Gibt es den legitimen Tyrannenmord?
Russlands Angriff auf die Ukraine hat eine alte philosophische Debatte wiederbelebt: Die Frage nämlich, wann man sich gegen unterdrückerische Herrscher auflehnen oder sie sogar töten darf.
Es mag Sie vielleicht überraschen: Es gibt ein weltweit geltendes (Menschen-) Recht auf Demokratie. Es mag Sie vielleicht noch mehr überraschen, dass dieses anno 1966, also inmitten des Kalten Krieges, beschlossen und zehn Jahre später verbindlich wurde: Konkret mit dem Inkrafttreten des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der neben der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit auch das Recht verbrieft, „bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden“ (Artikel 25).
Demokratie auf dem Rückzug
In der Praxis sah und sieht es freilich anders aus. Global gesehen ist die demokratische Regierungsform schon lange auf dem Rückzug (seit 2006 um genau zu sein, mit stärkeren Rückschritten ab 2012). Covid-19, der Aufstieg „starker Männer“ und Polarisierung haben das ihrige beigetragen. Darüber hinaus hat der Begriff der Demokratie den menschenrechtlichen Geburtsfehler, dass ihn auch unterdrückerische Regierungen für sich beanspruchten (um es im Umkehrschluss anderen absprechen). De iure gibt es demokratische Rechte in vielen Verfassungen, in denen man sie nicht vermuten würde, durchaus, aber eben nicht de facto, also tatsächlich.
Und dennoch: Das Recht und damit der individuelle Anspruch auf Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess ist, vertraglich verbrieft, für alle aktuell 173 Vertragsparteien des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verbindlich. Die entscheidende Frage ist also, wie man es durchsetzen will.
Ein Recht auf Revolution?
Hier gibt es, grob gesagt, zwei Wege, die einander nicht unbedingt ausschließen: Demokratisierung von außen und/oder von innen. Im Extremfall sogar mit kriegerischen Mitteln. Keine gute Idee: Zum einen ist „Demokratisierung mit dem Gewehrlauf“ verboten. Zum anderen funktioniert sie auch in der Praxis nur selten bis gar nicht: Als einzige Beispiele erfolgreicher Demokratisierung von außen gelten Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg und Panamas Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
Nachhaltiger demokratischer Wandel muss also von innen heraus kommen, von der betroffenen Bevölkerung. Die sich dabei neben den bereits genannten Rechten auch auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen kann: Das nicht nur Freiheit von Fremdherrschaft – allen voran Kolonialismus – bedeutet, sondern eben auch von Unterdrückung durch „autochthone“ Diktatoren, Juntas, religiöse Führer und was das Sammelsurium der Oppression sonst noch zu bieten hat.
Nur: Wie wir wissen, räumen Regime nicht gerne ihren Platz und schon gar nicht friedlich. Die Möglichkeit zum gewaltlosen Regierungswechsel ist ja, wie es Karl Popper so eindringlich beschrieben hat, das Kernelement der Demokratie. In Diktaturen sind Machtwechsel nicht selten das Ergebnis von Blutvergießen.
Krieg oder nicht Krieg, das ist hier die Frage
Damit sind wir wieder bei der Eingangsfrage: Darf man einen unterdrückerischen Herrscher töten als ultima ratio, also wenn es keinen einzigen erfolgsversprechenden Weg gibt, ihn und sein Regime loszuwerden?
Philosophisch kann man hier unter dem Schlagwort des Tyrannenmords zahlreiche moralische Argumente austauschen. Rechtlich ist die Sache ungleich klarer, auch wenn sie von mehreren Faktoren abhängt: Zum einen davon, ob man sie aus Sicht des Staatsrechts des betroffenen Landes oder des Völkerrechts beantwortet. Ersteres wird die Möglichkeit der Tötung des Staatschefs logischerweise ausnahmslos verneinen: Es gibt keine Suizid-Verfassung. Umgekehrt wird eine Gruppe, die ein Regime erfolgreich zu Fall gebracht hat, sich nach ihrer Machtübernahme wohl kaum wegen Mords vor Gericht stellen. Im Endeffekt entscheidet also weniger das Verfassungsrecht als die tatsächlichen Machtverhältnisse.
