Schattenwirtschaft als Sozialstütze

Die türkische Wirtschaft leidet unter hoher Inflation und dem starken Fall der Landeswährung Lira. Eine adäquate Geldpolitik wird von President Erdogan konterkariert. Im informellen Sektor finden Türken noch Perspektiven, die ihnen der Staat genommen hat.

Ein Antiquitätenbazar in Istanbul
Ein wachsender Teil der türkischen Wirtschaft geht in den Untergrund, um dem staatlich ausgelösten Chaos zu entfliehen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Abhängigkeit. Die türkische Wirtschaft wurde seit Ende der 1990er-Jahre abhängiger von ausländischen Investoren, die hohes Wachstum förderten.
  • Störfaktor. Als sich die Regierung gegen die Zentralbank stellte, gerieten die Märkte in Panik, die Lira brach ein und die Inflation geriet außer Kontrolle.
  • Ausweichmanöver. Inzwischen floriert die Schattenwirtschaft und der informelle Sektor; sie sind wie ein soziales Ablassventil in turbulenten Zeiten.
  • Startlöcher. Der private Sektor hat gelernt, die politischen Turbulenzen zu überdauern. Unternehmen und Banken sind bereit, durchzustarten.

Bei der Türkei lohnt sich zunächst ein Blick zurück: Zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit politische Instabilität und ein gescheiterter Versuch, die chronisch hohe Inflation zu zähmen, zu einem Zusammenbruch der Währung und einer Bankenkrise führten. Dank einer gut koordinierten Reaktion der türkischen Zentralbank (CBT), des Finanzministeriums und des Internationalen Währungsfonds (IWF) war der Schmerz jedoch nur von relativ kurzer Dauer und ermöglichte Reformen, die die Türkei auf einen florierenden Wachstumspfad führten.

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Ende der 1990er-Jahre war der türkische Finanzsektor anfälliger geworden. Der Bankensektor wandelte sich zur Hauptfinanzierungsquelle des Staates und überschwemmte das System zunehmend mit Staatsanleihen. Dies hatte zur Folge, dass die Erträge der Geschäftsbanken in hohem Maße von den Schwankungen der Staatspapiere abhängig wurden. Das System wurde immer abhängiger von ausländischer Finanzierung. Ein fragiles System war extrem anfällig für Kapitalabflüsse geworden.

Bei dem Versuch, die Währung zu verteidigen, hatte die türkische Zentralbank Ende 2000 ohne Erfolge zu erzielen 20 Prozent ihrer Reserven aufgebraucht. Als sich die Lage immer weiter verschlechterte, wurde eine Liquiditätskrise ausgelöst, und die Tagesgeldzinsen stiegen auf 873 Prozent. Der IWF sprang mit einem Darlehen in Höhe von 10,5 Milliarden Dollar ein, und vorübergehend wurde ein gewisses Maß an Stabilität wiederhergestellt.

Innerhalb weniger Monate führten politische Auseinandersetzungen zu einem spekulativen Angriff auf die Währung, und die Tagesgeldsätze stiegen um das 160-fache auf 8.000 Prozent. Die Aufrechterhaltung der Bindung an ausländische Währungen wurde unhaltbar und führte zur deren Aufgabe. Ein Drittel des Wertes der Lira wurde vernichtet. 

Teure Rettung

Eine Kombination aus IWF- und CBT-Interventionen stabilisierte die Währung und senkte die Kreditkosten drastisch. Die türkische Wirtschaft erholte sich und wuchs im folgenden Jahr um 5,7 Prozent. Die Rettung der Banken war extrem teuer und kostete den türkischen Staat umgerechnet 30 Prozent des BIP. Zu einem Staatsbankrott kam es nicht, da die Anleihen umstrukturiert und in den nächsten Jahren zurückgezahlt wurden. Später im Jahr gewannen Recep Tayyip Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Parlamentswahlen. 

Der Aufschwung war schnell und nachhaltig. Die Ankerprogramme des IWF, eine straffe Finanz- und Geldpolitik, Strukturreformen, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und eine vernünftige Bankenaufsicht trieben das robuste Wirtschaftswachstum der Türkei voran. Die Wirtschaft wuchs um 6,8 Prozent pro Jahr, bis die globale Finanzkrise 2008 ausbrach.

