Comeback des Sozialismus

30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs träumen junge Millennials von einem Comeback des Sozialismus. Ein zu romantischer Blick auf die Historie und schleppendes Wirtschaftswachstum befeuern die Lust auf linke Politik.

Dieser Report erschien am 9. April 2019 auf Geopolitical Intelligence Services.

Sozialistische Demonstration
Sozialistische Gruppierungen demonstrieren am Trafalgar Square in London. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Neue Lust auf alte Werte. Viele junge Menschen sehnen sich nach dem Wiedererstarken einer sozialistischen Weltordnung.
  • Verblasste Erinnerung. Nicht zuletzt durch ein verklärtes Geschichtsbild weiß die Generation der Millennials wenig über die Probleme im sowjetischen System.
  • Kapitalistischer Sündenbock. Weltwirtschaftskrise, steigende Jugendarbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven lassen viele Millennials frustriert zurück.
  • Aus Schaden wurde niemand klug. Rückblickend ist der Versuch, sozialistische Ideen im politischen System zu verankern, noch jedes Mal gescheitert.

Rot ist zurück. Diverse Umfragen zeigen, dass sozialistische Ideen bei Millennials – also der Generation jener, die zwischen den frühen 1980er und frühen 2000er-Jahren geboren wurden – hoch im Kurs stehen. In den Vereinigten Staaten verzeichnen die „Democratic Socialists of America“ immer größeren Zustrom und die Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die sich selbst als „democratic socialist“ bezeichnet, wurde zu einer Art Rockstar.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 in Frankreich stimmte die Hälfte der jungen Menschen für Kandidatinnen und Kandidaten der beiden quasi-sozialistischen Parteien. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums für Marine Le Pens Rassemblement National und auf der linken für Jean-Luc Melenchons France Insoumise. Im selben Jahr verzeichnete die britische Labour-Partei unter Führung von Jeremy Corbyn die höchste Wahlbeteiligung junger Menschen seit 25 Jahren und gewann 30 Sitze im britischen Parlament. Auch in Spanien hat der Aktivismus der linken Podemos-Partei in den letzten Jahren viele junge Leute angezogen.

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Zahlen & Fakten

Romantische Verklärung

Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer scheint der Sozialismus innerhalb der Jugend ein Comeback zu erleben. Was sind die Gründe? Und in welche Zukunft steuert die Bewegung?

Das schleppende Wirtschaftswachstum und die hohe Jugendarbeitslosigkeit erklären, warum Millennials frustriert sind.

Ein Hauptgrund mag die Tatsache sein, dass die Erinnerungen an die tragischen Folgen von sozialistischen Experimenten im 20. Jahrhundert – zum Beispiel in der Sowjetunion, Nordkorea, Äthiopien, Kuba und den Ländern des ehemaligen Ostblocks – mittlerweile verblasst sind. Der Kalte Krieg erinnerte die Menschen im Westen unaufhörlich daran, welch großes Glück es war, im freien Teil der Welt zu leben. Viele eher links eingestellte Lehrkräfte und Intellektuelle verharmlosen die harte Realität, die im Sozialismus herrschte. Auch wenn Historikern nun, da der Eiserne Vorhang Geschichte ist, eine Vielzahl von Aufzeichnungen zur Verfügung stehen, zeichnen die Bildungssysteme ein mildes, wenn nicht gar romantisch-verklärtes Bild von der Brutalität in sozialistischen Gesellschaften. Viele Millennials wissen gar nicht, wie die Wirklichkeit im Sozialismus aussah.

Die Folgen vieler Fehler

Umgekehrt ist diese Generation mit der großen Rezession aufgewachsen. Das schleppende Wirtschaftswachstum und die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Ländern wie Spanien, Italien und Frankreich erklären, warum die Millennials von der Marktwirtschaft frustriert sind. Die Tatsache, dass viele Banker die Verantwortung für die Finanzkrise von 2008 nicht übernehmen, tut ihr Übriges, wenn es darum geht, dem „Kapitalismus“ die Schuld für die wirtschaftlichen Probleme zu geben.