Russland kann diesen Krieg nur verlieren
Womit wir beim Völkerrecht wären: Staatschefs, wie unterdrückerisch sie auch sein mögen, haben grundsätzlich, wie alle anderen Menschen auch, ein Menschenrecht auf Leben. Dieses schützt allerdings nicht vor allen, sondern vor willkürlichen Tötungen. Insbesondere liegt keine Verletzung des Menschenrechts auf Leben vor, wenn ein Angreifer aufgrund einer notwendigen und verhältnismäßigen Selbstverteidigungshandlung stirbt. Allerdings gelten auch hier gewisse Grenzen.
Selbstverteidigung ist kein Persilschein, um sämtliche Angehörige eines unterdrückerischen Staatsapparats zu attackieren: Wenn, um ein Beispiel zu bemühen, ein Oppositioneller zu Unrecht im Gefängnis sitzt und dort Gefahr läuft, zu Tode gefoltert zu werden, und seine Verbündeten davon ausgehen, dass die einzige realistische Chance auf Befreiung darin besteht, den Staatschef zu ermorden, wird der Zusammenhang nicht unmittelbar genug sein. Selbstverteidigung bezieht sich vielmehr auf die Folterknechte und ihre unmittelbaren Gehilfen (Wachen!). Ob es bis nach „ganz oben“ greift, ist mehr eine philosophische denn rechtliche Frage.
Im Krieg ist vieles erlaubt
Anders sieht es aus, wenn eine Gruppe Oppositioneller nicht nur sporadische Angriffe ausführt, sondern bewaffnete Auseinandersetzungen lange andauern und ein Ausmaß erreicht haben, sodass man von einem Bürgerkrieg sprechen muss. Dann sind Kämpfer aller Art und ihre Kommandanten wandelnde Zielscheiben. Das kann bei entsprechenden Befehlsketten bis hinauf zu verantwortlichen Regierungsmitgliedern wie Verteidigungsminister und Staatschefs gehen. Damit ist der Tyrannenmord rechtlich auch kein „Mord“, sondern ein erlaubter Angriff auf ein militärisch legitimes Ziel.
Das gilt neben Bürgerkriegen übrigens auch in zwischenstaatlichen Konflikten: Dementsprechend haben Staaten in der Vergangenheit des Öfteren versucht, hochrangige Staatschefs und ihre (vermuteten) Behausungen direkt anzugreifen, beispielsweise die Villa des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic anno 1999, den vermuteten Aufenthaltsort des irakischen Staatschefs Saddam Hussein 2003 oder zuletzt die mehrfachen Versuche, Wolodymyr Selenskyj zu töten. Dahinter steht das Kalkül, dass ein Staat nach der Tötung seines Oberhaupts kapituliert (die „Enthauptungstheorie“). Nach Kriegsrecht ist das zwar erlaubt, wenn ein Präsident Teil der Befehlskette und damit kein Zivilist ist: Allerdings ist jede Tötung durch einen angreifenden Staat eine Verletzung der Menschenrechte, konkret des Rechts auf Leben – unabhängig davon, ob das Opfer Zivilist, Soldat oder eben Präsident ist.
Konkret gesagt: Die ukrainische Armee dürfte – rein rechtlich – aufgrund des Selbstverteidigungsrechts Wladimir Putin töten (ob sie das wirklich tun wollen würde, steht angesichts der Eskalationsgefahr auf einem anderen Blatt). Umgekehrt darf die russische Armee niemanden und damit auch nicht Wolodymyr Selenskyi ermorden.
Russlands Angriff wirft die Welt in vielerlei Hinsicht zurück: Zu Debatten rund um das Recht des Stärkeren, in der Krieg eine bloße „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist, um es mit Clausewitz‘ berühmtem Zitat auszudrücken. Und eben auch zu alten Debatten rund um den Tyrannenmord. Für die es mittlerweile rechtlich relativ eindeutige Antworten gibt. Aber das Recht hat nicht immer das letzte Wort.