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Zahlen & Fakten

Das starke Wirtschaftswachstum setzte sich nach der globalen Finanzkrise fort, aber die Türkei hatte ihre strukturellen Ungleichgewichte nicht beseitigt. Zu diesen Ungleichgewichten gehören anhaltend hohe Leistungsbilanzdefizite und ein zunehmender Bedarf an Auslandskrediten (aufgrund der geringen inländischen Ersparnisse).

Der stellvertretende Ministerpräsident Ali Babacan war von 2002 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Kabinett im Jahr 2015 für Wirtschaftsfragen zuständig. Er wurde von Mehmet Simsek, der von 2009 bis 2015 Finanzminister war, tatkräftig unterstützt. Simsek wurde dann stellvertretender Ministerpräsident und war bis zu seinem Ausscheiden aus der Regierung im Jahr 2018 für Wirtschaftsfragen zuständig. Die beiden koordinierten in diesen Jahren geschickt die makroökonomische und finanzpolitische Politik der Regierung. Sie bildeten ein wirksames Gegengewicht zu Herrn Erdogans Vorliebe für kreditfinanziertes Wachstum – eine Politik, die die erwähnten strukturellen Ungleichgewichte verschärfte.

Babacan und Simsek unterstützten nicht Erdogans Behauptung, dass hohe Zinssätze eine hohe Inflation verursachen. Auch die Ansicht, dass die Türkei von einer schattenhaften internationalen Kabale, der so genannten „Zinslobby“, als Geisel gehalten wird, wurde zurückgewiesen. Seit ihrem Abgang hat die türkische Lira mehr als 70 Prozent ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren. Damit begann auch eine Ära der ständigen Einmischung in den Entscheidungsprozess der CBT. Die Geldpolitik wurde zunehmend unberechenbar und willkürlich. Seit 2015 hat es vier schwere „Währungsschocks“ gegeben, und wir befinden uns derzeit in einem solchen.

Druck auf Zentrakbank

Im Rahmen einer Kabinettsumbildung im Jahr 2018 ernannte Erdogan seinen Schwiegersohn Berat Albayrak zum kombinierten Finanz- und Schatzminister. Ein Schritt, der von den Märkten nicht positiv aufgenommen wurde. Die Inflation in der Türkei erreichte Anfang 2018 ein Jahrzehnthoch und die Lira schwächte sich rapide ab. Ungeachtet des politischen Drucks begann Gouverneur Murat Cetinkaya im April verspätet mit der Anhebung der Zinssätze. In den folgenden sechs Monaten wurden die Zinssätze von acht Prozent auf 24 Prozent angehoben.

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Zahlen & Fakten

Die Lira stabilisierte sich, allerdings zu einem immensen Preis für die Wirtschaft, und die privaten Ersparnisse wurden vernichtet. Leider war dies noch nicht das Ende, denn Cetinkaya wurde im Juli 2019 durch den geschmeidigen Murat Uysal ersetzt. Der neue Gouverneur begann bereits eine Woche nach seinem Amtsantritt mit einer Zinssenkungsrunde. Im Laufe des nächsten Jahres senkte er die Zinssätze auf 8,25 Prozent, während gleichzeitig die Währung immer schwächer wurde.

Bei dem Versuch, die Lira zu verteidigen, verbrannte die CBT ihre Reserven. Im Herbst sah sich die Zentralbank gezwungen, die Zinsen aggressiv zu erhöhen, um den Verfall der Währung aufzuhalten. Leider mit wenig Erfolg, denn der Markt hatte das Vertrauen in Albayraks und Uysals Führung verloren.

Märkte verunsichert

Unter großem Druck war Erdogan gezwungen, sie zu ersetzen. Naci Agbal, ein fähiger ehemaliger Finanzminister und Simseks Nachfolger, wurde zum Gouverneur ernannt. Er machte sich sofort daran, die Glaubwürdigkeit der Bank wiederherzustellen, hob die Zinssätze auf 19 Prozent an und sorgte dafür, dass die Lira wieder anstieg.

