Höchste Zeit für eine EU-Armee?
Die EU möchte schon lange eine gemeinsame Verteidigungspolitik verfolgen, viele Politiker fordern mehr Unabhängigkeit von den USA und der NATO. In der Praxis ist daraus nicht viel geworden.
Europa als Garten, die weite Welt als Dschungel – Josep Borrell hat mit diesem Teil einer Rede vom Herbst 2022 viel Kritik geerntet. Das kam nicht von ungefähr, er ist immerhin der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik.
Ob bewusst oder unbewusst: Wenn europäische Repräsentanten derartige Sprachbilder verwenden, schwingt Kolonialgeschichte mit. Kein unheikles Thema.
Die dahinterstehende Frage ist dennoch eine, mit der wir uns in Europa auseinandersetzen müssen: Wie halten wir – Europa, die EU, ihre Mitglieder, die Europäer – es mit der Welt da draußen? Wie halten wir es mit Russland und, auf lange Sicht, auch China?
Keine neue Grundsatzdebatte. Borrells Vergleich war wohl nicht seine Idee, finden wir diese Beschreibung doch in Robert Kagans Buch(titel) The Jungle Grows Back: America and Our Imperiled World aus dem Jahr 2018. Darin geht es einerseits um die Sonderrolle und das Selbstverständnis der USA und andererseits darum, wie „der Westen“ sich im Kampf der Systeme und Ideologien verhalten soll.
EU-Armee als Reizwort
Analog zu den USA ringt auch Europa mit sich selbst. Das ist nichts Neues, das tut es seit Jahrhunderten, nach innen wie nach außen, von der Bulle Inter caetera 1493 – mit der der Papst den Herrschaftsanspruch über die neu „entdeckten“ Gebiete begründete – über den „Wettlauf um Afrika“ bis hin zu den beiden Weltkriegen und der Entstehung der Europäischen Union. Die Geschichte ist zu lang und zu bekannt, um sie hier näher auszuführen.
Fest steht, dass mit der Gründung der EU der Krieg gegeneinander einem geopolitischen Miteinander gewichen ist. Oder zumindest der Vision eines solchen: Die Präambel des Vertrags über die europäische Union spricht davon, dass zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) „auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, und so die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern“.
Wirtschaftlich Großmacht, militärisch ein Zwerg
Vereinfach gesagt sollen die EU und ihre Mitglieder nicht nur als Wirtschafts-, sondern auch als ein geopolitischer und letztlich militärischer Block auftreten. Einzeln haben schließlich weder Frankreich oder Deutschland noch kleinere Länder wie Österreich allzu viel Gewicht. Zwar sind mit Italien (Platz 10), Frankreich (Platz 7) und Deutschland (Platz 4) drei EU-Mitgliedsländer in den Top-10 der größten Volkswirtschaften der Welt. Nur: Das chinesische BIP beläuft sich auf 18,321 Billionen US-Dollar, jenes der USA auf 25,035, Italien liegt bei lediglich 1,997, Frankreich bei 2,778, Deutschland bei 4,031 Billionen – von ihren global gesehen lachhaft kleinen Bevölkerungen ganz zu schweigen. In Europa gibt es nur kleine Länder, es wissen nur nicht alle, wie manche EU-Diplomaten zu sagen pflegen.
Zahlen & Fakten
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Das zeigt sich erst recht im militärischen Bereich. So sind mit Frankreich und Italien (nur) zwei Länder in den Top-10 der – laut Global Firepower Index – stärksten Armeen der Welt. Vor allem Deutschland lässt hier aus, der halbmarode Zustand der Bundeswehr ist schon lange Gegenstand intensiver Debatten. Auch Frankreich hat in den letzten Monaten seine Grenzen aufgezeigt bekommen, als es sich aus drei afrikanischen Ländern (Mali, Burkina Faso und die Zentralafrikanische Republik) zurückziehen musste. Das Vereinigte Königreich – das laut Global Firepower Index über die fünftstärkste Armee der Welt und damit die stärkste Europas verfügt – ist wiederum bekanntlich nicht mehr EU-Mitglied.
Gemeinsam ist man stärker, würde also auch hier die Devise lauten. Nur ist Europa davon nach wie vor weit entfernt. Mag die EU auch manch apokalyptischen Vorhersagen zum Trotz weder nach Brexit noch während der Coronavirus-Pandemie auseinandergebrochen sein, sondern – ganz im Gegenteil – daraus geeinter hervorgegangen sein (um die Position zum Vereinigten Königreich gab es keine große Streitigkeiten und Impfstoffe wurden gemeinsam beschafft): Die großen Reformschritte sind ausgeblieben, vielmehr scheint der status quo des Vertrags von Lissabon auf unabsehbare Zeit eingefroren. Das betrifft auch die GASP: Mag man auch seit 2018 mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) durchaus einige wesentliche Schritte gemacht haben, eine „EU-Armee“ wird es bis auf weiteres nicht geben.
