Der Westen schottet sich ab – und ergraut

Überalterung ist ein massives ökonomisches Problem und die eigentliche Bevölkerungskrise für die alten Industrienationen. Statt gegenzusteuern, verschärft der Westen sein Problem.

Ein Mädchen mit ernstem Gesichtsausdruck sitzt im Sonnenlicht und streicht über das rote Haar einer Puppe. Das Bild illustriert einen Beitrag über Migration, Bevölkerung und Überalterung.
An der US-amerikanischen Grenze bei Ciudad Juarez in Mexiko. Im letzten Jahr wurden 2,5 Millionen Menschen – so viele wie noch nie – an der Grenze in Gewahrsam genommen und festgehalten. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Gefährliche Schrumpfung. Weltweit geht die Geburtenrate zurück, im Westen sinken die Bevölkerungszahlen.
  • Behäbige Ideen. Schrumpfende Gesellschaften sind alternde Gesellschaften, denen es an Dynamik und Kreativität mangelt.
  • Potenzial nutzen. Gerade der Westen muss wachsen und sich verjüngen – ob durch Fertilität oder Migration –, um die Kreativität der Jugend zu nutzen.
  • Wohlstand schaffen. Innovation, Arbeitsteilung und Spezialisierung lassen eine Gesellschaft erblühen – dafür brauchen wir mehr Menschen, nicht weniger.

Ist die Erde zu voll? Seit Jahrzehnten streiten sich Intellektuelle über die ideale Größe der Bevölkerung. Und auch in den neuen 20er Jahren reißt die Debatte nicht ab. Dass die Weltbevölkerung kürzlich die Grenze von acht Milliarden Menschen überstieg, nahm Der Pragmaticus zum Anlass für ein Dossier zur Überbevölkerung.

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Kontrovers ging es da aber nicht zu. Statt zu streiten, sind sich die Autoren des Dossiers einig: die Weltbevölkerung ist zu groß, und wir können froh sein über den zu erwartenden Bevölkerungsrückgang besonders im reichen Westen. In ihrer Einigkeit ignorieren die Autoren jedoch die Gefahr einer schrumpfenden Welt und ganz besonders die Gefahr eines ergrauenden Westens. Gerade der Westen sollte an der Speerspitze einer neuen Bevölkerungsrenaissance stehen.

Bevölkerungsexplosion? Ein alter Hut

Die Argumente der Wachstumskritiker sind nicht neu. Sie lassen sich mindestens bis Thomas Malthus und sein Essay on the Principle of Population zurückführen, in dem der Ökonom bereits 1798 ähnliche Sorgen äußerte wie die Wachstumskritiker heute: Mehr Menschen zerstören die Umwelt, weil sie naturbelassene Fläche verbrauchen, wertvolle Ressourcen verschlingen und schädliche Abgase in die Welt pumpen.

Mehr Menschen verschärfen die Ernährungsprobleme der Welt, weil die knappen Agrarressourcen nicht für die vielen hungrige Bäuche reichen, die es zu füllen gilt. Mehr Menschen verschlimmern das Migrationsproblem, weil viele Menschen das arme Land zu Lasten reicher, aber überfüllter Städte verlassen.

Und die Kritiker haben recht: Bevölkerungswachstum birgt Herausforderungen. Doch so wie Malthus vor über 200 Jahren in seinen Horrorszenarien von Verarmung und Hungersnöten durch Bevölkerungswachstum falsch lag, weil er die ökonomischen Vorteile einer wachsenden Bevölkerung in einer Marktwirtschaft nicht beachtete, so ignorieren auch die Wachstumskritiker von heute die vielfältigen ökonomischen Vorteile einer wachsenden Welt.

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Der Wohlstand der Nationen ist das Ergebnis von möglichst weiter Arbeitsteilung und tiefer Spezialisierung: Auf je mehr Schultern eine Ökonomie Arbeit verteilen kann, desto mehr Raum gibt es für Individuen, sich lästiger Aufgaben zu entledigen und sich auf die Arbeiten zu spezialisieren, die sie besonders gut können. Erst wenn Menschen tun können, worin sie gut sind, entsteht Wohlstand.