Aber auch hier gilt: Wissen ist wichtig. Lehrbuch- und Medienanalysen beschreiben die Weltfinanzkrise als Versagen des kapitalistischen Systems mit seinen gierigen Banken. Gleichzeitig verschweigen sie aber die Rolle von Regierungen und Zentralbanken. Denn diese boten verzerrte Anreize durch ihre Wohnungs- oder Geldpolitik. Wie in den 1930er-Jahren werden Regierungen, die auf mehr Regulierung und sozialistisch inspirierte Politik setzen, nicht als Täter, sondern vielmehr als Retter aus der Not angesehen. 

Viele Bildungssysteme zeichnen ein falsches Bild und ignorieren die Brutalität in sozialistischen Gesellschaften. Viele Millennials wissen gar nicht, wie die Wirklichkeit im Sozialismus aussah.

Auch die andauernde Niedrigzins-Geldpolitik mag einen Einfluss darauf haben, wie Millennials den Kapitalismus empfinden. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen ist der Begriff des Sparens zentral für den Kapitalismus – es geht darum, geduldig zu sein, sich anzustrengen und sich auf die spätere Befriedigung der Bedürfnisse zu freuen. Die Niedrigzins-Politik hat den Anreiz zum Sparen drastisch reduziert. Zweitens konnten die Zentralbanker die Menschen davon überzeugen, dass ein Wink mit ihrem geldpolitischen Zauberstab genügte, um ökonomische Gesetze, die bisher als in Stein gemeißelt galten, außer Kraft zu setzen. Das Gefühl, dass „Schulden keine Rolle spielen“, ist ein Beispiel für diese fehlgeleitete Wahrnehmung.

Neuer Klassenkampf

In der Konsolidierung der sozialistischen Dynamik, insbesondere im Zusammenhang mit den „Democratic Socialists of America“, spielte die „Occupy Wall Street“-Bewegung eine sehr große Rolle. Später lieferte das Werk von Thomas Piketty über den Aufstieg des Kapitalismus und die damit verbundene soziale Ungleichheit (dessen Analyse übrigens eine Reihe signifikanter Fehler enthielt) weitere Argumente. Die Devise lautete nicht mehr „Arbeiter gegen kapitalistische Bosse“, sondern Arme und Mittelklasse – also die „99 Prozent“ – gegen das „1 Prozent“ der Superreichen. Das war die Geburtsstunde des neuen Klassenkampfs im Sozialismus.

Demonstranten in den USA mit eine Che Guevara Fahne
Che Guevara gilt als Ikone bei den Millennials, aber seine Verbrechen werden gerne ausgeblendet. © Getty Images

Dieser Trend hat seine Wurzeln in der Vergangenheit. Die 68er-Generation lehnte nicht nur jede Form von Autorität, sondern auch persönliche Disziplin und Selbstkontrolle ab. Stattdessen wurde das Recht auf Genuss ohne Grenzen zur obersten Maxime. Die „freie Liebe“ eben. Bewegungen wie diese verachten die traditionelle, bürgerlich-kapitalistische Ethik und schlagen in dieselbe Kerbe wie die Idee, dass eine sozialistische Gesellschaft „cool“ sei. Andere Phänomene des Sozialismus werden außer Acht gelassen, wie die endlosen Warteschlangen vor Lebensmittelgeschäften, die Entbehrungen durch die Planwirtschaft, die kümmerliche Entlohnung der Arbeiter oder das System der Arbeitslager in China.

Ersatzreligion

Manche sehen die Schwächung der Religion in der westlichen Welt als eine weitere Ursache für den Trend. Seit jeher gibt es im Christentum eine antikommunistische Tradition. Und vielleicht füllt der Sozialismus mit seinem Gefühl von Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit lediglich die Leere, die der Niedergang der Religion hinterlässt. Die Erosion der Familie – sowohl der Großfamilie als auch der traditionellen Kernfamilie – und die zunehmende Verstädterung sorgen ebenfalls dafür, dass sich die Menschen nach Gemeinschaft sehnen.

Ökonomen wie der verstorbene James M. Buchanan würden den aktuellen Trend wohl zum Teil mit Paternalismus erklären, also der Forderung nach einem bevormundenden „Nanny-“ oder Kindermädchen-Staat. In Wohlfahrtsstaaten sehnen sich viele Menschen nach sozialer Sicherheit. Der nächste Schritt ist dann der Sozialismus.