Lütfi Elvan wurde als Finanzminister eingesetzt und galt als solide Wahl für dieses Amt. In den folgenden Monaten herrschte Stabilität. Als das Vertrauen wiederhergestellt war, entließ Erdogan aus Gründen, die er selbst am besten kennt, Agbal an einem Freitagabend im März 2021 kurzerhand. Der Markt nahm die Nachricht schlecht auf, und die Währung fiel am Montagmorgen um 15 Prozent. Es ist verständlich, dass sein Nachfolger kein Vertrauen einflößt. Ohne bedeutenden politischen Wandel scheint es unwahrscheinlich, dass die Türkei die Aufmerksamkeit der Investoren auf sich ziehen wird. Zu viele sind schon zu oft verbrannt worden. 

Ohne politischen Wandel scheint es unwahrscheinlich, dass die Türkei die Aufmerksamkeit der Investoren auf sich ziehen wird. Zu viele sind schon zu oft verbrannt worden. 

Die Einmischung in die Währungspolitik hat die Türkei in eine wenig beneidenswerte Lage gebracht: Zinssätze von 19 Prozent, eine Inflation von 19,25 Prozent und eine Währung, die in den letzten sechs Jahren 70 Prozent ihres Wertes verloren hat. Das ausländische Eigentum an türkischen Anleihen liegt bei fünf Prozent und an der Borsa Istanbul bei 42 Prozent (so hoch wie zuletzt 2004). Die Devisenreserven der CBT (einschließlich Swap-Vereinbarungen) schmolzen im September auf -28 Milliarden Dollar.

Vorhandene Stärken

Der Rettungsanker der Türkei ist ihr großer und tatkräftiger Privatsektor, der das Land ungeachtet der ständigen politischen Fehlentscheidungen weiter vorantreibt. Die Türkei verfügt über die flinksten Führungskräfte, die in der Lage sind, in diesem extrem volatilen Umfeld zu überleben und sogar zu gedeihen. Nehmen wir den Bankensektor als Beispiel: Trotz der enormen Schwankungen der Wechselkurse und Zinssätze waren weder Rettungsaktionen noch umfangreiche Kapitalerhöhungen erforderlich. Das Bankensystem ist nach wie vor gut kapitalisiert und profitabel, und man fragt sich, wie es einer europäischen Bank vor einem solchen makroökonomischen Hintergrund ergangen wäre.

Die Regierung hat sich im Großen und Ganzen wirtschaftsfreundlich verhalten und eine relativ strenge Haushaltsdisziplin durchgesetzt. Obwohl die Verschuldung der Türkei in den letzten Jahren gestiegen ist, bleibt sie mit 39,5 Prozent solide und wird von vielen anderen Ländern bewundert. Forschung und Entwicklung wurden durch Kredite und direkte Unterstützung gefördert.

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Zahlen & Fakten

Die aufblühende türkische Verteidigungsindustrie ist ein erfolgreiches Beispiel für öffentlich-private Partnerschaften, die von der Regierung gefördert wurden. In den letzten zwei Jahrzehnten ist der Bedarf der Türkei an Rüstungsimporten von 70 Prozent auf 30 Prozent gesunken. Aselsan hat sich zu einem führenden Entwickler von hochentwickelter Verteidigungselektronik entwickelt, und Baykar hat erfolgreich eine beeindruckende Palette unbemannter Luftfahrzeuge (UAVs) entwickelt. Diese Produkte haben ihren Wert in den jüngsten Konflikten unter Beweis gestellt. Obwohl die absolute Zahl der Ausfuhren von Verteidigungsgütern nach wie vor gering ist, nehmen sie zu.

Die Türkei trat 1995 in eine Zollunion mit der EU ein und ist der sechstgrößte Handelspartner der Europäischen Union. Die Exporte machen etwa 30 Prozent des türkischen BIP aus, wovon im Jahr 2020 41 Prozent für die Europäische Union bestimmt waren. Das größte Exportsegment ist die Automobilindustrie. An der Borsa Istanbul notierte Unternehmen wie Tofas und Ford Otosan sind erfolgreiche Partnerschaften mit Fiat beziehungsweise Ford, die bis in die 1970er-Jahre zurückreichen. Ford und Tofas haben nicht nur die Produktion ausgelagert, sondern übernehmen auch einen immer größeren Teil der Forschung und Entwicklung.

