Xi Jinping, der neue Mao

Wladimir Putin hört nicht auf Joe Biden oder Olaf Scholz, sondern auf Xi Jinping. Der Ukraine-Krieg zeigt, wie sich die Machtverhältnisse verschoben haben. Doch der Westen bleibt ignorant und weiß noch immer nicht, mit wem er es zu tun hat.

Illustration von Xi Jinping
Xi Jinping will China bis 2049 zum mächtigsten Land der Welt machen und sieht sich selbst als Vollstrecker einer historischen Mission. © Oliver Barrett/Atrbute
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Auf den Punkt gebracht

  • Landesvater. Xi Jinping ist als Staatschef von China heute allmächtig – aber unscheinbar. Im Westen hält sich das Wissen über den Mann in Grenzen.
  • Familienbande. Die Eltern des Staatspräsidenten sind bekannte Revolutionäre und loyale Parteikader. Xi Jinping selbst kletterte beständig die Parteileiter empor.
  • Ambitionen. Xis Ziel ist es seit jeher, China wieder zur imperialen Supermacht zu machen – ähnlich Putins Vision für Russland. Der Zweck heiligt für beide die Mittel.
  • Kalkül. Aber nicht nur Russlands Präsident ist Xi Jinping gegenüber hörig. Auch in Südost- und Zentraleuropa baut Peking strategisch seinen Einfluss aus.

„Das war nicht vorauszusehen“, hört man oft in diesen Tagen. Wirklich nicht? Die Welt verändert sich in rasanten Schritten – und wir tun so, als sei nichts passiert. 2005 übertraf China mit seiner Wirtschaftskraft Frankreich und erreichte damit den fünften Platz weltweit. 2006 überholte es Großbritannien, 2007 Deutschland und 2009 Japan. Wenn es nach dem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt geht, stehen die Chinesen seit 2014 sogar vor den USA und sind damit an der Spitze. Das ist eine tektonische Verschiebung, denn die Amerikaner waren seit 1872 immer die Nummer eins.

Angesichts dessen sollte man ein gewaltiges Interesse erwarten für den Mann, der China seit zehn Jahren führt: Xi Jinping. Doch seine Reden lösen keine Eilmeldungen aus, Dokumentar­filme über ihn sieht man selten, und in den Talkshows kommt er nicht vor. Die Clownerien von Donald Trump hin­gegen füllen ganze Bücherregale. Kaum ein Moderator kann den Namen des chinesischen Partei- und Staatschefs fehlerfrei aussprechen. Manche glauben gar, er hieße Jinping mit Familien­namen – dabei kommt der im Chinesischen immer zuerst, also in seinem Fall Xi.

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Zahlen & Fakten

Nun war er vor seinem Macht­antritt zugegeben auch in China so unbekannt, dass die Leute von ihm sprachen als dem „Ehemann von Peng Liyuan“. Der Grund: Seine Frau ist in China eine bekannte Sängerin von Volksliedern und kommunistischen Kampfgesängen. Sie tritt im Fernsehen auch schon mal vor einem Milliardenpublikum auf. Als er sie heiratete, war Xi Jinping noch ein kleiner Provinzfunktionär (übrigens ändern Eheschließungen in China weder den Namen von Frauen noch den von Männern).

Allerdings gehörte er schon damals zum roten Adel. Sein Vater Xi Zhongxun war ein Guerillaführer an der Seite Maos beim legendären Langen Marsch und stieg zum Vizepremier auf. Seine Mutter Qi Xin kämpfte mit der Waffe in der Hand für den Kommunismus und unterrichtete dann an der Zentralen Parteischule.

