„Musiktherapie sollte verschrieben werden“

Musik ist viel mehr als nur schöner Klang, sie wird auch bei der Therapie vieler Krankheiten eingesetzt. Die Opernsängerin Renée Fleming im Interview über die heilende Kraft der Musik, Glücksgefühle und die Kunst des tiefen Atmens.

Illustration einer singenden Frau
Musik ist eine Wohltat für Körper und Seele zugleich. © Getty Images

Die Opernsängerin Renée Fleming ist eine der bekanntesten Opernsängerinnen Amerikas und trägt den Beinamen „The Beautiful Voice“. Die Sopranistin engagiert sich seit 2016 am John F. Kennedy Center in Washington für einen interdisziplinären Zugang zwischen Musik und ­Medizin und lädt unter dem Titel „Music & Mind“ ­berühmte Forschende aus unterschiedlichen ­Fachrichtungen zum Talk live auf Zoom ein.

Frau Fleming, Sie sind eine der berühmtesten Opernsängerinnen der Welt. Ihr Instrument sind ihre Stimmbänder. Können Sie beschreiben, wie Sie Musik erleben?

Renée Fleming: Als unbändige Freude. Das war schon immer so und auch der Grund, warum ich heute Sängerin bin. Schon als Kind hat mich Singen sehr glücklich gemacht. Ich bekomme dabei immer das Gefühl, ein ganz neues Wesen zu werden.

Woran liegt das?

Es gibt mittlerweile viele Studien, die zeigen, dass der Vagus-Nerv eine wichtige Rolle bei diesem Glücksgefühl spielt. Es ist der zehnte unserer zwölf Hirnnerven und entspringt im Stammhirn. Und genau das ist eine Region, in der sehr viele Körperfunktionen automatisch reguliert werden. Wir haben auf sie keinen Einfluss, können und sie auch nicht bewusst ansprechen. Musik schafft das.

Renee Fleming
Renée Flemming wünscht sich, dass Musiktherapie eines Tages genauso verschrieben wird wie Medikamente. © Andrew Eccles

Was beeinflusst Musik?

Das Atmen, den Herzschlag, unsere Verdauung. Das sind alles Körperfunktionen des sogenannten vegetativen Nervensystems. Das Fantastische dabei ist, dass Musik über die Atmung indirekt auf sie einwirken. Deshalb ist Musik auch so wichtig.

Meinen Sie Musik als aktive oder passive Beschäftigung? Die Mehrheit hört eher Musik?

Dass das Singen aus dem Alltag der meisten verschwindet, ist so schade. Jeder sollte, so wie wir Sängerinnen es täglich machen, einmal versuchen, einen langen Atem zu halten und beobachten, was dann im Körper passiert. Wir müssen das in unserem Beruf beherrschen, doch einen langen Atem zu haben, hat theoretisch für jeden eine tolle Wirkung.

Welche?

Ich würde es fast als meditativ bezeichnen. Und überlegen Sie doch mal: Gesang spielt in so gut wie allen Kulturen dieser Welt eine Rolle. Es ist Teil der Evolution und lange vor der Sprache entstanden. Denn Musik ist ja auch ein wundervolles Gemeinschaftserlebnis. Das alles ist kein Zufall. Sie sollten einmal nach Lettland fahren.

Warum Lettland?

Dort kommen tausende Menschen zusammen und singen gemeinsam. Dadurch entsteht ein sehr besonderes Gefühl von Zusammengehörigkeit. Jeder, der Musik macht und übt, kennt es. Es ist auch das, was in Chören passiert. Einfach wunderbar.

Haben Sie dieses Glücksgefühl auch bei jedem Ihrer professionellen Auftritte?

Wer professionell singt, hat selbstverständlich einen anderen Zugang. Wir werden darin geschult, unsere Stimme beherrschen zu können. Das ist eine lange Ausbildung, bei der die richtige Atemtechnik eine Schlüsselrolle spielt. Wenn es um die Atmung beim Singen geht, dann sind wir eigentlich wie Schwimmer, nur auf dem Trocknen. Am Beginn einer Sänger-Karriere lernt jeder, seine Atemkapazitäten zu beherrschen.