Der Rettungsanker der Türkei ist ihr großer und tatkräftiger Privatsektor, der das Land ungeachtet der ständigen politischen Fehlentscheidungen weiter vorantreibt.

Viele sind mit dem großen und vielfältigen Tourismussektor der Türkei vertraut und haben ihn ausprobiert. Er richtet sich nicht nur an europäische Strandbesucher und Liebhaber des kulturellen Erbes, sondern zunehmend auch an Besucher aus dem Nahen Osten. Im Jahr 2019 wurde ein Rekord von 45 Millionen Touristen in der Türkei verzeichnet. Leider wird erwartet, dass es einige Zeit dauern wird, bis sich die Branche von der Pandemie erholt. Die Tourismusbranche ist ein wichtiger Arbeitgeber für Saisonarbeiter und ein wichtiger Devisenbringer.

Verborgene Kräfte

Die Schattenwirtschaft der Türkei wird 29,6 Prozent des BIP geschätzt und liegt damit über dem europäischen Durchschnitt von 18 Prozent. Die robuste Schattenwirtschaft ist in erster Linie auf die strenge Arbeitsgesetzgebung und die hohen Sozialversicherungsbeiträge zurückzuführen. Unternehmen, die in der informellen Wirtschaft tätig sind, haben niedrigere Betriebskosten und können daher auch diejenigen beschäftigen, die nicht in der formellen Wirtschaft tätig sein können.

Dies kann als „soziales Ablassventil“ bezeichnet werden und verringert die Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Es ermöglicht den Wirtschaftsakteuren, miteinander zu interagieren und eine Wirtschaft zu schaffen, die sonst nicht existieren würde. Der Umfang der informellen Wirtschaft in der Türkei ist in den letzten Jahren ziemlich konstant geblieben und stellt einen wichtigen Stabilisierungsfaktor für die am wenigsten Wohlhabenden in der Türkei dar. Es wäre von Vorteil, wenn die wichtige Funktion der informellen Wirtschaft stärker gewürdigt würde.

Zwanzig Jahre nach Beginn der Betrachtung ist die türkische Wirtschaft deutlich größer, aber seit 2013 ist sie rückläufig. Die Wirtschaft hat sich rasch modernisiert und hat unter den richtigen Umständen noch viel mehr zu bieten. Das Bankensystem ist in einem viel besseren Zustand, die informelle Wirtschaft funktioniert weiterhin effizient und eine Reihe türkischer Unternehmen sind zu Weltmarktführern geworden. Das Vertrauen in die Lira ist jedoch infolge einer erratischen und kontraproduktiven Politik völlig zerstört. Die Türkei wird ihren Weg aus der derzeitigen Sackgasse finden, aber unter ihrem beträchtlichen Potenzial bleiben. Dies gilt so lange, bis die Unabhängigkeit der Zentralbank kategorisch wiederhergestellt ist. Der dynamische Privatsektor der Türkei wird dann wieder mit voller Kraft fahren können.

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Conclusio

Nach der globalen Finanzkrise wuchs die türkische Wirtschaft stark, hatte aber die strukturellen Ungleichgewichte nicht beseitigt. Präsident Erdogan verstärkte die Probleme, indem er sich in die Geldpolitik der Zentralbank einmischte. Die Folge sind Zinssätze von 19 Prozent, eine Inflation von fast 20 Prozent und eine Währung, die in den letzten sechs Jahren 70 Prozent ihres Wertes verloren hat. Der tatkräftige Privatsektor hat mehrere Standbeine, um die Krise zu wettern. Mitunter floriert die informelle Wirtschaft. Das ist nur ein schwacher Trost für die Bevölkerung. So lange, bis sich die Geld- und Währungspolitik nicht stabilisiert, bleibt der dynamische Privatsektor unter seinem Potenzial.