Ohne Wald keine Gesundheit

Bäume schützen uns vor Depressionen, Schizophrenie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wald ist gesund. Daher brauchen wir Wald auf Rezept und vor allem: Wald in der Stadt.

Das Foto eines Joggers der über einen Waldboden läuft
In der Natur zu laufen ist gesünder als im Fitnessstudio zu trainieren oder in der Stadt zu joggen. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Menschen brauchen den Wald. Wenn Wald und Bäume verschwinden, werden Menschen körperlich krank.
  • Wissenschaftlich belegt. Die Wirkung des Waldes auf die Gesundheit ist ein Forschungsgebiet der Ökomedizin.
  • Schutz für die Seele. Der Wald schützt nicht nur vor körperlichen Erkrankungen, sondern bewahrt uns auch vor psychischen Leiden.
  • Medizin der Zukunft. Im Sinne der Prävention und der Gesundheitsvorsorge könnte der Wald eine Schlüsselrolle für die zukünftige Medizin spielen.

Der Wald ist ein spezieller Naturraum und schlechthin der Inbegriff für unberührte Natur und Wildnis. Nicht nur in der deutschen Romantik wird der Wald als Gegenstück zur Zivilisation, als Ort der Erleuchtung oder Verirrung und als Metapher des Seins betrachtet: Gerade das 21. Jahrhundert mit seinem rapiden Städtewachstum und seinem überorganisierten Alltag in grauen geometrischen Formenwelten hat den Wald als Gegenkonzept zur urbanen Gesellschaft und als Projektionsfläche menschlicher Sehnsüchte wiederentdeckt. Der Wald verheißt Ruhe, Orientierung, Freiheit und Entschleunigung und soll unser aller Bedürfnis nach authentischem Naturerleben und Gesundheit erfüllen.

Mehr im Dossier Wald

Um diese Fragen zu beantworten, ist es zunächst wichtig, die Ausgangslage von Stadtbewohnern etwas genauer zu betrachten. Der Anteil der Stadtbevölkerung wächst weltweit. 1940 lebten 19 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, 2014 waren es bereits 54 Prozent und bis 2050 werden etwa 68 Prozent der Menschen in Städten leben. Die Urbanisierung führt zu einer zunehmenden Entfremdung von der natürlichen Umwelt, in der sich der Mensch über Jahrtausende entwickelt hat.

×

Zahlen & Fakten

Woran Stadtmenschen leiden

Den vielen Vorteilen des Stadtlebens – etwa einem besseren Zugang zu Arbeit, Gesundheitsversorgung, Bildung und Kultur – stehen eine Vielzahl sozialer Stressoren wie Lärm, Luftverschmutzung und eine hohe Bevölkerungsdichte gegenüber.

Die Stressoren der Stadt schlagen sich unter anderem in einem höheren Risiko für psychische Erkrankungen nieder: So haben Menschen in städtischen Populationen ein um 38 Prozent erhöhtes Risiko, affektive Störungen und ein um 21 Prozent erhöhtes Risiko, Angststörungen zu entwickeln. Die Depressionsrate ist in urbanen Gebieten um 40 Prozent höher und auch bipolare Störungen sowie Autismus treten in Städten häufiger auf. Insbesondere das Risiko für Schizophrenie ist bei Städtern massiv erhöht. So treten schizophrene Störungen bei Städtern um 130 Prozent (Frauen) beziehungsweise 190 Prozent (Männer) häufiger auf; jede dritte schizophrene Psychose kann mit dem Stadtleben in Verbindung gebracht werden.

×

Zahlen & Fakten

Mangel an Natur

Die Urbanisierung bewirkt zudem eine Veränderung des Lebensstils, die vor allem den Bereich der körperlichen Aktivität und Ernährung betrifft. So bewegen sich Städter signifikant weniger als Landbewohner. Gleichzeitig ist die Ernährung von Stadtbewohnern tendenziell reich an Kalorien, aber nährstoffarm, was im Zusammenspiel zu mehr Fettleibigkeit und, statistisch, zu kürzerer Lebenszeit in der Stadt führt. Auch das Wohlbefinden, die allgemeine Lebenszufriedenheit und das Glücksempfinden sind bei Menschen in dicht besiedelten urbanen Gebieten deutlich geringer ausgeprägt.

