Die Abwärtsspirale der Bankenunion

Nach der Finanzkrise 2008 sollte die neu geschaffene Bankenunion den Euroraum krisenfester machen. Aber die Reform ist nach wie vor nicht abgeschlossen. Uneinigkeit und Entscheidungsschwäche hemmen den Prozess.

Euro-Symbol aus Euro-Scheinen gelegt
Die Bankenunion soll den Euro als stabile Währung absichern. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Krisenfest. Die Bankenunion war die Antwort auf die Finanzkrise, die den Euro vor einem Jahrzehnt bedrohte. Sie soll auf drei Säulen beruhen.
  • Halbfertig. Zwei der drei Säulen wurden bereits umgesetzt: Die Bankenaufsicht und die Abwicklung von insolventen Kreditinstituten funktionieren weitgehend.
  • Solidarität. Die Einlagensicherung als dritte Säule ist das eigentliche Streitthema. Viele Euro-Länder wollen nicht für die fehlerhafte Politik anderer EU-Länder haften.
  • Einigung. Trotz der wiederholten Versuche, ein gemeinsames Regulierungs- und Aufsichtssystem zu schaffen, ist die Bankenunion bis heute unvollendet.

Die Eurokrise hat mehrere Schwächen der europäischen Banken offenbart. Überdimensioniert und unterkapitalisiert, stellten viele von ihnen auch nach den Rettungsaktionen 2008-2009 ein systemisches Risiko dar. Darüber hinaus hatten die Banken bei ihren Käufen von Staatsanleihen eine tief verwurzelte „Home-Bias“-Politik entwickelt, sodass einige Banken einen unangemessenen Prozentsatz der Schulden ihrer Heimatländer hielten. Diese Probleme traten vor allem in fiskalisch schwachen Ländern auf, in denen die Kreditwürdigkeit der Regierungen am geringsten war.

In den Jahren 2009-2012 erlebten mehrere Länder des Euroraums eine Reihe von Abwärtsspiralen (sogenannte „Bank-Sovereign-Doom-Loops“ oder „Double-Drowning-Szenarien“). Schuldengeplagte Regierungen und große, in Schwierigkeiten geratene Banken drohten sich gegenseitig zu Fall zu bringen. Aufgrund von Spillover- oder Kaskadeneffekten war die gemeinsame Währung bedroht.

Damals versprachen die EU-Staats- und Regierungschefs die Schaffung eines gemeinsamen Regulierungs- und Aufsichtsrahmens (im EU-Jargon Single Rulebook“) für den zersplitterten Bankensektor der Eurozone. Das Projekt wurde als „Bankenunion“ (BU) bezeichnet.

Behebung der Schwachstellen

Die Zuständigkeit für Bankenpolitik wanderte von der nationalen auf die supranationale Ebene. Damit sollten zunächst die akutesten Bedrohungen für die Finanzstabilität angegangen werden, etwa die engen Verbindungen zwischen den öffentlichen Finanzen und dem Bankensektor. Das andere große regulatorische Anliegen der EU war in jenen Jahren die Beendigung des „too-big-to-fail“-Problems: Es ging darum, die Märkte für Banken transparenter, einheitlicher und sicherer zu machen. Letztlich ging es darum, das verlorene Vertrauen in das Bankensystem wiederherzustellen.

Im Nachhinein wurde den politischen Entscheidungsträgern klar, dass die ursprüngliche Konzeption des Euro den Boden für die schwere, mehrjährige Staatsschuldenkrise in Europa bereitet hatte. Wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz feststellte, war der Euro „von Anfang an fehlerhaft“. Die Entscheidung, eine einheitliche Währung einzuführen, „ohne für die Institutionen zu sorgen, die sie funktionsfähig machen würden“, habe sich als „fatale Entscheidung“ erwiesen, schrieb er. „Ein Geld, ein Markt“ ohne eine gemeinsame Steuerbehörde, die von mehreren divergierenden und unterschiedlich gesinnten Nationen geteilt werden sollte, war ein Experiment, das zum Scheitern verurteilt war, meinen heute viele Experten.

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Zahlen & Fakten

Nach dem Debakel von 2012, als noch heftig über die Zukunft der gemeinsamen Währung spekuliert wurde, erhielt ein neues institutionelles Ziel hohe Priorität: die Schaffung einer echten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Dieser Vorschlag war Gegenstand des viel zitierten Fünf-Präsidenten-Berichts, eines Dokuments, das 2015 von den damaligen Präsidenten der wichtigsten EU-Institutionen unterzeichnet wurde. Jean-Claude Juncker, Martin Schulz, Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem und Mario Draghi sprachen jeweils für die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, die Eurogruppe und die Europäische Zentralbank (EZB).

