Quo vadis: UK nach dem Brexit

Der Brexit ist Realität – genau wie seine Folgen. Großbritannien steht vor der Herausforderung, seine Rolle in der Welt neu zu definieren. Kann auf die gescheiterte Ehe mit der EU noch eine konstruktive Partnerschaft mit Europa folgen?

Vor einem Banksy Wandbild, auf dem ein Arbeiter einen EU-Stern aus der Flagge meißelt, leuchtet eine rote Ampel
Es bleibt abzuwarten, ob der Austritt Großbritanniens Risse im Gebäude der Europäischen Union verursacht. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Kaputte Ehe. Großbritanniens „Ehe“ mit der EU war von Beginn an von Irrtümern geprägt. Die Scheidung war absehbar, aber nicht vorprogrammiert.
  • Churchills Erbe. Das Vereinigte Königreich will kein Teil der „Vereinigten Staaten von Europa“ sein. Brüssel hat die Vorbehalte im Land zu lange verkannt.
  • Großer Graben. Der Brexit ist aber nicht nur das Produkt von Nostalgie, sondern auch von einer Polarisierung der britischen Bevölkerung.
  • Neuland. Nicht Pessimismus oder Optimismus sind nun gefragt, sondern Realismus – sowohl seitens Londons als auch in der Politik Brüssels.

Der Zeitgeist der Brexit-Jahre war geprägt von Irrationalität. Sowohl das Verhalten der EU als auch die Einstellung Großbritanniens waren durch die sture Weigerung gekennzeichnet, sich in die Lage des jeweils anderen hinein zu versetzen. Wie in einer zerrütteten Ehe bemühte man sich nicht darum, „den Kindern zuliebe“ weiter zusammenzuleben, sondern stürzte sich mithilfe von Anwälten in einen langwierigen und aufreibenden Scheidungsprozess – der das Gegenüber für das Scheitern der Beziehung verantwortlich machte.

Steiniger Weg

Im September 1946 rief Winston Churchill zur „Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie“ auf. Mit der Forderung, „eine Art Vereinigter Staaten von Europa“ zu errichten, legte er jedoch auch den Grundstein für jene Missverständnisse, die den Brexit-Verfechtern letztendlich Munition für ihren Standpunkt lieferten. Churchill wollte, dass Deutschland und Frankreich ihre Konflikte überwanden, aber er verstand Großbritannien und das britische Commonwealth als Freunde und Förderer dieses neuen Europas – nicht als Teil davon.

In den Jahren nach Churchills Rede zierte sich Großbritannien zunächst und lehnte den Beitritt zum Gemeinsamen Markt ab; schließlich wurde dem Land die Mitgliedschaft angeboten, wogegen Charles de Gaulle jedoch wiederholt sein Veto einlegte. Als Großbritannien 1973 schließlich der Union beitrat, erschien dies vielen als eine Muss-Ehe. Das Land kam nicht nur verspätet zur Trauung in die Kirche – es war sich auch nicht sicher, ob es das Eheversprechen überhaupt ablegen wollte.

Frage von Kontrolle

Auch in den Jahrzehnten bis zum Brexit-Referendum wurde die EU-Mitgliedschaft in der britischen Öffentlichkeit als eine schwierige Ehe betrachtet. Im Unterschied zu anderen Teilen des Vereinigten Königreichs wuchs vor allem in England die Skepsis gegenüber dem europäischen Projekt. Das Wissen um das europäische Zusammenwirken in den beiden Weltkriegen ging verloren; an seine Stelle trat die trügerische Hoffnung auf eine friedliche, sichere und wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft Großbritanniens ohne die EU.

×

Zahlen & Fakten

Der Trommelschlag der nationalen Souveränität wurde im Lande zunehmend lauter und vernehmlicher. Doch in der Begeisterung für die Parole von der „Rückeroberung der Kontrolle“ gerieten einige der grundlegenden historischen Tatsachen, die für die europäische Integration sprachen, in Vergessenheit – wie etwa der eindrucksvolle Beitrag der Christdemokratie für den Wiederaufbau Europas oder die phänomenale Leistung herausragender europäischer Staatsmänner wie Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi.

In der Begeisterung für die Parole von der „Rückeroberung der Kontrolle“ gerieten grundlegende historische Tatsachen, die für die europäische Integration sprachen, in Vergessenheit.