Wie genau meinen Sie das?

Wir müssen den Atem maximal lang anhalten können, müssen ihn aber in der nächsten Passage sehr schnell und abgehackt einsetzen. Es ist eine Frage der Kontrolle. Wir machen in Wirklichkeit also sehr viele Atemübungen, die bei vielen Erkrankungen auch sehr hilfreich sind.

Bei welchen?

Ganz konkret haben wir gerade ein Projekt, bei dem Long-Covid-Patienten mit dem Atemtrainingsprogramm von Sängern arbeiten. Und wir sehen auch, dass sie von unseren Übungen profitieren.

Inwiefern?

Beim Atmen spielen so viele Dinge im Körper eine Rolle. Man muss aufrecht stehen und die Muskeln entspannen, denn nur so kann sich der Brustkorb öffnen. Wenn man die Arme in ein wenig vom Körper wegstreckt und daran denkt, dass die Lungen sich auch nach hinten ausdehnen, vergrößert sich das Lungenvolumen bewusst noch einmal mehr. Wer das macht, merkt, wie viel Luft in die Lungen geht.

Kann man dabei Fehler machen?

Ja natürlich, sehr viele. Die meisten Menschen ziehen zum Beispiel einfach nur die Schultern hoch, wenn man sie bittet, tief einzuatmen. Oder sie halten die Luft an einem bestimmten Punkt an. Mein Eindruck ist, dass die meisten Menschen das tiefe Luftholen vollkommen verlernt haben und flach vor sich hinatmen.

Gibt es dafür eine Erklärung?

Erwachsene verlernen das tiefe Luftholen. Schauen Sie sich doch an, wie laut und anhaltend Babys schreien können. Das ist oft erstaunlich dafür, wie klein und scheinbar hilflos sie sind. Wenn sie schreien, haben sie aber alle einen wirklich langen Atem. Die Menschen verlieren ihren langen Atem im Laufe des Lebens, scheint mir. Es ist wichtig sich immer wieder zu besinnen, welch mächtiges Instrument wir aber zur Verfügung haben.

Jeder sollte einmal versuchen, einen langen Atem zu halten und beobachten, was dann im Körper passiert.

Aber man kann doch nicht bewusst auf einen langen Atem umschalten, oder?

Nein, man muss es trainieren. Um sich dazu zu motivieren, ist Selbstbeobachtung oft nicht schlecht. Stress wirkt sich immer auf den Atemrhythmus aus. Kurzes, stoßartiges Atmen ist ein Zeichen für nervliche oder psychische Anspannung. Deshalb profitieren gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen wie etwa Depressionen besonders stark von Musik. Es gibt so viele Erkrankungen, die auf Stress zurückzuführen sind, es erstaunt mich immer wieder.

Und abseits von psychischen Erkrankungen?

Profitieren auch Menschen mit Atemwegserkrankungen wie etwa Chronisch Obstruktive Lungenerkrankung (COPD) oder Asthma sehr stark von Musiktherapien, weil damit dann auch ein bewusstes Luftholen verbunden ist. Das wirkt sich positiv aus. Und es beruhigt. Dazu gibt es zahlreiche Studien.

Warum interessieren Sie sich als Sängerin eigentlich für Krankheiten?

Weil Kunst viel mehr als nur Genuss ist, sondern mit unserem allgemeinen Wohlbefinden zu tun hat. Das will ich den Menschen gerne bewusst machen und setzte mich im Rahmen des Das John F. Kennedy Centers in Washington für einen interdisziplinären Zugang ein. Unser Forschungsschwerpunkt heißt „Music & Mind“. Ziel ist es, Kunst und Medizin in einen gemeinsamen Kontext zu setzen und aufzuzeigen, wie sich diese beiden Bereiche positiv beeinflussen können.