Die ehemaligen Chefs verpflichteten sich auf einen mehrstufigen Fahrplan zur Vertiefung der WWU an vier Fronten: Wirtschaftsunion, Finanzunion, Fiskalunion und politische Union. Die Währungsunion sollte neben der im Entstehen begriffenen Kapitalmarktunion ein Eckpfeiler der künftigen Finanzunion werden. Der Countdown für den ehrgeizigen Plan begann am 1. Juli 2015. Er sollte bis spätestens 2025 abgeschlossen sein.

Das Konzept

Zehn Jahre, nachdem der Begriff „Bankenunion“ in politischen Kreisen aufgetaucht ist (Berichten zufolge stammt der Begriff vom französischen Wirtschaftswissenschaftler Nicolas Véron), ist es an der Zeit zu fragen, welche Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele der Bankenunion erzielt wurden. Wie hat sich der Rahmen bisher bewährt? Hat er die Erwartungen erfüllt? Diese Fragen werden sowohl in der Fachpresse als auch in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedlich beantwortet.

Während EU-Technokraten im Allgemeinen die Erfolge der BU loben, die den Bankensektor der Eurozone sicherer und solider gemacht haben, zweifeln einige Kommentatoren daran, dass der Rahmen überhaupt existiert. So behaupteten zwei Forscher der Universität Luxemburg, die BU sei eine „Totgeburt“. Bis heute bleibt sie ein „ferner Traum“, wie es ein Finanzreporter formulierte. Dass es sich bei der BU um ein „unvollendetes Projekt“ handelt, ist vielleicht die genauere Interpretation.

Die Umsetzung

Tatsächlich stehen zwei der drei Grundpfeiler der BU bereits seit Anfang 2015. Die erste Säule ist der einheitliche Aufsichtsmechanismus (SSM). Er überträgt der EZB umfassende mikro- und makroprudenzielle Befugnisse. Letztere haben den Auftrag, die systemrelevanten Banken der Eurozone (derzeit 114) direkt und alle anderen indirekt zu beaufsichtigen. Das System hat sich bewährt. Die beaufsichtigten Banken sind heute im Allgemeinen wesentlich besser kapitalisiert als noch vor zehn Jahren; auch die Qualität ihrer Aktiva hat sich deutlich verbessert. Nach Angaben von Andrea Enria, dem Vorsitzenden des Aufsichtsgremiums der EZB, hat sich das Gesamtvolumen der notleidenden Kredite (NPL) bei großen Banken der Eurozone zwischen 2014 und 2019 fast halbiert.

Die zweite Säule der BU, der einheitliche Abwicklungsmechanismus (SRM) – und die dafür vorgesehene Behörde, der Ausschuss für die einheitliche Abwicklung (SRB) – sollen zum Einsatz kommen, wenn die EZB feststellt, dass eine Bank ausfällt oder wahrscheinlich ausfällt. Die Aufgabe des SRB besteht darin, eine geordnete Abwicklung unrentabler Banken zu gewährleisten, um zu verhindern, dass sich einige der katastrophalen Szenarien der Jahre 2008-2012 wiederholen. Dazu zählt auch das Risiko, dass eine scheiternde Bank andere mit in den Abgrund reißt – oder, schlimmer noch, den Teufelskreis zwischen Banken und Staatsschulden in Gang setzt.

Die Steuerzahler sollen in Zukunft nicht mehr für Bankenrettungen aufkommen müssen.

Eine weitere Motivation ist es, sicherzustellen, dass die Steuerzahler in Zukunft nicht mehr für kostspielige Bankenrettungen aufkommen müssen. Zur Finanzierung von Abwicklungsmaßnahmen wird der SRB in erster Linie die 2014 mit der Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Banken (BRRD) eingeführten Bail-in-Instrumente nutzen. Sind diese erschöpft, wird er auf den einheitlichen Abwicklungsfonds (Single Resolution Fund, SRF) zurückgreifen, einen Notfallfonds, der durch Beiträge des Bankensektors finanziert wird. Im Juli 2021 betrug der Fonds 2 Milliarden Euro; bis Ende 2023 soll er die Zielgröße von ein Prozent des Wertes der gedeckten Einlagen aller in der BU tätigen Kreditinstitute erreichen.