Wöchentlich im Email
Das sollte keinen überraschen. Der Widerspruch zwischen Zusammenarbeit und der Übertrag von Kompetenzen auf der einen und traditioneller Souveränität auf der anderen Seite begleitet die EU seit ihren Gründungstagen. Weder wollen die EU-Mitglieder ihre eigenen Armeen aufgeben – die mitsamt dem dazugehörigen Verwaltungsapparat der wohl wesentlichste Wesensbestandteil moderner Staaten darstellen – noch übergeordnete „paneuropäische“ Streitkräfte schaffen. Man traut es sich kaum sagen, aber derartige Schritte gäbe es wohl erst im Falle eines Krieges gegen die EU beziehungsweise einiger ihrer Mitglieder: „Kriege machen Staaten und Staaten führen Kriege“, wie es der Historiker Charles Tilly formulierte. Das gilt wohl auch für die EU.
Abhängigkeit von den USA
Damit bleibt Europa bis auf Weiteres von den USA abhängig. Bezeichnenderweise führte die finnische Premierministerin Sanna Marin zu den NATO-Aspirationen ihres Landes Anfang Dezember 2022 einmal mehr aus, dass Europa nicht „stark genug“ sei, um dem russischen Angriff auf die Ukraine allein standzuhalten: „Ohne den USA wären wir in der Bredouille“.
So darf man sich fragen, was unter Donald Trump (nicht) passiert wäre. Er selbst hat sich im Februar 2022 ja gewohnt zweideutig geäußert, indem er einerseits Putins Intelligenz gelobt („he’s smart“) und anderseits seine Gewissheit bekundet hat, dass der Angriff mit ihm als Präsidenten nicht stattgefunden hätte („wenn er unseren Präsidenten respektieren würde, wäre das niemals passiert“). Das ist keine rein akademische Frage, irgendwann werden die USA einen Commander in Chief wählen.
Und neben Trump selbst ist die US-amerikanische Rolle bei der europäischen Verteidigung auch bei anderen potentiellen Präsidenten alles anderes als gewiss. Zur Erinnerung: Die NATO beinhaltet eine politische, aber keine rechtliche Verpflichtung, einander mit Waffengewalt zu verteidigen. Die USA wollten bei den damaligen Verhandlungen im Ernstfall selbst entscheiden, ob sie Soldaten nach Europa schicken oder nicht. Wenn sie nicht wollen, wollen sie nicht.
Europa täte also gut daran, seine Verteidigung nicht (mehr) auf die USA auszulagern. Was freilich nichts daran ändert, dass die europäische Abhängigkeit von den USA bis auf Weiteres anhalten wird. Der Aufbau schlagkräftiger Armeen braucht viel Zeit und einen entsprechenden politischen Willen, ja gar kollektives Umdenken. Zumal selbst der russische Angriff auf die Ukraine keinen Einigungsmoment gebracht hat.
Vielmehr wurde ein merklicher Gegensatz zwischen den EU-Ländern des ehemaligen Ostblocks auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite klar ersichtlich. Insbesondere Olaf Scholz ist des einen besonnener Kanzler und des anderen Bremser. Wenn es um „leadership“ geht, blicken viele dann doch lieber nach Washington als nach Brüssel, Berlin oder auch Paris.
Zurück zum Garten
Die USA füllen also bald acht Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch die Lücke, die aus der fehlenden europäischen Einheit folgt. Das steht im merklichen Widerspruch zur – vor allem in den letzten Monaten, aber sonst auch – oft gehörten anti-amerikanischen Rhetorik mitsamt der oft gehörten These, dass die USA gar nicht wollen, dass Europa sich emanzipiert und ein eigenständiger militärischer Player wird.
Nur: Dazu braucht es keine große Verschwörung. Die Gegensätze innerhalb der EU sind ganz ohne die USA groß genug. Abgesehen davon geben viele europäischen Länder ihr Geld dann doch lieber für Soziales als für ihre Streitkräfte aus. Was verständlich ist, aber eben nur so lange gut geht, wie niemand sonst die europäische Ruhe stört. Womit wir wieder bei Borrells Garten wären.