Buchtipps: Politik & Gesellschaft

Warum beherrscht das Empire noch immer den Alltag in Großbritannien? Auf welchen Ideen basieren aktuelle politische Strömungen? Und wie klingt Krieg in den Stimmen von Zeitzeugen? Fünf Buchtipps für den Sommer – und die großen Fragen unserer Zeit.

Buchtipps Politik Sommer 2022
Noch eine Urlaubslektüre gesucht? © Der Pragmaticus/Gregor Kuntscher

Politik ist ein weites Feld, doch ihre Entscheidungen bestimmen den Lauf der Geschichte – und das oft in unvorhersehbaren Bahnen. In unseren Sommer-Buchtipps gehen fünf Autoren persönlichen und gesellschaftlichen Schicksalen auf den Grund und decken die großen Zusammenhänge von Macht, Politik und Geschichte auf.

Buchcover Internat
  • Serhij Zhadan: „Internat“
    Wie ist das Leben eigentlich, wenn Krieg ist? Das können nur diejenigen beantworten, die tatsächlich Teil davon werden. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan ist einer von ihnen. Er beschreibt den Alltag in einer Welt, in der Bedrohungen, Schikanen und Unsicherheiten regieren. Er beschreibt Heldinnen und Feig­linge, Kämpfende und Flüchtende sowie die Schwierigkeiten, die einen von den anderen zu unterscheiden. Zhadan kann das, weil Russland die Ukraine nicht erst am 24. Februar 2022 überfallen hat, sondern bereits seit 2014 im Donbass Unfrieden stiftet. Er gibt seine Eindrücke davon, was in dieser Region passiert, in Romanform wieder. Er beschreibt die Reise des Lehrers Pascha, der seinen Neffen aus einem Internat in einem umkämpften Gebiet des Landes abholen muss. Kaum Busverbindungen, Straßensperren, überall Kampfhandlungen und dazwischen Menschen, die sich plötzlich auf nichts mehr verlassen können und improvisieren. Genau das ist heute in weiten Teilen der Ukraine Realität.
    Suhrkamp, € 22,00
Empireland Buchcover
  • Sathnam Sanghera: „Empireland“
    Großbritannien ist gesättigt vom Imperialismus bis hinein in die intimsten Nischen der Sprache. Und doch ist die Geschichte, die es dem Reichtum der halben Welt zu verdanken hat, vollkommen unterbelichtet. Das ist erstaunlich, denn ebenfalls lässt sich sagen, dass ein großer Teil des Reichtums von Großbritannien auf seine Geschichte als imperiale Macht zurückgeht, auf eine Zeit, die Rohstoffe wie Menschen besonders ungeniert verwertete oder vielmehr plünderte, wie Sanghera zeigt. Zum Beispiel Shell: Das Energieunternehmen begann mit dem Import und Export von Muscheln. Liverpool und Bristol stiegen auf dem Rücken des Sklavenhandels zu Metropolen auf. Billiger Zucker, Baumwolle und Tabak schufen Vermögen und ermöglichten die Industrielle Revolution. Sanghera zeigt in „Empireland“ anschaulich und spannend mit vielen Details aus der eigenen Familiengeschichte, wie nicht nur Groß­britan­nien, sondern die gesamte moderne Welt immer noch knietief im Imperialismus steckt.
    Penguin, € 13,20
Buchcover Frei
  • Lea Ypi: „Frei“
    Die zweigeteilte Welt im Kalten Krieg, der Wettstreit zwischen Kommunismus und Kapitalismus und die Desillusion über die Versprechen der Marktwirtschaft: In jeder Epoche und für jede Ideologie war der Begriff der „Freiheit“ stets das Leitmotiv. Diesen Umstand greift die albanische Politikwissenschaftlerin Lea Ypi auf. „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ ist der Untertitel dieses wunderbar klugen Rückblicks, in dem die Geschichte Albaniens und die Familiengeschichte der Autorin kunstvoll miteinander verwoben werden. Es ist Liebeserklärung und Kritik in einem. Aus der naiven Sicht eines Kindes lässt Ypi das Regime des albanischen Langzeitpräsidenten Enver Hoxha wiederauferstehen, beschreibt mit viel Witz und Humor den Alltag in einer Mangelwirtschaft, die nach dem Fall des Eisernen Vorhanges nicht untergeht, sondern nur anders wird. Die Akteure wechseln, aber irgendwie bleibt doch alles ähnlich. Genau darin liegt der Witz dieses Buches: Lachen ist beim Lesen garantiert.
    Suhrkamp, € 28,00
Buchcover Verfluchte Neuzeit
  • Karl-Heinz Ott: „Verfluchte Neuzeit“
    Geschichte ist ein steter Fluss der Veränderung und formt sich immer an neuen Ideen, an denen sich ge­sellschaftliche Debatten entzünden. Während die einen sich an Neuem orientieren, verteidigen die anderen das Altbewährte. Der Schriftsteller Karl-Heinz Ott hat ein Buch über diesen Konflikt geschrieben und stellt die vielen Denker und Philosophen vor, die sich an der Kritik der Neuzeit abgearbeitet haben. In Wahrheit gibt es diese Diskussion schon seit gut 500 Jahren. Ott sieht ihren Ursprung bei Martin Luther und René Descartes. Der eine lehnte die Autorität einer korrupten Kirche ab, der andere feierte das freie Denken. Beiden gemeinsam ist der Glaube an den Menschen als gestaltendes Wesen. Erstaunlich aktuell: Derzeit lassen sich wieder Bewegungen orten hin zu autoritärer Führung, Tradi­tionen und Mystik (bestes Beispiel: Wladimir Putin). Wer die Denkschulen dahinter und deren politische Auswirkungen verstehen will, wird die Grundlagen in dieser um­fassenden Ideengeschichte finden.
    Hanser, € 26,00
Buchcover 1977
  • Philipp Sarasin: „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“
    Ein Jahr als Wendepunkt – das ist die These des Schweizer Historiker Philipp Sarasin. Aber warum ausgerechnet 1977? Es ist das Jahr, in dem Hanns Martin Schleyer von der RAF ermordet wird, der US-Präsident Jimmy Carter die Grundlagen zur Durchsetzung von Menschenrechten und ­damit Identity-Politik schafft, und die sexu­elle Revolution, New Age und Esoterik integriert. Zudem werden PC und Internet erfunden und der Neoliberalismus gesellschaftsfähig gemacht. Dieser Mix, so Sarasins Befund gefährdet die Demokratie – bis heute.
    Suhrkamp, € 32,00