Bosniens löchriger Frieden

Seit dem Vertrag von Dayton 1995 schweigen die Waffen in Bosnien und Herzegowina, aber der echte Friede kam nicht. Ist die internationale Staatengemeinschaft naiv, was Nationalismen betrifft?

Mann schaut aus Wohnung in Mostar, die mit Einschlaglöchern übersät ist
Der Krieg ist in Bosnien und Herzegowina noch allgegenwärtig. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Gespaltenes Land. 1995 beendete das Daytoner Abkommen den Bosnienkrieg. Die Fronten zwischen den bosnischen Volksgruppen sind geblieben.
  • Fehleinschätzung. Der Westen ist daran mitschuldig. Er hatte eine blauäugige Vorstellung davon, wie sich der Friedensprozess im Land entwickeln würde.
  • Offenes Kalkül. Politiker der alten Garde wie Milorad Dodik nutzen vermehrt wieder nationalistische Parolen, um Wählerstimmen zu fangen – mit Erfolg.
  • Segregation. Das funktioniert auch deshalb, weil Kinder schon in den Schulen nach ethnischer Zugehörigkeit getrennt werden. Sie haben eine bessere Zukunft verdient.

Als ich meine Aufgabe antrat, waren die ruhigen Zeiten für mich vorbei. In meinem neuen Amt als Hoher Repräsentant in Bosnien und Herzegowina war ich vom ersten Tag an mit sehr viel Druck konfrontiert. In diesem herrlich schönen Land tauchen immer wieder vielfältig Konflikte auf. Anstatt mich um die Menschen zu kümmern und hier und da die wunderbare Natur zu genießen, bin ich rund um die Uhr mit Krisenmanagement befasst.

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Auch 30 Jahre nach Kriegsausbruch sind die leidbringenden, ethnischen Konflikte zwischen den drei Volksgruppen nicht erloschen. Wollte man es auf einen Nenner bringen, war und ist die unterschiedliche Auffassung davon, wie ein Vielvölkerstaat funktionieren kann, das große Problem. Es geht um das staatliche System mit seinen unterschiedlichen Instanzen und ihrer Besetzung, letztendlich um die demokratische Entscheidungskraft, mit der alle Parteien einverstanden sind. Um diese Lösung muss stärker denn je gerungen werden. Ich sehe mich also als Friedenshüter.

Naive Wunschvorstellung

Es geht um ein neues Verständnis. Zwar ist der Friedensvertrag von Dayton im Jahr 1995 ein Meilenstein gewesen und er ist in dieser Form auch bis heute gültig, doch leider konnten damit die fundamentalen Probleme nicht dauerhaft beantwortet werden. Friede ist kein Selbstläufer, das stelle ich jeden Tag wieder aufs Neue fest. Es wird nicht gekämpft und keiner schießt auf den anderen, doch es gibt viele Fronten, an denen die Volksgruppen bestenfalls nebeneinander und nicht miteinander leben. Und wenn ich Volksgruppen sage, meine ich Menschen.

Ich denke, dass auch die internationale Gemeinschaft eine naive Vorstellung vom Frieden am Balkan hatte. Irgendwie dachte man, mit dem Waffenstillstand würde sich alles von selbst zum Besseren entwickeln. Die Menschen würden wieder freundlich zueinander, und wenn nur die wirtschaftliche Entwicklung einigermaßen vorangeht, würde sich alles von selbst in die richtige Richtung entwickeln. Am Ende des Tunnels würde dann die Mitgliedschaft in der Europäischen Union stehen und den Dayton-Vertrag ablösen. Das Ziel bleibt erreichbar, ist aber gefährdet. Die schlimmen Kriegszeiten sind Gott sei Dank vorbei, doch mit ethnisch-nationalen, die anderen ausgrenzenden Positionen lassen sich in Bosnien immer noch Wähler-Stimmen gewinnen.

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Zahlen & Fakten

Eine Art Zwangsläufigkeit der Entwicklung zum zivilbürgerlichen Besseren war die krasseste Fehleinschätzung der letzten 30 Jahre. Demokratische Strukturen sind harte Arbeit und verlangen allen Parteien einen Preis ab. Und weil dieser Prozess so mühsam und voll von Kompromissen ist, sind mit den Jahren wieder die alten Sollbruchstellen entlang der ethnischen Strukturen aufgebrochen. Sie waren und sind ein Mittel der Abgrenzung und allen nur allzu vertraut. Jeder kann auf ethnisch motivierte Argumente nur allzu leicht zugreifen, weil sie jedem bekannt sind.

Milorad Dodik, der Führer der serbischen nationalistischen Partei in Bosnien, ist das beste Beispiel für dieses Muster. Vor 20 Jahren schien er voll reformerischem Enthusiasmus als ein Politiker, der mit Elan und liberalen Ideen an einem neuen Bosnien arbeitete. Die internationale Gemeinschaft schätzte ihn. Doch im Laufe seiner politischen Karriere konnte er sich immer weniger Gehör verschaffen – und irgendwann entdeckte er, dass er lediglich die nationalistische Karte ziehen musste, um wieder beachtet zu werden.