Risse im System

Auf die miserable Bilanz in Bezug auf Menschenrechte und den allgemeinen Wohlstand angesprochen, unterscheiden die Verfechter des Sozialismus gerne zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Sozialismus. Immerhin trugen Teenager in den 2000er-Jahren T-Shirts mit dem Konterfei von Che Guevara und nicht von Stalin. Viele gehen sogar noch weiter: Für sie war der autoritäre Sozialismus nach Sowjet-Art kein echter Sozialismus. „Echter“ Sozialismus, so behaupten sie, wurde bisher noch nie ausprobiert.

Sozialistische Experimente beginnen meist mit dem Anspruch, mehr Demokratie zu bieten. In der Praxis hören sie allerdings relativ schnell auf, die Wünsche des Volkes zu berücksichtigen.

In Anlehnung an die Werke des französischen Philosophen Jean-Francois Revel argumentiert Dr. Kristian Niemietz vom Institute of Economic Affairs in London in seinem jüngsten Buch Socialism. The Failed Idea That Never Dies, dass praktisch alle sozialistischen Experimente ein und demselben Muster folgen: Am Anfang steht das Lob von Fans auf der ganzen Welt, die darin ein neues Modell der Solidarität und der Befreiung vom ewigen Streben nach Profit sehen. Sobald die ersten Risse im System auftreten, haben die Unterstützer Ausreden parat, zum Beispiel, dass das Ganze sabotiert wurde. Wenn das Experiment dann schließlich kläglich scheitert, argumentieren die Anhänger, dass das System kein „echter“, sondern autoritärer Sozialismus war. Venezuela ist das jüngste Beispiel für diesen Kreislauf.

Von unten nach oben

Ein wichtiger Aspekt der Bewegung ist ihr Anspruch, durch und durch demokratisch zu sein. Von unten nach oben ausgerichtet, mit partizipativen und herrschaftsfreien Verfahren zur gemeinsamen Entscheidungsfindung. Keine Frage: Die moderne Demokratie hat ihre Bürgerinnen und Bürger oft enttäuscht. Politiker brechen ihre Wahlversprechen wieder und wieder, Bürokraten gewinnen zunehmend an Macht. Die Demokratie verwandelt sich zu einem Spiel, dessen Regeln eine Elite bestimmt (die nie zur Rechenschaft gezogen wird) und das die „einfachen“ Leute ausschließt.

In Frankreich war eine der zentralen Forderungen der Gelbwesten-Bewegung, (die sich verblüffenderweise von einer Anti-Steuer-Kampagne zu einer Kampagne entwickelt hat, die sich für mehr Regulierung und höhere Steuern stark macht), von den Bürgerinnen und Bürgern initiierte Referenden zuzulassen. Dahinter steckt die Idee, den Menschen mehr demokratische Wahlmöglichkeiten zu geben. Den Sozialismus haben die Gelbwesten zwar nicht explizit befürwortet, mehr Demokratie allerdings sehr wohl. Und auf dem Marktplatz der politischen Ideen wurde dem Sozialismus zu Unrecht der Stempel der Demokratie verliehen – daher der Beiname „demokratischer“ Sozialismus.

Experimente

Interessanterweise beginnen sozialistische Experimente meist mit dem Anspruch, mehr Demokratie zu bieten. Noch in den 1930er-Jahren stellten sozialistische Intellektuelle wie Sydney Webb die Sowjetunion als demokratisches Experiment dar. Stalin wurde als bloßer Parteifunktionär gesehen, nicht als Autokrat.

Keine Frage: Der Sozialismus, der jetzt mancherorts wieder als Allheilmitten gepriesen wird, ist radikaler als die traditionelle europäische Sozialdemokratie. Diese läuft auf eine Marktwirtschaft mit einem großen Wohlfahrts- und Ordnungsstaat wie in Deutschland oder den skandinavischen Ländern hinaus. Bisweilen vergleicht Alexandria Ocasio-Cortez ihren „demokratischen Sozialismus“ mit diesem Modell. Aber dieser Vergleich hinkt: Der „demokratische Sozialismus“ nämlich zielt darauf ab, den Anteil öffentlichen Eigentums in der Wirtschaft durch Selbstverwaltung und dezentralisierte, sozialistische Planung zu erhöhen. Mehr Staat, weniger privat.