Deshalb sind Ökonomen oft Anhänger des Freihandels. Freihandel baut Hürden für menschliche Kooperation ab und erlaubt es, Arbeit auf mehr Schultern in globalen Arbeitsketten zu verteilen. Bevölkerungswachstum hat einen ähnlichen Effekt: Es gibt mehr Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten können. Eine schrumpfende Bevölkerung hingegen wirkt wie ein Handelshemmnis: Sie nimmt uns potenzielle Kooperationspartner und lässt uns mit mehr Arbeit zurück.

Vergreisung der Ideen

Innovation ist eine weitere Quelle des Wohlstandes der Nationen. Und auch sie hängt von der Größe und dem Alter der Bevölkerung ab. Neue Technologien ermöglichen eine saubere Energieversorgung, eine ertragreiche Landwirtschaft und moderne, aufnahmefähige Städte. Neue Ideen kommen aus den Köpfen von Menschen, und je mehr sich davon über weltweite Probleme Gedanken machen, desto wahrscheinlicher wird die Problemlösung.

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Zahlen & Fakten

Foto von zwei Mädchen in einem Klassenzimmer vor einer Pinnwand, die mit einer Wasserflasche spielen. Das Foto ist Teil von einem Beitrag über Wege aus der Überalterung.
Schülerinnen aus der Ukraine in einer polnischen Schule im März 2022. © Getty Images

Eine schrumpfende Bevölkerung denkt und handelt behäbiger. Denn schrumpfende Gesellschaften sind alternde Gesellschaften. Neue Ideen und Innovationen entstehen nun mal nicht bei der Bingo-Runde im Altersheim, sondern in der Kooperation von jungen Menschen in Startups, großen Betrieben, Universitäten und Forschungseinrichtungen. Versiegt der Quell kreativen Schöpfergeistes, versiegt auch unsere beste Chance, die Probleme der Welt in den Griff zu bekommen. 

Kreatives Potenzial nutzen

Im Vergleich mit anderen ökonomischen Ordnungen wird das Arbeitsteilungs- und Kreativitätspotenzial der vielen Menschen am besten in der Marktwirtschaft genutzt. Die Signal- und Anreizfunktion eines freien Preissystems trägt dazu bei, dass Menschen notwendige Informationen bekommen, um ihre Fähigkeiten genau dort einzusetzen, wo sie auch gebraucht werden.

So könnte die Entwicklung einer modifizierten Genschere klimaresiliente, ertragreichere Pflanzen hervorbringen, um eine wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Die Marktwirtschaft hilft, indem sie hunderttausende Wissenschaftler und Unternehmer mit Selbstverwirklichung und traumhaften Gewinnen lockt, genau diese technologischen Entwicklungen zu erforschen und ihr Leben der Suche nach Problemlösungen zu widmen.

Japan, das damals fünftgrößte Land der Welt, profitierte Mitte des 20. Jahrhunderts von all den Vorteilen, die eine große Bevölkerung in einer Marktwirtschaft mit geringen Handelsbarrieren mit sich bringt: zweistellige Wachstumsraten, weltweit führende Unternehmen und das Bewusstsein, ein stabiler Partner für westliche Demokratien in einer kriselnden Region zu sein.

Ein Kind und ein Mann knien am Boden und zeichnen. Im Hintergund sind weitere Kinder und Erwachsene zu sehen. Das Bild gehört zu einem Beitrag über Überalterung im Westen.
Der traditionelle Kalligraphie-Wettbewerb Kakizome in Tokyo 2023. © Getty Images

Doch seit Jahrzehnten büßt die japanische Ökonomie an Dynamik ein und wird zunehmend sklerotischer. Ein wichtiger Grund: Das schrumpfende japanische Volk. Während das Bevölkerungswachstum in den späten 2000er Jahren noch stagnierte, schwindet die japanische Bevölkerung seit 2010 mit eskalierendem Tempo jedes Jahr schneller. Von 2021 auf 2022 verlor Japan einen Jahresrekord von 644.000 Menschen und zählt nun nur noch 125,5 Millionen Menschen im Vergleich zu 128 Millionen im bevölkerungsreichsten Jahr 2010.

Gleichzeitig wuchs der Anteil der Menschen über 65 Jahre auf ein neues Rekordhoch von 29 Prozent. Mit drei Millionen weniger Menschen und einem altersgeschwächten knappen Drittel der Bevölkerung, fällt das Land in der globalen Integration der Arbeitsteilung komplexer Volkswirtschaften zurück. Immer weniger Menschen erfinden und unternehmen etwas in einem der wichtigsten Erfinder- und Unternehmerländer der Welt.

