Zeitenwende überall? Nicht in Deutschland
Die Verteidigungsbudgets bleiben mickrig: Deutschland will in Wahrheit keine Zeitenwende in Gestalt militärischer Stärke. Die Fehler, die es mit Russland machte, könnten sich daher leicht bei China wiederholen.
Auf den Punkt gebracht
- Klare Worte. Deutschland hat nach beginn des Ukraine-Kriegs angekündigt, mehr Verantwortung für die europäische Sicherheit zu übernehmen.
- Taten fehlen. Die von Verbündeten erhoffte Aufrüstung und strategische Vision Deutschlands enttäuschten bisher die Erwartungen.
- Vorbild. Australien hat auf die zunehmende Aggressivität Chinas schnell und entschieden mit einer neuen Sicherheitsstrategie reagiert.
- Fehlersuche. Berlin sollte Fehleinschätzungen in Bezug auf Pazifismus, Russland und Energie eingestehen, um seiner strategischen Rolle gerecht zu werden.
Wenige Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine versprach Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Bundestag, dass Deutschland endlich seine Verantwortung für den Frieden in Europa mit übernehmen würde. Immerhin sei es dieser Frieden gewesen, der Deutschland zu Wohlstand gebracht hatte – auch wenn ihn die längste Zeit die anderen NATO-Verbündeten sicherten. Die Frage, wie sich Deutschland in Europas Sicherheitsarchitektur positioniert, ist somit weit über seine Grenzen hinaus höchst relevant.
Kampf um die Weltherrschaft
Scholz verkündete, inzwischen oft zitiert: „Wir erleben eine Zeitenwende.“ Das war so etwas wie die Stunde null für eine neue strategische Ausrichtung. Aber wie weit ist das Land viele Monate später bei seiner militärischen Neupositionierung gekommen?
Deutschland knausert bei der Zeitenwende
Einige Veränderungen in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik sind zweifellos im Gange. Das Land investiert einmalig 100 Milliarden Euro in seine finanziell ausgehungerten Streitkräfte. Außerdem soll die amerikanische F-35 – ein Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeug der fünften Generation von Lockheed Martin, das auch Atomwaffen tragen kann – angeschafft werden. Gleichzeitig hat die Regierung ihre grundsätzliche Ablehnung einer militärischen Unterstützung für die Ukraine aufgegeben.
Deutschland hat sich der veränderten Situation auch wirtschaftlich angepasst: Die Gaspipeline Nordstream II, ein Putin-Schröder-Freundschaftsprojekt, wurde gestrichen. Der Krieg hat auch die Konturen der deutschen Politik verändert – allen voran jene der Grünen. Sie betonen nun die Solidarität mit der ukrainischen Demokratie und den Menschenrechten, auch wenn dies ihren pazifistischen Überzeugungen widerspricht.
Aus deutscher Perspektive mögen diese Veränderungen beeindruckend sein. Von außen betrachtet deuten die letzten acht Monate jedoch darauf hin, dass die Bundesrepublik wieder in alte Muster zurückfällt.
Die erste Enttäuschung war der Verteidigungshaushalt: Scholz’ Bundestagsrede erweckte den Eindruck, dass über die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr hinaus auch das Verteidigungsbudget erhöht werden würde. Das war aber nicht der Fall. Trotz des Kriegs in der Ukraine ist Deutschlands Verpflichtung gegenüber seinen NATO-Verbündeten, mindestens zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben, wieder ins Wanken geraten.
Zahlen & Fakten
Unter Verwendung des Sondervermögens plant die Regierung, ihre Verpflichtung erst im Jahr 2024 zu erfüllen – was eine Lücke von etwa 18 Milliarden Euro hinterlässt. Zum Vergleich: Für russisches Erdgas dürfte Deutschland heuer laut Schätzungen von Greenpeace rund die gleiche Summe ausgeben.
Deutschland ist nicht in Wende-Stimmung
Es ist auch nicht klar, welchen Beitrag Deutschland mit diesem bescheidenen Verteidigungsbudget zur Sicherheit Europas zu leisten gedenkt. Noch gibt es keine konkrete Vision für die künftige Sicherheitspolitik, obwohl dies noch im ersten Jahr der Koalition versprochen wurde. Die Regierung will einen „breiten Sicherheitsbegriff“ anwenden, wie es hochoffiziell heißt. Was dahintersteht, bleibt abzuwarten. Zumal Deutschland bisher gar keinen sicherheitspolitischen Blick auf die Welt hatte, dürfte ein derart weit gefasster Ansatz zu keiner wirksamen Strategie führen.