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Aufstieg und Fall des Kommunismus in Europa

1848Karl Marx und Friedrich Engels verfassen in London das Kommunistische Manifest.
1917Nach der Oktoberrevolution übernimmt die Kommunistische Partei die Führung über Lenins „Arbeiter- und Bauernstaat“.
1924Stalin wird Lenins Nachfolger und geht mit brutalsten Mitteln gegen die eigene Partei, die Armee und das eigene Volk vor.
1945Nach Ende des zweiten Weltkriegs fällt Osteuropa in die sowjetische Einflusszone.
1956Das Volk in Ungarn erhebt sich gegen die Kommunistische Partei und die sowjetischen Besatzer.
1961Die DDR schottet sich mit dem Bau der Mauer von Westdeutschland ab. Europa ist durch den „Eisernen Vorhang“ getrennt.
1968Der „Prager Frühling“ mit seinen Liberalisierungs- und Demokratiebestrebungen wird gewaltsam niedergeschlagen.
1985Michail Gorbatschow leitet als Teil der Perestroika erste Reformen in der Sowjetunion ein.
1989Der „Eiserne Vorhang“ fällt.
1991Die Sowjetunion und der „Warschauer Pakt“ werden aufgelöst. Die Jugoslawienkriege beginnen.

Was kann funktionieren?

Könnte der demokratische Sozialismus in der Ära der Millennials wirklich anders aussehen? Würde eine sozialistische Bewegung plötzlich autoritär, wäre es schwierig, die Menschen dazu zu zwingen, ihre persönliche Freiheit oder ihren höheren Lebensstandard aufzugeben. Manche Denker weisen daher zurück, dass dieser neue Sozialismus zu einer Rückkehr der Gulags und staatlich geplanten Hungersnöte führen könnte. Sie könnten Recht haben.

Doch was wäre, würde eine radikal demokratisch-sozialistische Politik tatsächlich Wirklichkeit werden? Würde die Idee, das Volk an allen Entscheidungen teilhaben zu lassen, diesmal funktionieren? Manche Referenden sind in der Tat sinnvoll und die Gesetzgebung könnte dezentralisiert werden, um mehr Flexibilität und Vielfalt zu ermöglichen. Die Schweiz ist ein gutes Bespiel dafür. Und das dort herrschende System ist weit vom Sozialismus entfernt.

In der Praxis hören sozialistische Systeme allerdings relativ schnell auf, die Wünsche des Volkes zu berücksichtigen. Auch das Problem der Tyrannei der Mehrheit bliebe bestehen. Ebenso die Tatsache, dass bestimmte Mitglieder der Gesellschaft zu viel Macht gewinnen, indem sie vorgeben, für „die Allgemeinheit zu sprechen“. Die Lektion aus George Orwells Animal Farm, dass die Tyrannei der Mehrheit unweigerlich zu einer Tyrannei der Minderheit wird, ist nach wie vor aktuell.

Und schließlich ist da noch die Frage der Ökonomie. Das Modell der selbstverwalteten Arbeitergenossenschaften mag zwar lobenswert sein und wird in manchen Märkten auch tatsächlich praktiziert. Der Versuch aber, dieses Modell in der gesamten Wirtschaft durchzusetzen, wäre wohl zum Scheitern verurteilt. Eine solche Organisation setzt horizontale Führungsstrukturen voraus, die nur in wenigen Berufen mit einer homogenen Mischung von Arbeitnehmern zu finden sind, sodass auf eine Hierarchie verzichtet werden kann. Doch allgemein gilt: Ohne das Motiv des Profitstrebens und das Preissystem geht die wirtschaftliche Koordination verloren. Ganz wie damals in der Sowjetunion.

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Conclusio

Dem Sozialismus gelingt etwas Erstaunliches: In der realen Umsetzung ist er stets – und oft mit verheerenden Folgen – gescheitert, trotzdem gilt er unter vielen jungen Menschen als „cool“ und sogar erstrebenswert. Das ist gefährlich, denn in der Praxis werden sozialistische Systeme schnell zu tyrannischen.