Erst Merkel, dann Super Mario?
Mit dem Abtritt Angela Merkels hat die EU ihre stärkste Führungspersönlichkeit verloren. Beim Rittern um die neue Nummer eins fällt einer besonders auf: Italiens Ministerpräsident Mario Draghi. Hat der Euro-Retter das Zeug zum Superhelden?
Auf den Punkt gebracht
- Machtvakuum. Angela Merkel war die einflussreichste Politikerin der EU. Mit ihrem Abgang hinterließ sie auch auf europäischer Ebene eine Lücke.
- Nachfolger. Mario Draghi hat die besten Aussichten, diese Führungsrolle einzunehmen. Als ehemaliger EZB-Präsident ist er gut vernetzt.
- Stolpersteine. Draghi musste sich aber noch nie bei Wahlen im eigenen Land durchsetzen – und liebäugelt bereits mit dem Präsidentenamt.
- Unterstützung. Noch ist Draghi in Italien beliebt. Aber die wankelmütige italienische Politik hat schon die prestigereichsten Karrieren ins Wanken gebracht.
Europas Führungsriege befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Mit Angela Merkel trat nicht nur die deutsche Bundeskanzlerin, sondern auch das unbestrittene Gesicht der europäischen Entscheidungsfindung ab. Ihr enger Verbündeter, der französische Präsident Emmanuel Macron, kämpft derzeit um seine zweite Amtszeit. Und Pedro Sanchez, Spaniens Ministerpräsident, hat sich über sein eigenes Land hinaus nie einen Namen gemacht.
Damit bleibt von den größten Ländern Europas nur Italien übrig. Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi verfügt nicht nur über Einfluss, sondern auch einen hohen Bekanntheitsgrad in Europa. Auf der politischen Bühne könnte ihn dieser Umstand zum Nachfolger Angela Merkels machen. Zudem trumpft Draghi mit einem Erfahrungsschatz auf, den weder Präsident Macron noch Bundeskanzlerin Merkel aufweisen können: Er war von 2011 bis 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank. Seine Amtszeit war von dem umstrittenen, aber unvergesslichen Versprechen geprägt, den krisengebeutelten Euro zu retten – „koste es, was es wolle“.
Zahlen & Fakten
Der beeindruckende Werdegang von „Super Mario“, wie er auch im eigenen Land genannt wird, ist von Stärke und Schwäche zugleich gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron wurde Draghi nicht in sein Amt gewählt, sondern folgte auf Giuseppe Conte, dessen Regierung im Januar 2021 an einem Koalitionsstreit über die Verwendung von Covid-19-Hilfsgeldern zerbrach. Bei der Suche nach einem Nachfolger stellten sich alle italienischen Parteien – mit Ausnahme der Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) unter Führung Giorgia Melonis – hinter Draghi, den Mann mit dem schillerndsten Lebenslauf.
Klare Arbeitsteilung
Die Tatsache, dass Draghi von so einer breiten Koalition gestützt wird, schränkt seinen Handlungsspielraum drastisch ein. Bislang bevorzugt der Ministerpräsident es daher, das Streiten den Parteien zu überlassen und sich selbst den zwei wichtigsten Problemen des Landes zu widmen.
Draghis erstes Ziel lautet: die Pandemie unter Kontrolle bringen. Um dies zu erreichen, wurden bereits große Teile des italienischen Alltagslebens unter strenge Corona-Auflagen gestellt. Angestellte dürfen ihren Arbeitsplatz nur noch gegen Vorlage des „grünen Passes“ betreten, der bescheinigt, dass sie geimpft, genesen oder getestet sind. Vorbild dafür war Frankreich, wo der „passe sanitaire“ mit dem Zweck eingeführt wurde, den Impffortschritt voranzutreiben.
Italiens Impfkampagne war jedoch schon vor der Einführung des grünen Passes ein Erfolg. Ein Grund dafür ist, dass die italienischen Behörden eine Covid-19-Infektion als Arbeitsunfall einstufen. Dadurch unterstützten Unternehmen mit Begeisterung die Impfung, um sich vor rechtlichen und versicherungstechnischen Konsequenzen zu schützen.
Mehr Spielraum bei EU-Fiskalregeln
Draghis zweites Ziel war es, Steuerreformen auf den Weg zu bringen, die Brüssel zufriedenstellen und die Covid-19-Hilfsgelder weiter fließen lassen. Zwar bieten die von ihm vorgeschlagenen Änderungen allen künftigen italienischen Regierungen einen Freibrief, ob nun in Form einer pauschalen Einkommenssteuer (eine beliebte Idee der Rechten) oder einer progressiven Einkommenssteuer mit sieben Stufen, wie in Deutschland (von einigen Linken favorisiert). Aber solange Italien seine Hausaufgaben erfüllt, wird Brüssel den Geldhahn offen halten. Den ehemaligen EZB-Präsidenten als Ministerpräsident zu haben, trägt eben zur Glaubwürdigkeit bei den EU-Staats- und Regierungschefs bei.