Leisten Eltern einen Beitrag, wenn sie ihre Kinder ein Instrument lernen lassen?

Absolut, denn alles, was irgendwie mit Rhythmus zu tun hat, wirkt sich positiv auf die Entwicklung des Gehirns aus. Eltern sollten ihre Kinder also unbedingt dazu animieren, ein Instrument zu erlernen. Denn es gibt gute Untersuchungen, die zeigen, dass Musik so viel Gutes macht. Es fördert die Gedächtnisleistung, erhöht die Plastizität des Gehirns.

Was bedeutet das?

Dass viele Gehirnregionen vernetzt und aktiviert werden. Zudem wird die Fähigkeit zum Multitasking gefördert.

Davon profitieren alle.

Ja genau. Aber es gibt tatsächliche viele Bereiche, in denen die Möglichkeiten für Musiktherapie einfach nicht ausgeschöpft werden. Rhythmus ist bei vielen Erkrankungen eine wunderbare Hilfe. Unser ganzer Körper ist ja nicht zuletzt auch Rhythmus bestimmt, der von unserem Herzschlag vorgegeben wird. Musiktherapie kann tatsächlich auch Muster im Gehirn verändern, zeigen eine Reihe von wissenschaftlichen Studien. Menschen werden ruhiger, lernen sich zu fokussieren, diszipliniert zu sein.

Auch Kinder?

Besonders Kinder. Wenn sie Musik machen oder ein Instrument spielen, ist schließlich der gesamte Körper im Einsatz. Die Hände machen etwas, der Körper bewegt sich, alle Sinne sind auf die Umgebung geschärft. Es ist also eine Achse zwischen Ohr-Gehirn und seinen Muskeln, die bei Musik trainiert wird. Das ist für so viele Dinge gut. Kinder mit Autismus oder Entwicklungsstörungen profitieren besonders davon.

Klingt fast zu einfach?

Musik und musizieren, es geht darum, dass wir diese aktive Komponente im digitalen Zeitalter nicht vergessen.

Alles, was irgendwie mit Rhythmus zu tun hat, wirkt sich positiv auf die Entwicklung des Gehirns aus.

Was schlagen Sie vor?

Ich glaube, dass nichts im 21. Jahrhundert ohne Daten entschieden wird. Je mehr wir forschen und je mehr Budget wir für Forschung haben, umso überzeugender werden wir sein. Ich wünsche mir, dass Mediziner eines Tages eine Musiktherapie genauso problemlos verschreiben wie Medikamente.

Musik als Therapie?

Ja, aber auch Musik als soziales Erlebnis, als Anlass, wieder zusammenzukommen. In der Pandemie sind die Zahlen für Depressionen explodiert. Einsamkeit macht krank. Musik kann ein Weg aus diesem Dilemma sein.

Wirkt Musik nur bei psychischen Erkrankungen?

Nein, eine Musiktherapie würde auch bei vielen neurologischen Störungen sehr positiv sein, allen voran bei Parkinson oder Multipler Sklerose. Dazu gibt es gute Untersuchungen. Es wäre schön, wenn sich ein neuer, integrativer Ansatz in der Medizin durchsetzen würde und Lebensbereiche enger miteinander vernetzt werden.

Studien, um die positive Wirkung von Musik auf Patienten eindeutig zu belegen, kosten Geld. Wer hat ein Interesse daran, diese sehr teuren Untersuchungen mit hunderten von Probanden zu finanzieren?

Das National Institute of Health hat großes Interesse daran. Wir haben bereits zwei Mal 20 Millionen Dollar Forschungsbudget bekommen. Allein das zeigt, dass unsere Arbeit und Bemühungen ernst genommen und wertgeschätzt werden. Und auch in Europa ist man in einigen Ländern ganz vorne mit dabei. Musik hat einen sehr mächtigen Einfluss auf unser Gehirn, besonders das Singen. Es wäre schön, wenn die Anzahl der Menschen, die Musik machen, steigen würde und Leiden damit gelindert werden könnten.