Und beim Versuch, die Ukraine mit Rüstungsgütern zu unterstützen, behindert eine komplizierte Bürokratie effektive Hilfe. Symbolisch dafür mag der gescheiterte Panzer-Ringtausch stehen, bei dem Deutschland Länder wie Polen mit deutschen Waffensystemen entschädigen wollte, die bereits ähnliche Waffen an die Ukraine geliefert hatten. Bisher wurde kein einziger deutscher Panzer der Typen Leopard bzw. Marder weitergegeben. Im Ausland entstand prompt der Eindruck, dass Berlin entweder inkompetent oder zutiefst unwillig ist, seine Versprechen einzuhalten.
Wem nützt die deutsche Zeitenwende?
Auch kulturell und intellektuell tut sich Deutschland schwer: Bemerkenswert ist, dass selbst die sanfte Haltung der Regierung einigen Deutschen als zu forsch erscheint. In offenen Briefen raten prominente Intellektuelle ohne einschlägige regional- oder sicherheitspolitische Expertise den Ukrainern gern, noch mehr Territorium abzugeben – obwohl es reichlich Beweise dafür gibt, wie russische Soldaten mit der Bevölkerung umgehen, die sie „befreit“ haben.
Ist es überhaupt möglich, die Grundlagen von Verteidigungs-, Wirtschafts- und Außenpolitik so schnell zu verändern? Australien hat gezeigt, dass so etwas durchaus geht. So wie Deutschland ist es ein mittelgroßer amerikanischer Verbündeter, dessen Wirtschaft in den letzten Jahren von China abhängig wurde – einem zunehmend aggressiven autokratischen Staat.
Deutsche Realitätsverweigerung
Doch der Unterschied ist offensichtlich: Deutschland kümmerten russische Aggressionen wie die Besetzung der Halbinsel Krim oder der Aufstand im Donbass kaum. Auch dass 2014 ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines von prorussischen Separatisten abgeschossen wurde und Russland Killerkommandos in den Westen (sogar nach Berlin) entsandt hatte, wurde in der Bundesrepublik geflissentlich ignoriert.
Im Gegensatz dazu ging Australien entschlossen gegen Chinas Ambitionen auf territoriale Expansion im Pazifik und Verstöße gegen das Völkerrecht vor. Nachdem Australien es jahrelang vermieden hatte, China zu provozieren, löste die neue Haltung umgehend eine Erhöhung der Militärausgaben aus. Der Pazifikstaat sieht den Aufstieg Chinas nun als grundlegende strategische Herausforderung an. Daher investiert Australien nun zwei Prozent des BIP in die Verteidigung und schafft etwa US-britische Atom-U-Boote an.
In Deutschland hält man weiterhin daran fest, dass es früher richtig war, Putin zu vertrauen.
Warum hat es Australien geschafft, neue Realitäten zu akzeptieren und sich ihnen anzupassen, Deutschland aber nicht? Ein wesentlicher Grund steckt in dem Begriff, den Scholz in seiner Februar-Rede verwendete: „Zeitenwende“ bedeutet, dass die Zeiten sich geändert haben. In Deutschland hält man weiterhin daran fest, dass es früher richtig war, Putin zu vertrauen – und dass die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland vernünftig waren. Es wird einfach als Pech gesehen, dass es nicht so gekommen ist, wie man in Berlin gedacht hatte. Diese bequeme Ausrede greift jedoch nicht, wenn die Deutschen die Dinge künftig anders machen wollen. Eine bessere strategische Ausrichtung kann es nur geben, wenn das Land seine Fehler eingesteht.
Drei große Fehleinschätzungen
Die deutsche Politik hat sich in mindestens drei Bereichen geirrt: bei Russland, bei der Rolle militärischer Gewalt und in Sachen Energieversorgung.
- Russland: Deutschland war lange Zeit stolz darauf, seine Partner in Moskau so gut zu verstehen, und glaubte, diese Beziehungen zum eigenen Vorteil nutzen zu können. Nach der Wiedervereinigung war Deutschland aufgrund seiner Beziehungen zu Moskau gegenüber anderen östlichen Nachbarländern weiterhin privilegiert. Das führte dazu, dass in öffentlichen Debatten häufig russische Ansichten vertreten wurden – wobei der Einfluss zwischen den beiden Ländern in die-selbe Richtung fließt wie das Erdgas von Gazprom. Soll heißen: Russland wurde davon nicht demokratischer, andererseits stimmte Deutschland dem Bau von Nord Stream 2 zu – einem undurchsichtigen Pipeline-Projekt, an dessen Spitze mit Matthias Warnig ein ehemaliger Stasi-Offizier stand.