Wie Nicolas Véron darlegt, hat der SRB lange Verzögerungen und einen schwierigen Start hinter sich. Bislang hat er nur eine Handvoll Abwicklungsbeschlüsse für Banken gefasst: drei im Jahr 2017 (Banco Popular, Banca Popolare di Vicenza, Veneto Banca) und einen im Jahr 2018 (ABLV). Alle vier wurden heftig kritisiert und gegen den SRB wurden Dutzende von Klagen angestrengt. Diese und die jüngsten Bankenskandale, wie etwa Greensill Capital oder Wirecard, haben auch die Grenzen des Aufsichtssystems des SSM aufgezeigt.

Fehlende Säule

Es ist jedoch die dritte, bisher fehlende Säule der BU – das Europäische Einlagenversicherungssystem (EDIS) – die für die meisten Kontroversen sorgt. Ziel dieses Systems ist es, einen stärkeren und einheitlicheren Einlegerschutz für den Euroraum zu gewährleisten. Die Idee ist, Panikabhebungen (so genannte „Bank Runs“) zu verhindern, wenn eine Bank unrentabel wird. EDIS soll auch eine bessere Verteilung der Kosten von Bankzusammenbrüchen ermöglichen. Es würde die Verluste der Zentralbanken im Falle eines Zusammenbruchs verringern. Wie die bereits bestehenden nationalen Einlagensicherungssysteme sollte das EDIS für Einlagen unter 100.000 Euro aller Banken in der Bankenunion gelten.

Im Jahr 2015 veröffentlichte die Europäische Kommission den ersten Legislativvorschlag für ein eurozonenweites Einlagensicherungssystem, der jedoch nicht auf fruchtbaren Boden fiel. Zwei Jahre später unterbreiteten die Brüsseler Eurokraten einen verwässerten Vorschlag für eine schrittweise Einführung von EDIS. Im Jahr 2018 war ein Hybridmodell an der Reihe, bei dem EDIS nur dann zum Einsatz kommen würde, wenn den nationalen Einlagensicherungssystemen das Geld ausgeht. Es konnte nie eine Einigung erzielt werden. Laut Euroactiv, einem auf EU-Politik spezialisierten Mediennetzwerk, könnte in Kürze ein neuer Kommissionsvorschlag auf den Tisch kommen.

Unerwünschte Solidarität

Deutschland hat von Anfang an verhindert, dass die Verhandlungen vorankommen. Ludger Schuknecht, ehemaliger Chefvolkswirt des deutschen Bundesfinanzministeriums, brachte die Bedenken seines Landes auf den Punkt: EDIS würde bedeuten, dass andere Länder bald für die Folgen einer fehlgeleiteten Innenpolitik haften, ohne dass diese Länder darauf Einfluss nehmen könnten.

Das größte Problem einer europaweiten Lastenteilung ist, dass sie die falschen Anreize schafft. Sobald der gemeinsame Backstop in Kraft ist, könnten sowohl Regierungen als auch Banken dazu verleitet werden, ihre Risikobereitschaft zu erhöhen, warnte Schuknecht. So würde EDIS „nicht mehr, sondern weniger Stabilität in den europäischen Ländern bedeuten, wenn die Kosten der inländischen toxischen Altlasten und der Fehler von Banken, Aufsichtsbehörden und Politik auf andere abgewälzt werden können“, schrieb er.

Im Juni 2021 betonte der damalige deutsche Finanzminister Olaf Scholz während eines Treffens der Eurogruppe erneut, dass eine Einigung nicht in Sicht sei, solange die Mängel von EDIS nicht ordnungsgemäß behoben seien. Derzeit sind die Diskussionen festgefahren. Insider gehen davon aus, dass ernsthafte Gespräche nicht vor den französischen Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2022 beginnen werden.

Ende in Sicht?

Letztlich könnten zynische Beobachter Recht behalten: Die Staats- und Regierungschefs der EU werden sich verpflichten, die BU zu beenden – eines Tages. Die Zeit ist längst abgelaufen, sagen andere. Es ist in erster Linie eine Frage der Glaubwürdigkeit. Nach einem Jahrzehnt sind die Staats- und Regierungschefs der Eurozone nicht in der Lage, einen Konsens über die Vollendung der Union zu finden. Das wirft – unabhängig davon, ob eine Bankenunion überhaupt wünschenswert ist – Fragen auf.

