenz.

Die Herausforderung besteht darin, eine „rote Linie“ zu ziehen, denn entlang dieser Linie wird ein neuer Eiserner Vorhang fallen. Die Ukraine wird dem Deutschland der Nachkriegszeit ähneln: ein geteiltes Land, hoch militarisiert, mit einer undurchlässigen Grenze und zwei gegensätzlichen Konzepten zur staatlichen Entwicklung in offener Konfrontation.

Chancen für die Nachkriegszeit

Ein Hoffnungsschimmer: Nach dem Krieg kann die Ukraine die Chance ergreifen, sich zu einer stärkeren und widerstandsfähigeren Nation zu entwickeln. Die veraltete sowjetische Infrastruktur könnte durch eine moderne Infrastruktur ersetzt werden; es könnte ein selbstbewusstes und gemeinschaftsorientiertes Land entstehen, das Korruption eindämmt, systemische Reformen durchführt und den Einfluss der Oligarchen verringert.

Die Ukraine könnte ein Wirtschaftswunder erleben, wenn der Rest der Welt einen ehrgeizigen Wiederaufbauprozess unterstützt, ähnlich des Marshallplans nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser setzte jedoch Sicherheit und Stabilität in den Empfängerländern voraus – und um diese Vorhersehbarkeit zu erreichen, muss die Ukraine über eine ausreichend starke militärische Präsenz verfügen, die effektiv weitere Aggressionen aus Moskau abwehren kann. Es liegt auch in der Hand des Westens, dieses Szenario zu ermöglichen.

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Conclusio

Sechs Monate Krieg in der Ukraine – und die Verluste sind erschütternd. Bei russischen Angriffen sind bereits zehntausende Menschen ums Leben gekommen, Russland hat ukrainisches Eigentum und ukrainische Infrastruktur im Wert von Hunderten Milliarden Dollar zerstört. Sanktionen gegen den Aggressor verfehlen bislang ihre Wirkung, wodurch alternative Szenarien zur Beendigung des Krieges in den Vordergrund rücken. Ein Frieden ist nicht unmöglich, muss jedoch als Mindestbedingung die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine sicherstellen. Dauerhafte Gebietsverluste sind aus diesem Szenario nicht auszuschließen, auch wenn der Großteil der ukrainischen Bevölkerung bislang noch nicht zu einem solchen Schritt bereit ist. Letztlich liegt die Entscheidung jedoch bei Kiew, welche Friedensbedingungen akzeptabel sind. Der Westen sollte die Ukraine bei der Erreichung ihrer Ziele unterstützen – und bereits jetzt Pläne entwerfen, wie das Land nach Kriegsende militärisch und finanziell stabilisiert und gesichert werden kann.