Die Fehler Brüssels

Als 2016 das Referendum stattfand, glaubten viele Briten, der Brexit würde Großbritannien den Weg zur Wiedererlangung seiner Freiheit ebnen. Zudem erschien der Ausstieg aus der EU als Chance, die Fesseln einer Ehe abzuschütteln, die seit jeher auf missverstandenen Wünschen und Bedürfnissen beruhte. Die öffentliche Debatte in Großbritannien drehte sich vor allem um drei Kernbereiche: die Rückgewinnung von Kontrolle, die Immigrationsdebatte und die Lage der Wirtschaft.

Brüssel beging einen historischen Fehler, als es nicht rechtzeitig anerkannte, dass das unausweichliche Referendum mit hoher Sicherheit zu einem Austrittsvotum führen würde, solange die EU zu den beiden ersten dieser drei Anliegen keine Lösungsvorschläge anbot. Hätte sich Brüssel bemüht, internen Unterschieden Rechnung zu tragen, anstatt weiter ein „einheitliches Modell für alle“ zu propagieren, befänden wir uns heute alle in einer erfreulicheren Situation. Doch Brüssel versäumte es, auf das historische Erbe des Vereinigten Königreichs, seine Geschichte und sein Selbstverständnis in der Welt einzugehen – oder nach den Gründen für seine tief verwurzelte Abneigung gegen die Europäische Union zu forschen.

×

Großbritanniens Beitritt zur EU

19. September 1946Winston Churchill hält eine Rede an der Universität Zürich, in der er die Errichtung „einer Art Vereinigter Staaten von Europa“ fordert.
5. Mai 1949Der Europarat wird gegründet. Gründungsstaaten sind Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Schweden und Großbritannien.
25. März 1957Die Unterzeichnung der „Römischen Verträge“ führt zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft.
4. Januar 1960Großbritannien gründet gemeinsam mit Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz die Europäische Freihandelszone EFTA.
9. August 1961Großbritannien stellt erstmals einen Antrag auf Aufnahme in die Europäischen Gemeinschaften.
14. Januar 1963Unter Führung Charles de Gaulles legt Frankreich ein erfolgreiches Veto gegen die Aufnahme Großbritanniens ein.
Mai-November 1967Großbritannien stellt einen zweiten EG-Beitrittsantrag, der aber erneut durch de Gaulles Veto abgelehnt wird.
22. Januar 1972Der Beitritt Großbritanniens in die EG gelingt. De Gaulle war drei Jahre zuvor als Präsident Frankreichs zurückgetreten.
1975Ein erstes Referendum zum Verbleib des Vereinigten Königreichs in den Europäischen Gemeinschaften wird abgehalten. 67,2 Prozent der Bevölkerung stimmen dafür.

Es war vor allem das Thema der Souveränität, an dem das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU zerbrach. Hätte die EU, anstatt eine „Alles-oder-nichts“-Alternative aufzustellen, der britischen Öffentlichkeit eine dritte Option eröffnet und ihr die Möglichkeit einer auf die Mitgliedschaft im „Gemeinsamen Markt“ beschränkten Beziehung geboten, wäre das Ergebnis des Referendums mit hoher Wahrscheinlichkeit anders ausgefallen. Wahrscheinlich hätte sich sogar eine Mehrheit der Briten für die „Europäische Gemeinschaft" ausgesprochen – aber eben nicht für die „Vereinigten Staaten von Europa“.

Großbritanniens Schwächen

Das Referendum bot aber nicht nur die Gelegenheit, Nein zu einer „immer engeren Union“ zu sagen – es war auch eine seltene Chance für die britische Öffentlichkeit, den politischen Eliten einen Denkzettel zu verpassen. Die Führungsschichten Großbritanniens haben sich auf gefährliche Weise vom Puls und Herzschlag ihres Landes entfernt. Sie kommunizieren in erster Linie untereinander, und die Eliten, die im öffentlichen Dienst und in anderen Institutionen des britischen Staates (einschließlich der BBC) den Ton angeben, haben sich nie die Mühe gemacht, die britische Öffentlichkeit von der Sinnhaftigkeit „des Projekts“ zu überzeugen.

Aus Westminster oder Richmond-upon-Thames sehen viele Dinge aber ganz anders aus, als aus Blackburn, Burnley oder einer der anderen, vernachlässigten Regionen im Norden Englands. Aus diesem Grund haben sich auch viele der vermeintlich „sicheren“ Labour-Wahlkreise bei der Parlamentswahl 2019 blau umgefärbt – und auf diese Weise konservative Abgeordnete ins Parlament geschickt, die Boris Johnson dabei unterstützten, „den Brexit zu Ende zu bringen“.