Die Urbanisierung führt zu einer zunehmenden Entfremdung von der natürlichen Umwelt.

Eine urbane Umgebung scheint für Menschen also einen sozialen Stressor und ein Umfeld für bewegungsarmen Lebensstil darzustellen, was psychische und physische Erkrankungen fördert. Der naturferne Alltag und seine negativen Auswirkungen führen zu neuen Krankheitsbildern, insbesondere bei Kindern. Krankheiten, die sich als „Nature-Deficit-Disorder“ beschreiben lassen. Umso wichtiger ist es, mittels Urban Green städtische Naturinseln zu schaffen, „Waldstädte“ wie die Smart Forest City von Stefano Boeri in Mexiko zu bauen und Städtern die gesundheitsfördernde Wirkung stadtnaher Wälder, zum Beispiel die des Wienerwalds, einfacher zugänglich zu machen.

Wenn Bäume verschwinden

Wie wichtig der Wald für uns Menschen ist, lässt sich daran ermessen, was passiert, wenn Bäume verschwinden: In Nordamerika verschwinden derzeit ganze Eschenwälder durch einen Bioinvasor, den Eschenprachtkäfer. Der eingeschleppte Käfer begann Anfang der 2000er-Jahre, sich durch die Rinde der nordamerikanischen Eschen zu fressen. Man rechnet damit, dass 99 Prozent aller Eschen in den nächsten Jahrzehnten verschwinden werden. Anhand des voranschreitenden Vernichtungsfeldzugs des Schädlings lässt sich wissenschaftlich nachvollziehen, was auf einer gesundheitlichen Ebene geschieht, wenn Bäume verschwinden: So konnte in einer wissenschaftlichen Untersuchung gezeigt werden, dass Frauen signifikant häufiger an Gefäßen, Herz und Lunge erkrankten und auch häufiger an den Erkrankungen starben, nachdem der Eschenwald verschwunden war.

Im Schutz des Waldes

Das Beispiel aus den USA führt uns deutlich vor Augen, wie bereits der Verlust von nur einer einzigen Baumart aus dem uns Umgebenden, dem sogenannten Exposom, die Gesundheit des Menschen massiv beeinflussen kann. Weil der Einfluss so groß ist, wird zu diesem Thema immer mehr publiziert, und die Forschung im Bereich der Ökomedizin ist seit einigen Jahren sehr aktiv, um die Zusammenhänge von Natur und menschlicher Gesundheit besser zu verstehen. Bisher weiß man: Bäume stellen offenbar einen unverzichtbaren Schutzfaktor für uns Menschen dar.

Bäume stellen einen unverzichtbaren Schutzfaktor für uns Menschen dar.

Ein wichtiger Punkt der Wirkung von Bäumen auf die menschliche Gesundheit ist ihr enormes Vermögen, über ihr Blatt- und Nadelwerk Feinstaub aus der Luft zu filtern. Besonders effizient vermag das unsere heimische Latsche oder Bergkiefer, die wegen ihrer Behaarung und ihrer Wachsschicht auf den Nadeln eine viel höhere Filterkapazität aufweist als zum Beispiel Platanen. Feinstaub und Luftverschmutzung sind in Europa mit einer höheren Inzidenz an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Lungenerkrankungen verbunden: Einwohner hochbelasteter Feinstaubgebiete sterben statistisch drei Lebensjahre früher. Dies macht deutlich, wie wichtig der Wald als Filter von Feinstaub, Ozon und Stickoxiden für uns Menschen ist. Nicht zuletzt deswegen entstehen in derartig belasteten Gebieten wegweisende Bauten wie Stefano Boeris „Bosco verticale“ – zwei bewaldete Hochhäuser in Mailand.

×

Zahlen & Fakten

Bewegung im Grünen

Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor des Naturraums Wald auf die Gesundheit ist der Kapazitätsaufbau, also die Entwicklung und Stärkung eigener Fähigkeiten durch körperliche Aktivität. Je näher wir am Grün leben, desto mehr Sport treiben wir. Und dieser Sport fördert unsere Gesundheit wesentlich mehr als Sport in geschlossenen Räumen. Wenn wir in freier Natur, beispielsweise im Wald, gehen oder laufen, ist die Gesundheitswirkung der Bewegung signifikant erhöht.