Provokation mit Berechnung

In Bosnien stehen Wahlen an. Wenn sich Dodik mit verurteilten Kriegsverbrechern auf eine Bühne stellt, hat das Kalkül. Es ist verantwortungslos. Seine Partei hat vor kurzer Zeit die Bürgermeisterwahl in Banja Luka gegen einen jungen Politiker verloren, der die Korruption im Lande bekämpfen will. Aus meiner Sicht hat Dodik aus alter Gewohnheit gerade deshalb die nationalistische Karte gezogen – weil man mit einer nationalistischen Apostrophierung eben auch heute noch die Korruption, unter der alle im Land leiden, über­tünchen kann.

Dodik will an der Macht bleiben, und er ist bereit, dafür sogar den Staat Bosnien und Herzegowina in Frage zu stellen. Genau da wünsche ich mir von der internationalen Staatengemeinschaft eine geschlossene Haltung. Sie könnte in diesen Debatten den Wind aus den nationalistisch aufgeblasenen Segeln nehmen. Dabei ist Dodik nur das exponierteste Beispiel, ein Meister der politischen Beleidigung und strategischer Inkontinenz.

Korruption ist wie ein Krebsgeschwür im Land.

Das Grundproblem stellt sich mir wie folgt dar: Auf dem Balkan gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, das „Gibst du mir, gebe ich dir“ lautet. Dieses Prinzip ist so dominant, dass man darüber den Blick auf den Staat als Ganzes verliert. Mit anderen Worten: Ein alter Reflex steht dem Gemeinwohl und damit der Zukunft von Bosnien und Herzegowina im Wege. Stattdessen wird mit dem Staat Schindluder getrieben. Korruption ist wie ein Krebsgeschwür im Land. Sie lässt sich nur mit einer starken, selbstbewussten Justiz bekämpfen. Gerade da gibt es deutliche Versuche von Politikern, zu intervenieren, um Einfluss nehmen zu können. Das ist für mich nicht hinnehmbar. In solchen Situationen muss die internationale Gemeinschaft vehementer eingreifen.

Als Hoher Repräsentant will ich die unabhängigen Strukturen im Land stärker verteidigen und eingreifen, wenn nötig. Das heißt zum Beispiel: die Unabhängigkeit der Gerichte verteidigen, die Berufungen und Qualifikationen der Richter transparent gestalten und sie auch kontrollieren. Wir haben dafür eine Reihe von gesetzlichen Möglichkeiten, die wir unbedingt mehr nutzen sollten. Wenn wir es nicht tun, dann werden letztendlich Posten nach ethnischen Zugehörigkeiten und – noch mehr – nach Parteizugehörigkeit vergeben. Ich finde, dass man da nachschärfen sollte. Wenn die internationale Gemeinschaft Projekte unterstützt, dann müssen Gelder vollkommen nachvollziehbar und transparent vergeben oder sonst eben gestoppt werden.

Arbeitsplätze statt Nationalismus

Dabei geht es mir vor allem um die junge Generation. Mehr als alles andere schmerzt mich, dass die Kinder nicht gemeinsam in die Schule gehen, sondern oft nach Volksgruppen getrennt unterrichtet werden. Es kann nicht sein, dass im Europa des 21. Jahrhunderts in Schulen nach ethnischer Zugehörigkeit unterschieden wird. Dieses rigide System darf keine Zukunft haben. Außerdem sollten für Junge wirkliche Zukunftsperspektiven im Land geschaffen werden. Die Arbeitslosigkeit ist enorm, und die Jobs, die es gibt, sollten nicht nach der Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder einer Partei vergeben werden.

Fakt ist, dass die Politiker der alten Kriegsgeneration es nicht geschafft haben, das Ruder im Land herumzureißen. Jetzt ist es Zeit für einen Generationswechsel und für frischen Wind. Das würde meines Erachtens dem Frieden im Land guttun.

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Conclusio

In Bosnien und Herzegowina verhindert der immer wieder aufkeimende Nationalismus der Volksgruppen das Entstehen eines staatlichen Gemeinschaftsgefühls. Stattdessen regiert wieder Misstrauen zwischen den Ethnien, Schattenwirtschaft unterwandert das demokratische Ringen um Lösungen. Das größte Problem im Land ist die Korruption. Sie ist der Grund, warum viele junge Menschen das Land verlassen, und muss bekämpft werden. Daher ist es so wichtig, die staatliche Justiz zu stärken. Ohne Rechtsstaatlichkeit sehen viele keine Zukunftsperspektive. Bei der Bekämpfung dieser Missstände muss die internationale Gemeinschaft vehementer eingreifen. Für die junge Generation ist ein Umfeld nötig, das eine Zukunft in ihrer Heimat möglich macht. Ideen fernab von Nationalismus würden Frieden und Wohlstand im Land fördern.