Gletscher – Gefahr aus kaltem Eis

Der Klimawandel kann aus temperierten Gletschern kaltes Eis machen. Ist dies eine Ursache für Gletscherstürze? Die Glaziologin Mylène Jacquemart geht dieser These nach.

Mylène Jacquemart in Alaska bei der Vorbereitung von Forschung über Gletscher und Gletshertäler. Sie hält einen roten Eimer in der Hand und schüttet aus diesem eine Schlammmischung gegen eine Eiswand. Es ist der Rest eines Gletschers.
Mylène Jacquemart bei der Untersuchung einer Eislawine an einem Gletscher in Alaska. Die Lawine floss fast zehn Kilometer weit: „Wir wollten verstehen, welche Spuren solche Ereignisse in der Landschaft hinterlassen, um einzuschätzen, wie häufig solche Ereignisse in der Vergangenheit waren und ob sie mit dem Klimawandel häufiger werden.“ © Ethan Welty

Am 3. Juli 2022 kam es am Marmolata-Gletscher in den Dolomiten zu einem Gletscherbruch, in dessen Folge elf Menschen starben. Mylène Jacquemart fragt sich, ob Katastrophen wie diese mit dem Klimawandel häufiger werden und vielleicht mit den Eistemperaturen zu tun haben: Eis kann nämlich mit der Erderhitzung paradoxerweise kälter werden und das macht Gletscher möglicherweise instabil. Im Interview erklärt die Glaziologin der ETH Zürich, was es mit diesem kalten Eis auf sich haben könnte, und warum sie denkt, dass der Prozess des Klimawandels mehr Beachtung braucht: „Die Vorstellung, wir gingen jetzt durch eine Phase des Wandels an dessen Ende ein stabiles Klima steht, ist naiv“, sagt sie.

Frau Jacquemart, was beschäftigt Sie gerade?
 
Mylène Jacquemart: Gerade denke ich viel über Eistemperaturen nach. Und zwar Eistemperaturen im Zusammenhang mit Naturgefahren. Sie erinnern sich vielleicht an das Unglück im Sommer 2022 auf der Marmolada in den italienischen Alpen. Der Marmolada-Gletscher hat sich in den letzten Jahren in viele kleine, eigentlich ganz unscheinbare Gletscherreste geteilt. Ein kleiner Teil hat sich plötzlich gelöst und stürzte mit Wasser und etwas Geröll den Berg herunter, was leider elf Bergsteigern und Bergsteigerinnen das Leben kostete. Anzeichen, dass ein solcher Absturz bevorstand, gab es nicht. Eine Hypothese, die dieses Geschehen erklären könnte ist, dass der vordere Teil des Gletschers aufgrund der Klimaveränderung kälter geworden ist und am Fels festgefroren war.

Drohnenaufnahme des Kraters, der durch den Gletscherbruch am Marmolata-Gletscher in Italien entstand. Der Gletscher war nur noch ein Fragment. Neben dem Krater aus schmutizigem Eis ist vor allem Fels zu sehen.
Der Krater, den der Gletschersturz am 3. Juli 2022 auf der Marmolata hinterließ. Das Eis hatte sich auf zweihundert Metern Breite gelöst und riss Felsbrocken und Geröll mit in die Tiefe auf einen vielbegangenen Steig. Elf Menschen starben. © Getty Images

Wieso wäre festgefrorenes Eis ein Problem? Es klingt für mich nach einer stabilen Situation.
 
Die Vermutung ist, dass sich bei der Marmolata in einer Gletscherspalte Wasser angesammelt hatte. Der Druck dieses Wassers wurde irgendwann so groß, dass das davor liegende Eis weggesprengt wurde und sich eine große Eislawine ins Tal wälzte. Wäre die Temperatur des Eises bei null Grad gelegen, hätte sich das Wasser einfacher einen Weg durch das Eis ausschmelzen können, und es wäre vermutlich nicht zu dem Gletschersturz gekommen. Wir versuchen jetzt über detaillierte Modellierungen und Messungen festzustellen, ob wir dieses Abkühlen besser verstehen können.
 
Ist Eis nicht immer kalt? Welche Temperaturen haben denn Gletscher?
 
Die Temperatur von Gletschereis liegt bei den großen Alpengletschern in der Regel bei null Grad Celsius. In diesem Fall sprechen wir von „temperierten“ Gletschern. Ist die Temperatur unter null, sprechen wir von kaltem Eis. Wie kalt oder „warm“ das Eis ist, hängt von vielen Faktoren ab, einen großen Einfluss hat aber sicherlich die Schneedecke.

Vor dem Verschwinden des Eises wird der Energiehaushalt der Gletscher durcheinander geraten.

Aber warum sollte das Eis überhaupt kälter werden? Wenn es in den Bergen mehr regnet, wäre doch zu erwarten, dass es einfach immer weniger Eis gibt.
 