Eine dieser Fragen ist, ob die Regulierungsbehörden heute besser für künftige Krisen gerüstet sind. Für das ehemalige Mitglied des Aufsichtsgremiums der EZB, Ignazio Angeloni, lautet die Antwort ganz klar: nein. Die Coronavirus-Krise hat sie „erneut teilweise unvorbereitet erwischt“, schreibt er in einem Bericht. Angeloni, der 2012 und 2013 als Hauptkoordinator an den Vorbereitungen des SSM beteiligt war, bedauert, dass die Ziele der BU heute schwerer fassbar sind als je zuvor. Effizienter und rentabler sind die Banken jedenfalls nicht geworden. Der europäische Bankensektor ist nach wie vor fragmentiert, überbesetzt und auf internationaler Ebene nicht wettbewerbsfähig – und auch die erhoffte Risikodiversifizierung und die grenzüberschreitende Integration sind nicht in Gang gekommen.

Der europäische Bankensektor ist nach wie vor fragmentiert, überbesetzt und international nicht wettbewerbsfähig.

Angeloni warnte auch davor, dass eine Bankenreform auf halber Strecke Gefahren birgt. Covid-19 könnte diese ans Licht bringen. Viele Banken haben sich nie vollständig von der Finanzkrise 2008 erholt. Jetzt befinden sie sich inmitten eines neuen Sturms. Wenn die Pandemie anhält, könnten selbst profitable und gut kapitalisierte Banken mit erheblichen Kreditverlusten und Kapitalverlusten konfrontiert werden. Nach Angaben der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde wird sich die Qualität der Unternehmens- und Verbraucherkredite in den kommenden Monaten weiter verschlechtern. Ein leichter Anstieg des NPL-Volumens ist bereits zu beobachten.

Im Moment werden viele Schwächen der Banken durch das gigantische öffentliche Sicherheitsnetz kaschiert, das während der Pandemie eingerichtet wurde. Die Banken profitierten in hohem Maße von staatlichen Garantien, Kreditnehmerhilfen, massiven Liquiditätshilfen der nationalen Zentralbanken und der EZB und schließlich von einer vorübergehenden Lockerung einiger regulatorischer Beschränkungen, wie zum Beispiel verringerte Eigenkapitalanforderungen und größere Flexibilität bei der Behandlung von NPLs.

Wie Ignazio Angeloni jedoch zu Recht feststellt, wird die dem europäischen Bankensektor innewohnende Anfälligkeit wieder stärker in den Vordergrund treten, sobald die Hilfs- und Sanierungsprogramme zurückgezogen werden (was nur eine Frage der Zeit ist).

Momentan werden viele Schwächen der Banken durch das öffentliche Sicherheitsnetz kaschiert.

Der Zusammenhang zwischen Staaten und Banken bleibt ein weiteres kritisches Thema. Im Laufe des vergangenen turbulenten Jahres ist sie nicht schwächer, sondern stärker geworden. Um wirtschaftliche Einbrüche zu bewältigen, haben die Regierungen des Euroraums eine historisch hohe Verschuldung auf sich genommen. Gleichzeitig haben die Banken in einigen Ländern des Euroraums ihre Bestände an Staatsanleihen erheblich aufgestockt.

Der Finanzstabilitätsbericht der EZB vom November letzten Jahres schließt nicht aus, dass Europa in nicht allzu ferner Zukunft vor einer neuen Banken-Staatsverschuldungs-Schleife stehen könnte. Wenn die halbherzige Bankenreform der EU bis dahin immer noch nicht abgeschlossen ist, könnte der Euro wie vor zehn Jahren schnell wieder unter Druck geraten.

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Conclusio

Die Finanzkrise 2008 gab den Anlass zur Schaffung einer Bankenunion. Die EU-Staats- und Regierungschefs einigten sich auf einen gemeinsamen Regulierungs- und Aufsichtsrahmen für den Bankensektor der Eurozone. Die Bankenunion besteht aus drei Komponenten, wobei nur bei zwei davon Einigung herrscht: bei der einheitlichen Bankenaufsicht und der Abwicklung unrentabler Finanzinstitute. Für die meisten Kontroversen sorgt das Europäische Einlagenversicherungssystem, das die dritte Säule bilden sollte. Es wird befürchtet, dass andere Länder für die Folgen einer fehlerhaften Innenpolitik eines anderen Eurozonen-Mitglieds haften. Die Diskussionen sind festgefahren und eine Vollendung der Bankenunion ist noch nicht in Sicht. Angesichts der hohen Verschuldung des Euroraums bedarf es aber einer echten Bankenreform, um zu verhindern, dass der Euro wieder unter Druck gerät.