Am 23. Dezember 2021 verfassten Draghi und Macron ein gemeinsames Op-ed in der Financial Times, in dem sie weitere Forderungen für die Reform der EU-Fiskalregeln aufstellten. Die Pandemie hat die öffentlichen Ausgaben und die Verschuldung in beiden Ländern stark erhöht: in Frankreich von weniger als 98 Prozent des BIP auf 116 Prozent, in Italien von 135 Prozent auf 162 Prozent des BIP. Die Lockerung der europäischen Vorschriften ermöglichte eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben, und mit dem so genannten NextGenerationEU-Aufbauplan gingen die europäischen Institutionen den Weg der Solidarität weiter, indem sie zum ersten Mal Schulden auf Gegenseitigkeit machten. Frankreich und Italien haben hohe öffentliche Ausgaben. Sparmaßnahmen werden beiden Ländern schwerfallen.
Solange Italien seine Hausaufgaben erfüllt, wird Brüssel den Geldhahn offen halten.
Daher signalisierten Draghi und Macron nun ihre Bereitschaft, bei der Reform der Haushaltsregeln eine Vorreiterrolle zu spielen. Sie versprachen, ihre Strategie bestehe darin, „wiederkehrende öffentliche Ausgaben durch vernünftige strukturelle Maßnahmen einzudämmen“, wobei sie aber klarstellten, dass dieses neue Normal keinen fiskalischen Einschränkungen unterworfen sein werde: „So wie unsere Antwort auf die Pandemie nicht durch Rechtsvorschriften behindert werden durfte, sollte auch unser Spielraum für notwendige Investitionen nicht eingeschränkt werden.“ Diese Position wird zweifelsohne noch Verhandlungen mit Deutschland und den nordischen Ländern nach sich ziehen – aber genau darauf dürfte Macron abzielen, der im post-pandemischen Europa eine zentrale Rolle spielen möchte.
Draghi jedenfalls verzeichnet bei der Umsetzung seiner Ziele nennenswerte Erfolge. Er stößt dabei nur auf geringen Widerstand in den eigenen Reihen, und die italienischen Medien unterstützen ihn mit überwältigender Mehrheit. Draghis Ansehen und seine Zustimmungsraten sind hoch, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er nie Fernsehinterviews gibt und kein Interesse an direkten Gespräch mit der Öffentlichkeit zu haben scheint.
Zahlen & Fakten
Umstrittene Zukunft
In diesem Zusammenhang ist Mario Draghis Zukunft sowohl für die italienische als auch für die europäische Politik von Bedeutung. Ein logischer nächster Schritt wäre es, dass Draghi dieses Jahr für das Präsidentenamt kandidiert. Er würde wahrscheinlich gewinnen, und zumindest auf dem Papier wäre dies ein Ergebnis, das ein großer Teil der italienischen Politiker befürworten würde – sogar die beiden Populisten Matteo Salvini und Giorgia Meloni.
Salvinis Partei Lega und Melonis Fratelli d'Italia haben laut Umfragen gute Chancen, bei den nächsten Parlamentswahlen eine Mehrheit zu erhalten. Ihre rechte Gesinnung lässt Staats- und Regierungschefs in vielen europäischen Hauptstädten jedoch aufhorchen. Als Staatsoberhaupt könnte Draghi seine Glaubwürdigkeit dazu nutzen, die italienische Politik vor der Kritik der europäischen Partner zu schützen – und seine Kollegen im Zuge dessen auch davon zu überzeugen, dass er die beiden Stimmungsmacher auf Linie halten wird.
Die Linke hat andere Pläne. Der Vorsitzende der Partito Democratico (Demokratische Partei), Enrico Letta, hat aus den jüngsten Kommunalwahlen politisches Kapital geschlagen. Die Demokratische Partei ist aus fast allen Gemeindewahlen als stimmenstärkste Partei hervorgegangen, darunter Mailand, Rom, Neapel, Bologna und Turin. Auch wenn die Umfragen nicht darauf hindeuten, dass Lettas Partei auf nationaler Ebene deutlich zulegen wird, so schüren diese jüngsten Erfolge dennoch Hoffnungen für die Zukunft.