Xi Jinping und seine Ehefrau Peng Liyuan auf einem roten Teppich
Promi-Paar: Peng Liyuan, die zweite Frau von Xi Jinping, ist eigentlich ausgebildete Sopranistin und trat auch schon in der Wiener Staatsoper auf. Peng ist auch Mitglied des ­Musikkorps der Volksbefreiungsarmee. © Getty Images

Von der Höhle in den Kader

Das schützte die Familie nicht davor, unter Mao verfolgt zu werden. Der Vater stand als angeblicher Abweichler zunächst unter Hausarrest und wurde dann ins Gefängnis gesperrt. Xi Jinping selbst wurde als 15-Jähriger, wie alle Stadtjugendlichen seiner Generation, während der Kulturrevolution aufs Land verbannt, musste in einer Höhle leben. Wieder wundern sich manche im Westen, warum er trotzdem ein linientreuer Parteigänger geworden ist. Wieso trotzdem – deshalb! Auch bei uns passen sich doch die meisten Menschen an. Ergraute Moderatoren gendern nicht, weil sie auf ihre alten Tage Feministen geworden sind, sondern weil das plötzlich so üblich ist. Viel größer ist der Druck, sich anzupassen, wenn einem bei Abweichung Haft und Folter drohen.

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Zahlen & Fakten

Xi Jinping mit seinem Bruder und Vater auf einem Foto von 1958
Vizepremier Xi Zhongxun im Jahr 1958 mit seinem Sohn Jinping (links) und dessen jüngerem Bruder Yuanping. © Getty Images

Xi Jinping: Kommunismus im Blut

  • Xi Jinping wird die Politik in die Wiege gelegt, ist doch schon sein Vater ein hoher Funktionär der Volksrepublik: Xi Zhongxun klettert die Karriereleiter bis zum stellvertretenden Ministerpräsidenten hinauf.
  • Der Aufstieg wird 1962 abrupt unterbrochen, als Xi Zhongxun bei Mao in Ungnade fällt, weil er die Veröffentlichung eines „parteifeindlichen“ Romans freigibt. Er kommt dafür ins Gefängnis.
  • Nach der Kulturrevolution 1978 wird Xi Zhongxun, nunmehr vollständig rehabilitiert, Gouverneur der Provinz Guangdong.
  • Nach seiner aktiven Zeit als Politiker zieht er sich ins Privatleben zurück und stirbt 2002. Posthum werden ihm Titel wie „Großer kommunistischer Soldat“ und „Außergewöhnlicher Revolutionär des Proletariats“ verliehen.
  • Jinping entstammt Zhongxuns zweiter Ehe mit Qi Xin, die mittlerweile 95 Jahre alt ist. Sie war selbst kommunistische Kämpferin und später Lehrerin an der Parteischule. Xi spricht oft über die Werte, die er von seinen Eltern eingetrichtert bekam: Selbstdisziplin, Loyalität zur Partei und der Dienst am Land stehen dabei ganz oben.

Das soll nicht heißen, Xi Jinping habe keine Überzeugungen. Eine formuliert er selbst so: „Es gibt in der Geistes­geschichte der Menschheit keine andere Theorie, die dem Marxismus in Wissenschaftlichkeit, Wahrhaftigkeit, Einfluss und Verbreitungsumfang gleichkommt.“ Das glaubten bei ihm in der Familie alle, auch die Tanten und Onkel. Wer bei uns katholisch erzogen wurde, bleibt auch oft der Kirche treu – und das bei viel mehr Wahlmöglichkeiten in einer freien Gesellschaft.

Überzeugter Marxist

Die sieben Jahre im Dorf lehrten ihn noch etwas anderes: Das damalige China ist größtenteils arm und primitiv. Das will er ändern. Seine Vision: die Volksrepublik wieder zu einer führenden Zivilisation machen – wie sie es über Jahrtausende war. Um sich dafür zu engagieren, will er der einzigen relevanten Partei beitreten, die in China existiert, der Kommunistischen (es gibt auch einige Blockparteien, aber die haben noch weniger zu sagen als einst ihre Pendants in der DDR). Sein Aufnahmeantrag wird zunächst abgelehnt, er versucht es immer wieder, insgesamt zehnmal – bis er schließlich 1973 Erfolg hat.

Xis Vision: die Volksrepublik wieder zu einer führenden Zivilisation machen – wie sie es über Jahrtausende war.

Das zeigt seinen Charakter: Xi ist hartnäckig und denkt langfristig. Diese Züge zeigen sich auch in den folgenden Jahrzehnten: Statt sich mit Hilfe seines inzwischen rehabilitierten Vaters einen bequemen Posten in Peking zu besorgen, wählt er die Ochsentour durch die Provinzen: stellvertretender Chef des Kreis­partei­komitees im Landkreis Zhengding, Vizebürgermeister der Küstenstadt Xiamen, Parteichef des Bezirks Ningde (eines der ärmsten Gebiete Chinas), Partei­vorsitzender der boomenden Provinz Zhejiang, Parteichef von Shanghai.