Ausgeschaltet: Die Superkraft Migration

Ein anderes Bild zeichnet die USA. Zwar fallen auch hier seit Anfang der 2000er die Geburtenraten. Doch profitieren die Amerikaner von starkem Bevölkerungswachstum im Vergleich mit Japan und anderen Ländern des Westens in den Jahrzehnten zuvor. Für lange Zeit performten die Amerikaner nahe der Erhaltungsrate von 2,1 Kindern pro Frau, was zu einer konstanten Reproduktion der Bevölkerung führte und durch zusätzliche Migration sogar zu Bevölkerungswachstum.

Ein Stacheldrahtzaun im Licht des Vollmonds im Hintergrund. Das Foto ist Teil eines Beitrags üer die Rolle von Migration zur Verhinderung der Überalterung der Bevölkerung.
Im Januar 2023 an der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko bei Ciudad Juarez. © Getty Images

Migration ist die Superkraft der USA: Zwischen 2000 und 2010 wanderten mehr Erfinder in das Land ein als in alle anderen Länder der Welt zusammen. Der Ökonom Noah Smith zeigt, dass die relativ hohen Geburtenraten und freie Migration zu einer höheren ökonomischen Dynamik der US-Wirtschaft führten und viele globale Probleme lösten, deren Lösung sowohl die USA als auch die Welt reicher machten.

Das Wettrennen mit den Problemen der Gegenwart wird der Westen nicht im Rollator gewinnen.

Autoren des Überbevölkerungs-Dossiers wie Reiner Klingholz könnten daher falscher nicht liegen, wenn sie besonders den Westen in die Pflicht nehmen, dem Bevölkerungswachstum zu entsagen. Die marktwirtschaftliche Ordnung des Westens macht es wahrscheinlich, dass gerade hier die Probleme der Welt gelöst werden. Doch kann eine Ordnung nur funktionieren, wenn Menschen sie mit Kreativität füllen.

Der Westen braucht mehr Menschen

Ein Jungbrunnen für den Westen kann sich nur aus zwei Quellen speisen: mehr Migration und mehr Kinder. Ziele, für die es keine radikalen Politikänderungen braucht. So erkennen immer mehr westliche Länder, dass sie ihr Einwanderungsrecht vereinfachen müssen. Das Beispiel Japan zeigt, dass selbst ein Land, das sich über Jahre seiner strengen Einwanderungspolitik gerühmt hat, immer mehr die Vorteile einer jungen, wachsenden – auch migrantischen – Bevölkerung zu schätzen weiß.

Mittlerweile ergänzt das Land seine auf hochqualifizierte Zuwanderung konzentrierte Politik um ein Visum-System für gering- und mittelqualifizierte Arbeiter. Andere Vorschläge wollen junge Migranten im globalen Süden bereits in ihren Heimatländern beruflich ausbilden und als Wohlstandsmotoren in den Westen schicken.

Auch beim Thema Fertilität kann der Westen Schritte in die richtige Richtung machen. Statt Bürgerinnen unter moralischen Fertilitäts-Druck zu setzen und sie wie ein japanischer Minister 2007 als „Geburtsmaschinen“ zu bezeichnen, muss der Westen die Rahmenbedingungen fürs Kinderkriegen verbessern und die elterlichen Kosten reduzieren helfen. So wollen zum Beispiel immer mehr Bürger keine Kinder bekommen, weil ihnen größere, familiengerechte Wohnungen und Häuser zu teuer werden. Eine Bauoffensive durch Baurechtliberalisierungen und Anreizverbesserungen für Investitionen in den Wohnungsmarkt könnten hier als ein überraschender Fertilitätsbooster wirken.

Statt zu schrumpfen und zu altern, muss der Westen wachsen und sich verjüngen. Er muss das Wettrennen mit den Problemen der Zeit annehmen. Ein Wettrennen, das er nicht im Rollator gewinnen wird.

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Conclusio

Eine schrumpfende Welt und ganz besonders ein ergrauender Westen führen in keine rosige demographische Zukunft. Die ökonomischen Argumente für eine wachsende Bevölkerung werden oft unterschlagen, wenn es um die Thematisierung der Bevölkerungsentwicklung geht. Ein überalterter Westen wird an gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen scheitern, denn gerade die alten Industrienationen brauchen mehr Menschen als Quelle für Innovation und Kreativität zur Sicherung des Wohlstands.

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