Die Führungsschichten Großbritanniens haben sich auf gefährliche Weise vom Puls und vom Herzschlag des Landes entfernt.

Im Oktober 2020 wurde die 37. British Social Attitudes Survey, eine jährlich stattfindende statistische Umfrage in Großbritannien, erhoben. Sie ergab, dass sich bei den politischen Einstellungen der Briten seit 2016 wenig geändert hat. Eher im Gegenteil: „Die Befürworter und die Gegner des Brexit stehen sich heute unversöhnlicher gegenüber als vor dem Referendum.“ Zudem kam bei der Erhebung heraus, dass das Vertrauen der Bürger in den britischen Staat den niedrigsten jemals gemessenen Wert erreicht hat. In Verbindung mit dem Bedeutungsgewinn der Städte im Norden könnte dies auf längere Sicht im Vereinigten Königreich zu einer echten Dezentralisierung der Macht führen.

Die Definitionen von Erfolg

Zweifellos wird es Westminster in der Nach-Brexit-Ära nicht an hausgemachten Herausforderungen mangeln. Zu den gegenwärtigen Sorgen zählt, dass der Brexit die Rechenschaftspflicht von legislativen Prozessen untergraben oder den Friedensprozess in Nordirland belasten könnte – oder gar die Integrität des Vereinigten Königreichs gefährden. Auch gibt es Befürchtungen hinsichtlich der massiven Regulierungslücken, die durch den Wegfall von EU-Regeln entstanden sind, ohne dass ausreichend über einen Ersatz nachgedacht worden wäre.

Die Brexit-Anhänger sind davon überzeugt, dass der Brexit Großbritanniens Stellung in der Welt stärken, das Commonwealth zu einem effektiveren Bündnis machen, Großbritanniens „besondere Beziehung“ zu den USA wiederherstellen und die sicherheitspolitische Bedeutung des Landes innerhalb der NATO erhöhen wird. Es wird als Erfolg betrachtet, dass die Briten wieder selbst bestimmen können, wer ins Land kommen darf und wer gehen muss und dass Gesetze wieder in Westminster beschlossen und von den britischen Gerichten und Justizbehörden durchgesetzt werden. Die „Brexiteers“ glauben zudem, dass der Austritt aus dem Gemeinsamen Markt und der Zollunion Großbritannien die Kontrolle über die Einwanderung, die Agrar- und Fischereiverordnungen und den Güter- und Dienstleistungsbereich wiederbeschafft habe.

Die Gegner des Brexit, die „Remainers“, verweisen hingegen darauf, dass Brexit die Isolation des Vereinigten Königreichs offenlegen wird, dass den verbleibenden 27 EU-Mitgliedsstaaten durch den Austritt Großbritanniens die wirtschaftliche und politische Schwächung droht, dass durch den Brexit die französisch-deutsche Achse gestärkt wird, dass die Beziehungen Großbritanniens zu Deutschland (seinem zweitwichtigsten Handelspartner) beeinträchtigt werden und dass sich die kleineren EU-Mitgliedsländer im Stich gelassen fühlen könnten. Zudem befürchten sie, dass bei der jüngeren Generation die Reisebeschränkungen auf Widerstand stoßen werden – und dass es im öffentlichen Dienst Großbritanniens, vor allem im Gesundheitsbereich und in den Pflegeeinrichtungen, zu Personalengpässen kommen wird.

Eine Frage der Perspektive

Ob sich die Briten heute als Pessimisten oder als Optimisten betrachten, hängt in erster Linie davon ab, auf welcher Seite des Brexit-Grabens sie stehen und ob sie sich zu jenen 45 Prozent zählen, die klar für den Verbleib in der EU sind – oder zu jenen 45 Prozent, die entschieden den Austritt befürworten. Der Idealfall diktiert, dass Pessimisten und Optimisten am Ende von Realisten in den Hintergrund gedrängt werden. Diese müssen sich nicht nur in Großbritannien dafür einsetzen, dass der Brexit ein Erfolg wird, sondern auch auf dem europäischen Festland.

Ob sich die Briten heute als Pessimisten oder als Optimisten betrachten, hängt in erster Linie davon ab, auf welcher Seite des Brexit-Grabens sie stehen.