Parallelen zu Stalin und Putin

Niemand ahnt damals, dass hier ein neuer Mao aufsteigt. Stalin, Putin und Xi Jinping haben eines gemeinsam: Alle drei galten vor ihrer Machtübernahme als unauffällige, fleißige Apparatschiks. Als die Alten in der Partei zusammentreten, um einen Nachfolger für den nach zehn Jahren vorschriftsgemäß in den Ruhestand gehenden Partei- und Staatschef Hu Jintao zu suchen, steht auch Xi Jinping auf der Liste.

Für ihn sprechen: sein revolutio­närer Familienhintergrund; seine um­fassenden Erfahrungen auf allen Parteiebenen; und dass er keiner der beiden Seilschaften angehört, weder den ehemaligen Funktionären der Kommunistischen Jugendliga um Hu Jintao noch der „Shanghai-Clique“ um dessen Vorgänger Jiang Zemin. Xi gilt als einer, mit dem sich alle gut arrangieren können. Manche im Westen sehen in ihm gar einen chinesischen Gorbatschow.

Alle haben sich getäuscht. Als Xi Jinping 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei wird und 2013 zusätzlich Staatspräsident der Volksrepublik China, beginnt er eine Kampagne gegen Korruption. 1,5 Millionen Funktionäre lässt er bestrafen, darunter sieben aus der obersten Führungsriege, also Politbüro und Minister, sowie zwei Dutzend hohe Generäle.

Zwei führende Funk­tio­näre werden zum Tod verurteilt. Man nimmt ihm ab, dass er Korruption verabscheut, genauso wie Putin die Oligarchen hasst. Bei beiden dienen die Säuberungen und Schauprozesse aber gleichzeitig dazu, alle wirklichen oder potenziellen Gegner aus dem Weg zu räumen und die Macht in einer Hand zu konzentrieren.

China soll wieder groß werden

Macht ist für ihn dabei kein Selbstzweck, er sieht sich als Vollstrecker einer historischen Mission: China zu alter Größe zurückzuführen. Dazu gelte es, westliche Freiheitsideen zu bekämpfen – der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Arabische Frühling sind für Xi Jinping abschreckende Beispiele. „Nach dem Ende des Kalten Krieges haben einige Länder an westlichen Werten furchtbaren Schaden genommen“, sagt er. „Sie sind entweder vom Krieg zer­rissen oder befinden sich im Chaos.“

Xi will nicht weniger, als die über Jahrhunderte währende Dominanz des Westens beenden. Also nicht nur, dass sie von selbst zu Ende geht, sondern dass er selbst sie beendet. Damit will er in die Geschichte eingehen. Deshalb hat er die für seine Amtsvorgänger geltende Amtszeitbeschränkung aufgehoben, er kann bis zu seinem Tod regieren.

Als 1978 der Reformer Deng Xiaoping an die Macht kam, beendete er mit seinen Reformen den Personenkult um Mao Zedong. Xi Jinping lässt diesen Kult wiederaufleben, ersetzt aber den Gott Mao durch sich selbst. An den Straßen stehen Plakatwände mit dem Konterfei des neuen Führers. In der Provinz Jiang­xi, in der relativ viele Christen leben, müssen Jesusbilder durch Fotos von Xi Jinping ersetzt werden. Mao ­hatte seine „Mao-Bibel“, ein kleines rotes Buch, Xi hat etwas viel Besseres: eine kleine rote App, die meistherunter­geladene in China, auf der die Nutzer Reden des neuen Großen Vorsitzenden studieren, Quizfragen über ihn be­antworten und dafür benotet werden.

Vergleichbares kennt man aus Nordkorea, doch das ist ein bettelarmes Land mit Atomraketen, das die Welt eher belächelt als fürchtet. Xis Reich hingegen brummt – auch wenn die Corona-­Pandemie den rasanten Aufschwung zuletzt immer wieder gebremst hat. Xi weiß seine wirtschaftliche Macht zu nutzen. So hat er ein internationales Netzwerk geschaffen. Putin fiel in die Ukraine ein, nachdem ihn Xi Jinping bei den Olympischen Spielen empfangen hatte und sich die beiden in einer Erklärung ihrer gemeinsamen Weltsicht versichert hatten. Putin verstand das zu Recht so, dass ihm westliche Sanktionen auf lange Sicht nichts anhaben können, da China sein Gas und Öl gerne abnimmt.