Das wird auch irgendwann so sein, allerdings ist es kurz- und mittelfristig vielleicht etwas komplizierter und nicht ganz intuitiv. Während einer Übergangszeit wird der Energiehaushalt der Gletscher durcheinander geraten: Stellen Sie sich einen Gletscher mit Schneedecke vor. Die Sonne schmilzt die oberen zwei Zentimeter dieser Schneedecke, das Wasser dringt in die Schneedecke ein und trifft irgendwo auf Schnee, der vielleicht minus drei Grad hat. Das Wasser gefriert wieder. Dieses Gefrieren bedeutet, dass dieselbe Menge Energie, die zuvor für das Schmelzen des Schnees aufgewendet wurde, wieder freigesetzt wird. Die umliegende Schneedecke wird dadurch leicht erwärmt. Wenn dieser ganze Prozess oft genug hintereinander abläuft, dann hat die Schneedecke am Ende eines Sommers null Grad. Wenn dieser Schnee zu Eis wird, dann hat dieses Eis auch null Grad. Das ist oder war der Normalfall bei den meisten großen Alpengletschern. Wenn die Schneedecken nun fehlt, dann fließt Schmelzwasser einfach über die Oberfläche des Gletschers weg, und die wärmende Energie des Wiedergefrierens (latente Wärme) ist verloren. Ohne die isolierende Schneedecke kann dann die Kälte im Herbst und Frühwinter einfacher in das Eis eindringen, möglicherweise so weit, dass das Eis am Untergrund anfriert. Hinzu kommt, dass diese kleinen Gletscherreste kaum mehr fließen, sie generieren also auch weniger Reibungswärme, dass zusätzlich zur Abkühlung beitragen kann.  
 
Wie lang wird diese Phase dauern?
 
Das wissen wir nicht. Es gibt bisher nur ein paar wenige Studien, die diese Zusammenhänge für einzelne Gletscher untersucht oder modelliert haben. Wir wissen im Moment auch nicht genau, auf welchen Höhen die klimatischen Zonen sind, in denen das passieren kann. Es wird Gegenden mit viel Niederschlag geben, wo die isolierende Schneedecke länger erhalten bleibt und andere, wo das nicht der Fall ist. Es hängt von vielen Faktoren ab – von Lawinen, der Lage der Gletscher, ihrem Zustand usw. Solche Übergangsphasen zu modellieren ist aufwändig, und auch das Messen von eigentlichen Eistemperaturen im Feld ist kompliziert und logistisch aufwändig. Es bringt zum Beispiel nicht viel, wenn wir nur die Temperatur der obersten zwei oder drei Meter messen, denn dort sieht man nur den Einfluss der jährlichen Schwankungen. Wir gehen also mindestens bis 15 Meter hinunter, und das braucht sehr viel Material und Zeit. Messungen von anderen Studien gibt es relativ wenige, und häufig dienen sie nicht genau unserem Zweck.

Ein Fjord in Alaska. Im HIntergrund sind Gletscherreste auf hohen Bergen zu sehen. In dem Tal gehen drei Menschen mit Rucksäcken auf die Berge zu.
Bei der Erforschung der Eislawine in Alaska. © Ethan Welty

2023 war das heißeste Jahr der Messgeschichte, besonders besorgniserregend sind die derzeit immer noch hohen Temperaturen der Meere. Wie war 2023 für die Gletscher?
 
In den Europäischen Alpen war der Masseverlust 2023 zwar nicht so dramatisch wie 2022, aber es war trotzdem wieder ein sehr schlechtes Jahr. Der Winter 2022/23 war viel zu trocken. Dieses Jahr hat der Winter zumindest für die Gletscher nicht ganz schlecht begonnen. Ende 2023 hatten wir in hohen Lagen mehr Schnee als dies in den zwei Wintern zuvor teilweise je der Fall war. Wie das Jahr verlaufen wird, wissen wir aber erst Ende September, wenn der neue Winter beginnt. Man verliert bei solchen Betrachtungen leicht aus den Augen, dass man die Vergleiche auf einem bereits problematischen Niveau macht. Wenn dieser Winter „besser“ ist als der vorige, dann ist das kein Grund aufzuatmen. Die Dringlichkeit gegenzusteuern, wird von Gesellschaft und Politik immer noch nicht verstanden, obwohl dauernd „Rekorde“ gebrochen werden.
 
Was bedeutet vor diesem Hintergrund „Übergang“? Was kommt danach? Ist der Übergang zu einem anderen Klima chaotisch, und dann wird es gut?
 
Die Vorstellung, wir gingen jetzt durch eine Phase des Wandels, an dessen Ende ein stabiles Klima steht, ohne dass wir unser Verhalten ändern, ist naiv. Irgendwann wird sich das Erdklima natürlich wieder einpendeln, aber nicht in einem für den Menschen fassbaren und relevanten Zeitraum. Es geht jetzt darum, ein einigermaßen lebbares Gleichgewicht für die nächsten Jahrzehnte und möglicherweise Jahrhunderte zu schaffen, denn was am anderen Ende ist, können wir uns nicht annähernd vorstellen; es wird ein Klima sein, in dem wir kaum leben können. Wir müssen in der Nähe von 1,5 Grad bleiben. Und da sehen wir uns bereits jetzt mit einigen Problemen konfrontiert. So schaffen wir es ohne Methoden, CO2 aus der Atmosphäre zu entfernen, nicht mehr – aber diese Methoden sind noch bei weitem nicht in dem Maße skalierbar, wie wir das brauchen. So oder so wird es massiv teuer, und es wird immer komplizierter, je länger wir nichts tun, und die Probleme an die nächste Generation weitergeben. Ich denke, es braucht wirklich einschneidende Maßnahmen, und die nächsten fünf bis maximal zehn Jahre sind entscheidend.

Über Mylène Jacquemart

Foto von Mylène Jacquemart.
Mylène Jacquemart. © Anne-Aylin Sigg

Mylène Jacquemart ist Glaziologin und forscht an der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich sowie an der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Schwerpunkte ihrer Forschung sind Naturgefahren in alpinen und polaren Regionen, insbesondere Gletscherinstabilitäten und -abbrüche.

Über diese Serie

„Was beschäftigt Sie gerade?“ ist eine Interviewreihe des Pragmaticus, in der unsere Expertinnen und Experten von ihrer Forschung und allem, was sie beschäftigt erzählen. Die Themen und der Umfang des Gesprächs sind offen.

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