Brüssel sollte sich nicht schadenfroh die Hände reiben und darauf hoffen, dass das Vereinigte Königreich in eine Abwärtsspirale gerät, die es schließlich hinter Deutschland und dem sich zunehmend gaullistisch gebärdenden Frankreich zurückfallen lässt. Es besteht kein Zweifel daran, dass Macron und Merkel das Ausscheiden Großbritanniens nutzen werden, um ihren integrationistischen Kurs voranzutreiben. Ähnlich sicher ist aber auch, dass das schmerzhafte und fortdauernde Brexit-Drama dem Enthusiasmus ähnlich gesinnter EU-Skeptiker in anderen Teilen der Europäischen Union einen herben Dämpfer versetzt hat. Sollte Brüssel jedoch nicht gelernt haben, statt mit der Zwangsjacke mit größerer Flexibilität auf die Bedürfnisse der EU-Mitgliedsstaaten einzugehen, wird es den Brexit-Fehler erneut begehen.

Britischer Leitfaden

Auf der anderen Seite wird Großbritannien die Kunst des Umwerbens wieder neu lernen müssen, insofern es alte Freundschaften erhalten und neue knüpfen möchte. Ein ständiges Spiel mit dem Feuer, die unbekümmerte Missachtung internationalen Rechts und das Hangeln von einem verschobenen Stichtag zum nächsten werden dem Ansehen Großbritanniens nur weiter nachhaltig schädigen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob das Vereinigte Königreich über genügend Entschlossenheit verfügt, um als Wächter von Menschenrechten und der Herrschaft des Rechts aufzutreten – und ob es das Selbstvertrauen besitzt, seine Softpower und seine weitverzweigten Netzwerke zu diesem Zwecke einzusetzen. In den jetzigen Zeiten narzisstischer, nationalistischer und populistischer Führer ist die Verteidigung von Liberalismus und Demokratie keine leichte Aufgabe.

Noch ist nicht entschieden, ob sich das Vereinigte Königreich selbst neu definieren und den schmalen Grat beschreiten kann, der durch die Parole von einem „Global Britain“ und den Plänen für eine erfolgreiche „CANZUK“-Gemeinschaft – einer Freihandelsassoziation der vier englischsprachigen Commonwealth-Länder (Kanada, Australien, Neuseeland und Vereinigtes Königreich) – abgesteckt wird. Kennzeichnend für die Brexit-Weltsicht ist zweifellos die Begeisterung für eine Wiederbelebung des klassischen Freihandelskonzepts aus dem 19. Jahrhundert. Es ist durchaus möglich, dass sich neue Absatzmärkte für Großbritannien herausbilden und neue Handelsbeziehungen entwickeln werden. Im Unterschied zu den europäischen Ländern, die in den fünf Jahren vor dem Ausbruch der Covid-Krise ein wirtschaftliches Null- bzw. Minuswachstum verzeichneten, erzielten die 54 Commonwealth-Mitglieder in diesem Zeitraum eine eindrucksvolle Wachstumsrate von 7,2 Prozent.

Doch nach Corona wird die Welt anders aussehen – auch für Großbritannien. Um die gegenwärtige Pattsituation und Polarisierung zu überwinden und die Herausforderungen der Zukunft in Angriff nehmen zu können, muss das Land gemeinsam mit der Europäischen Union das gegenseitige Verhältnis auf eine neue, flexible Grundlage stellen – und auf diese Weise die Entwicklung einer starken Partnerschaft ermöglichen, die nicht auf irregeleiteten Eheversprechen beruht, sondern auf einem fundierten Verständnis von gegenseitigen Unterschieden, Bedürfnissen und Interessen.

×

Conclusio

Großbritannien hat die EU im Januar 2020 verlassen und die „Kontrolle zurückerlangt“. Nun steht das Land vor der Aufgabe, sich wirtschaftlich zu konsolidieren und die Vision eines „Global Britain“ zu mehr als reiner Rhetorik werden zu lassen. Das starre Verhalten der EU hat den Brexit-Beschluss maßgeblich mitverursacht. Das verlorene Vertrauen der Briten in den eigenen Staat und die extreme Polarisierung der britischen Bevölkerung sind aber hausgemachte Herausforderungen auf dem Weg in Großbritanniens Zukunft. Brexit ist in erster Linie ein Symptom für einen erkrankten Kommunikationsapparat: Um trotz Brexit eine Partnerschaft mit der EU aufrecht zu erhalten, müssen sowohl London als auch Brüssel lernen, stärker auf die Interessen und Bedürfnisse des anderen einzugehen.