Bewunderung für Xi

In Europa gehören Ungarns Ministerpräsident Orbán und Serbiens Präsident Vučić, beide gerade wieder­gewählt, zu Xis treuen Knappen. Als China Atemschutzmasken und Be­atmungs­geräte lieferte, jubelte Vučić: „Ich glaube meinem Freund und Bruder Xi Jinping. Das einzige Land, das uns helfen kann, ist China.“ Die serbische Politik hofiert den chinesischen Staatschef schon lange, ist dankbarer Empfänger von Geldern aus Peking und sichert dem großen Partner im Gegenzug Einfluss in Europa zu.

Pakistans im April abgesetzter Premier­minister Imran Khan, ein ehemaliger Kricketweltmeister, hatte gemeint: „Ich bewundere, wie Chinas Führung innerhalb der kurzen Zeitspanne von 40 Jahren 700 Millionen Menschen aus der Armut befreit hat. Das ist das Modell, dem ich in Pakistan nacheifern möchte.“

Xi Jinping lässt den Personenkult um Mao Zedong wiederaufleben, ersetzt aber den Gott Mao durch sich selbst.

Während mitteleuropäische Länder „auf Sicht fahren“, hat Xi Jinping einen langfristigen Plan, den er „zweimal hundert Jahre“ nennt. Bis 2021, dem 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas, sollten alle seine Landsleute einen bescheidenen Wohlstand erreichen. Dieses Ziel kann als erfolgreich abgehakt gelten. 2049, zu ihrem hundertjährigen Bestehen, soll die Volksrepublik China das mächtigste Land der Welt sein.

Das wird sich nach Xis Willen über ein größeres Territorium erstrecken als sein heutiges Imperium. Hongkong hat er bereits mit Erfolg gleichgeschaltet, die Demokraten ins Gefängnis gesperrt, ohne dass dies größere internationale Reaktionen ausgelöst hätte. Noch zu seinen Lebzeiten will er Taiwan heim ins Reich holen. Im Südchinesischen Meer erhebt er Anspruch auf rohstoffreiche Gebiete von Vietnam, Malaysia und den Philippinen.

Besonnener als Putin

Deshalb beobachtet Xi Jinping den Krieg seines Freunds Wladimir Putin in der Ukraine aufmerksam und mit Wohl­wollen. Das Einzige, was ihn daran stören mag: Putin geht etwas hitz­köpfig vor, weniger planmäßig und darum auch nicht so erfolgreich wie sein chinesisches Pendant.

Xi Jinping will weltweiten Einfluss. Er sagt: „Die KP Chinas und das chinesische Volk sind voller Zuversicht, der Menschheit bei ihren Bemühungen um eine bessere Gesellschaftsordnung chinesische Lösungsansätze anzubieten.“ In den weltweiten Corona-Lockdowns wurden diese Rezepte zum Teil bereits übernommen.

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Conclusio

Chinas Staatschef Xi Jinping, seit zehn Jahren an der Macht, verfolgt ein klares Ziel: das Land wieder zur Größe ver­gangener Jahrtausende zurückzuführen. Dank rasantem Wachstum ist China auf dem Weg zur wirtschaftlichen Nummer eins der Welt und stellt auch machtpolitisch den Führungsanspruch. Xi hat interne Widersacher aus dem Weg geräumt und internationale Netzwerke geknüpft. Mit seinem russischen Amts­kollegen Wladimir Putin gibt es eine gute Verbindung, Ungarn und Serbien zählen zu den wichtigsten Partnern in Europa. Den Sohn eines hohen Parteifunktionärs zeichnet seine Hartnäckigkeit ebenso aus wie das Verfolgen langfristiger Ziele. Seine Popularität im Land fördert Xi Jinping, der ein überzeugter Marxist ist, mit einem Personenkult, der an den Revolutionsführer Mao Zedong erinnert.