„Green Exercise“ wirkt stimmungsaufhellend, reduziert Stresssymptome und Stresshormone, und wir fühlen uns zudem nach „grüner“ körperlicher Aktivität im Wald weniger ermüdet als nach einem Training im Innenraum. Auch Sozialkontakte werden eher im Grünen gepflegt als in grauen Bereichen der Stadt. Und sowohl der zwischenmenschliche Kontakt wie auch die körperliche Aktivität schützen Herz und Kreislauf und sind damit die wichtigsten Maßnahmen der Allgemeinprävention in der Medizin.

Natur verringert Stress

Die populäre japanische Waldtherapie betont einen weiteren Effekt der Natur auf die menschliche Gesundheit: Bereits der Aufenthalt in einem Wald verringert Stress. Der Mensch ist evolutionär auf Bäume und Wald konditioniert. Wald war nicht nur Lebensraum, sondern auch Baumaterial, Brennholz, Schutz vor Tieren und Nahrungsreservoir. Die Entspannung, die wir in ressourcenreichen Naturräumen wie einem Wald empfinden, ist genetisch in uns eingeschrieben. Reduzieren sich Stress und der stressbedingte chronische Bluthochdruck, reduziert dies unser Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atherosklerose, Schlaganfall und Herzinfarkt.

Der Mensch ist evolutionär auf Bäume und Wald konditioniert.

Dem täglichen Naturkontakt in stadtnahen Wäldern kommt daher auch gesundheitsökonomisch eine besondere Rolle zu. Unsere Biophilie, die Liebe zum Lebendigen, geht sogar so weit, dass selbst die Betrachtung eines Baumes vor einem Krankenzimmer den Genesungsprozess nach einer Operation beschleunigen kann, wie der Wissenschaftler Roger Ulrich bei der Studie feststellen konnte, die in seine Stressreduktionstheorie feststellen konnte.

Wald als permanente Impfung

Eine der vielleicht spannendsten und in der Wissenschaft erst vor kurzem erkannte Wirkungsweise des Waldes auf unsere Gesundheit hat mit seinem reichhaltigen Mikrobiom – also die enorme Vielfalt an Bakterien und Pilzen, die sich in einem Wald befinden – zu tun: Dieses Mikrobiom des Waldes ist entscheidend für die natürliche Reifung des Immunsystems unserer Kinder. Die Vielfalt der Viren, Bakterien und Pilze stärkt unser Immunsystem, es bringt ihm bei, tolerant zu sein. Diese immunologische Toleranz ist genau das, was einem durch das Stadtleben geformten Immunsystem fehlt. Es ist zu wenig verschiedenen Mikroorganismen ausgesetzt. Die Folge sind Überreaktionen, die sich etwa als chronische Entzündungen äußern können.

Es wird derzeit intensiv daran geforscht, wie chronische Entzündungserkrankungen – zum Beispiel Allergien, Diabetes, Rheuma, Magen-Darmerkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen, Osteoporose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Parodontitis und sogar Depressionen – durch eine Mikrobiom-Behandlung therapiert werden können. Der Wald hingegen wirkt sozusagen wie eine permanente Impfung. Er führt uns die verlorenen Mikroorganismen zu, die wir aufgrund unserer Hygiene in der Stadt nicht mehr in dem Maße, wie von der Natur vorgesehen, um uns, an uns und in uns haben. Aufgrund der der genannten medizinischen Zusammenhänge ist es daher von großer Bedeutung, möglichst viel Grünraum und möglichst viel Wald mit einer strukturellen und funktionellen hohen Biodiversität in unseren menschlichen Lebensräumen zu haben.

×

Conclusio

Der Wald ist für unsere Gesundheit von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Der Kontakt mit der Natur kann dazu beitragen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Leiden zu mildern oder sogar von vorne herein zu verhindern. In einer zunehmend urbanisierten Welt fehlt es insbesondere Kindern an Naturerlebnissen. Die damit verbundenen Probleme werden als „Nature-Deficit-Disorder“ in der Wissenschaft diskutiert. In der Medizin hat sich ein neuer Bereich etabliert, der interdisziplinär die Zusammenhänge von Natur und Gesundheit untersucht: die Ökomedizin.