- Die nächste Fehleinschätzung: dass eine selbstgerechte Version von Pazifismus politisch international irgendetwas bewirkt. Wenn Deutschland gegen den Krieg ist, muss es konkrete bewaffnete Konflikte verhindern oder beenden. Bei einem Krieg geht es nicht darum, den Frieden als Konzept zu töten – sondern darum, dass Russen Ukrainer töten.
Wenn Deutschland zu seinen Werten stehen will, sollte es sie überzeugender vertreten, indem es die Ziele benennt und Mittel findet, um sie zu erreichen. Dazu gehört die Bereitschaft, das militärische Gleichgewicht zu beeinflussen. Welche Art von Militär ist dafür am besten geeignet? Eines, das nur an der Seite der NATO unter amerikanischer Führung kämpfen kann? Oder eine Truppe, die an der Seite europäischer Partner am effektivsten ist? Oder gar eine Bundeswehr, die eines Tages sogar auf sich allein gestellt sein könnte? Ist es das Ziel, eine glaubwürdige Abschreckung gegen Moskau aufzubauen, oder reicht es, im Ernstfall sich selbst schützen zu können? Solche Überlegungen sollten bestimmen, ob Deutschland seine Investitionen in bestimmte Land-, Luft- oder Seestreitkräfte lenkt.
- Der dritte Bereich ist die Energie: Gleichzeitig aus Kohle- und Kernenergie aussteigen zu wollen, bevor es nachhaltige Alternativen gab, hat Industrie und Haushalte von der russischen Gasversorgung abhängig gemacht. Die traurige Wahrheit, dass nämlich ein Energieprojekt wie Nord Stream 2 auch als politische Waffe eingesetzt werden kann, wollten Deutschlands Politiker vor 2022 einfach nicht wahrhaben. Moskaus Strategie ist es, die deutschen Gedanken mittels reduzierter Gaslieferungen auf die wirtschaftlichen Auswirkungen zu lenken.
Die Ergebnisse dieser vorsätzlichen Verblendung sind nun die große Herausforderung für den kommenden Winter. Erst wenn Berlin die erwähnten Fehler einsieht, kann ein neues strategisches Konzept entstehen, das es dem Land ermöglicht, in Europa einen positiven, an seinen Werten orientierten Einfluss auszuüben.
Die Zeitenwender: Putin und Xi Jinping
Bis dahin ist das Land auf bestem Wege, sich bloß durchzuwurschteln und unentschlossen auf die Entscheidungen der anderen zu reagieren. Andere Möglichkeiten – etwa mit Frankreich eine strategische Autonomie Europas anzustreben – würden genau die Sorte strategischen Denkens erfordern, an der es Deutschland so schmerzlich mangelt.
Eine Folge dieses strategischen Analphabetentums ist, dass Deutschland ein Juniorpartner der USA bleiben wird. Die Frustration in Washington über einen unentschlossenen und selbst-gerechten Verbündeten könnte ein ernsthaftes Problem werden, wenn ein Donald Trump (oder ein ähnlich gestrickter Präsident) im Jahr 2025 ins Weiße Haus einziehen sollte.
Es bedeutet auch, dass sich ein abhängiges Deutschland in einem Konflikt mit China auf die Seite der USA stellen müsste, was seiner Industrie wirtschaftlich enorm schaden würde – nicht zuletzt, weil die Deutschen mit Xi Jinping denselben Fehler zu begehen scheinen wie schon mit Putin.
Conclusio
In Deutschland wird seit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ beschworen. Die Regierung kündigte an, mehr Verantwortung für Sicherheit und Frieden in Europa übernehmen zu wollen – eine langjährige Forderung der NATO-Partner an Deutschland. Eine Zwischenbilanz zeigt jedoch, dass Berlin nur halbherzige Schritte setzt, sowohl um die Ukraine zu unterstützen als auch die eigenen militärischen Fähigkeiten auszubauen. Das Land müsste zunächst Fehleinschätzungen in Bezug auf Russland, passiven Pazifismus und die Energieversorgung eingestehen, bevor es eine klare Sicherheitsstrategie verfolgen kann. Bis dahin bleibt die Bundesrepublik Juniorpartner der USA und ist mit Blick auf einen künftigen Konflikt mit China ähnlich exponiert wie jetzt gegenüber Russland.