Im Gegensatz zu Salvini und Meloni ist Enrico Letta auch in Brüssel willkommen. In der Tat ist er seit Jahren ein angesehenes Mitglied des europäischen Establishments. Der linke Politiker braucht Draghi als Staatspräsidenten Italiens weit weniger als seine Konkurrenten auf der rechten Seite. Und im Gegensatz zu ihnen blickt er in den Reihen seiner Partei auf mehrere ernsthafte Anwärter auf das Präsidentenamt – darunter auch den ehemaligen Ministerpräsidenten und Ex-Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi.
Draghi weiß, dass es umso schwerer wird, die Parteien bei Laune zu halten, je länger er im Amt bleibt.
Personen, die der Demokratischen Partei nahestehen, haben offen mit der Idee geliebäugelt, Draghi bis 2023 (oder darüber hinaus) als Ministerpräsident im Amt zu halten, um ihren eigenen Kandidaten eine bessere Chance auf das Präsidentenamt zu geben. Sie scheinen es nicht als Problem zu betrachten, dass Draghi bereits 74 Jahre alt ist.
Viele italienische Politiker glauben zudem, dass eine über mehrere Jahre bestehende große Koalition die einzige Chance für Italien ist, eine gewisse politische Stabilität wiederzuerlangen. Sie sind auch der Meinung, dass die EU-Transferzahlungen unter Draghis Führung zu einer dauerhaften Einrichtung werden könnten, anstatt eine einmalige Begleiterscheinung der Pandemie zu bleiben. Dieser Umstand erklärt wiederum den Enthusiasmus vieler Italiener für Olaf Scholz: Sie glauben, dass die von den Sozialdemokraten geführte deutsche Regierung eher bereit dazu sein wird, Europa zu einer Transferunion zu machen.
Retter gesucht
Berichten zufolge sagte Bundeskanzlerin Merkel bei ihrem letzten Treffen mit Draghi, sie wünsche sich, dass er Ministerpräsident bleibe und ihre Rolle in Europa übernehme. Aber Angela Merkel besaß in ihren 16 Jahren als Bundeskanzlerin weitaus mehr Kontrolle über die eigene Partei und genoss große politische Stabilität. Mario Draghi hingegen ist ein parteiloser Politiker. Er weiß, dass es ihm umso schwerer fallen wird, die Parteien bei Laune zu halten, je länger er im Amt bleibt.
Für Draghi wäre die Präsidentschaft der krönende Abschluss einer glänzenden Karriere. Seine geschickte Leitung des G20-Gipfels in Rom hat gezeigt, wie gut er mit zeremoniellen Ämtern zurechtkommt. Es würde ihm jedoch nicht erlauben, eine starke und glaubwürdige Führungsrolle auf europäischer Ebene auszuüben, wie die EU sie nun braucht. Draghi könnte also nicht nur durch Druck von innen, in Form der Demokratischen Partei, sondern auch durch äußere Kräfte davon abgehalten werden, das höhere Amt anzustreben.
Italien ist dafür bekannt, regelmäßig nach einem Retter zu suchen und die Kandidaten dann in Stücke zu reißen.
In jedem Falle täten Politiker in der EU gut daran, nicht ganz das Beispiel eines anderen italienischen Ministerpräsidenten zu vergessen, der in der EU ebenfalls auf große Bewunderung stieß, in Italien aber rasch an Prestige verlor: den ehemaligen EU-Kommissar Mario Monti. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Draghi den Weg Montis gehen, eine eigene Partei gründen und mit ihr bei den Wahlen antreten wird. Doch je länger er im Amt bleibt, desto mehr wird er auch zu einer parteipolitischen Figur – mit potenziell katastrophalen Folgen für Italien und wenig Nutzen für Europa.
Italien ist bekannt dafür, dass es regelmäßig nach einem Retter sucht, nur um die Kandidaten dann in Stücke zu reißen. Aber könnte sich der Ruf des Landes jemals wieder erholen, wenn dieses Schicksal den Mann ereilt, der den Euro „gerettet“ hat?
Conclusio
Angela Merkels Abgang von der politischen Bühne hinterließ auch in der EU eine Lücke. Mario Draghi werden die besten Chancen eingeräumt, diese Lücke zu füllen und die Führungsrolle in der EU zu übernehmen. Als ehemaliger EZB-Präsident bringt er dafür gute Voraussetzungen mit, und sein Pandemie-Management trifft auf Anklang. Doch um als „Super Mario“ auch auf europäischer Ebene zu glänzen, braucht der derzeitige Ministerpräsident die anhaltende Unterstützung der Parteien. Die italienische Rechte würde den parteilosen Politiker lieber im Amt des Präsidenten sehen, während die Linke auf Stabilität pocht (und den Posten gerne mit einem der ihrigen besetzen würde). Eine europäische Zukunft Draghis à la Merkel hängt somit stark von Italiens Parteien ab – und diese sind immer für eine Überraschung gut.